Meyerholds Biomechanik – Workshop mit Gennadij Bogdanov
"Der Körper ist eine Maschine, der Arbeitende ist der Maschinist"
(erstes Prinzip der Biomechanik)
Mit der Biomechanik schuf Meyerhold (Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold) ein körpertheatrales Raum- und Bewegungssystem für Schauspieler, seine wichtigsten Schüler waren Sergej Eisenstein und Nikolai Kustow. Am 2. Februar 1940 wird er nach einem fingierten Prozeß wegen angeblicher Spionage und Betätigung gegen das Regime hingerichtet. Wenn Sergej Eisenstein nicht den Mut gehabt hätte, Meyerholds Archiv zu retten und zu verstecken, wäre die Biomechanik als einer der wichtigsten Versuche zur Erneuerung der Schauspielkunst und des Theaters in diesem Jahrhundert wohl verloren gegangen.
Gennadij Bogdanov, geboren am 22. Oktober 1949 in Moskau, Schauspieler, Regisseur und Dozent, ist ein Enkelschüler von Wsewolod Meyerhold.
"Der Schauspieler zieht eine Spur durch den Raum"
(Gennadij Bogdanov)
Der Workshop in Wien zur Biomechanik von Gennadij Bogdanov wurde vom Verein act now organisiert und fand von 6. bis 18. April 1999 im Projekt Theater STUDIO statt. Wir waren neun Teilnehmer, junge Schauspieler in der Ausbildung, bis auf den Autor und einen Freund, die aus Interesse teilgenommen haben. Am Ende konnte jeder Teilnehmer zwei Etüden vorführen, den "Steinwurf" und den "Dolchstoß". Der Kurs lief täglich von 10-13 Uhr und 14-17 Uhr, also sechs Sunden, mit einem Ruhetag. Gennadij Bogdanov sorgte für eine außergewöhnliche Atmosphäre im STUDIO, das Theater als "magischer Ort"...
Gliederung
EINLEITUNG
Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold
Die Biomechanik
Gennadij Bogdanov
Adleia Romanovskaja
DER WORKSHOP
Der Workshop
Räumliche Koordination
Die bewußte Bewegung
Die Lektion mit dem Stock: Balance
Der Konzentrationspunkt und die Kropirovka
Die Stoika
Der Otkas
Der Daktylus
Der Posyl
Der Tormos
Der Rakurs
Die Etüden
Fragen an Gennadij Bogdanov
SERGEJ EISENSTEIN UND DIE BIOMECHANIK
Sergej Eisensteins Kontakt mit Meyerhold
«Bi-Mechanik» oder «Expressive Movement»
Ein Filmabend mit Bogdanov
QUELLENNACHWEIS
DANK
EINLEITUNG
"Der Körper ist eine Maschine, der Arbeitende ist der Maschinist"
(erstes Prinzip der Biomechanik) [1]
Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold
Am 10. Februar 1874 als Karl Theodor Kasimir Meyergold in Pensa, Rußland geboren, wirkt er erstmals in seiner Schulzeit in dem Theaterstück Verstand schafft Leiden von Aleksandr Gribojedow als Repetilov mit. Nach seinem Gymnasialabschluß 1895 tritt er von der lutherischen zur russisch-orthodoxen Kirche über, ändert seinen Namen in Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold und wird russischer Staatsbürger. Nach einem Jahr Jurastudium wechselt er an die Moskauer Theaterschule von Nemirowitsch Dantschenko. 1898 wird er auf dem von Stanislawski und Dantschenko neu gegründeten Künstlertheater MchAT [2] aufgenommen, eine seiner ersten und wichtigsten Rollen war die des Treplew in Tschechows Möwe. Nachdem er 1902 Moskau und das Künstlertheater verlassen hat, inszeniert er drei Jahre lang zahlreiche Theaterstücke in Cherson und Tiflis. Seit 1908 versucht er, ein eigenes Studio zu gründen, was ihm erst 1913 in der Borodinskaja in St. Petersburg gelingt. In einem Vortrag seines bis 1917 bestehenden Studios fordert er seine Schauspielstudenten auf, "mehr Exaktheit, Freude, Glanz in den Bewegungen" zu zeigen. Mit der Biomechanik schuf Meyerhold ein körpertheatrales Raum- und Bewegungssystem für Schauspieler, seine wichtigsten Schüler waren Sergej Eisenstein und Nikolai Kustow. Am 2. Februar 1940 wird er nach einem fingierten Prozeß wegen angeblicher Spionage und Betätigung gegen das Regime hingerichtet.
Die Biomechanik
Wenn Sergej Eisenstein nicht den Mut gehabt hätte, Meyerholds Archiv zu retten und zu verstecken, wäre die Biomechanik als einer der wichtigsten Versuche zur Erneuerung der Schauspielkunst und des Theaters in diesem Jahrhundert wohl verloren gegangen.
Die Geschichte der Biomechanik ist eng verwoben mit Meyerholds Entwicklung seines Verständnisses für Theater, in seinem Sinne neues Theater. Am 11. September 1898 notiert Meyerhold folgende Begegnung von MchAT-Schauspielern und Anton Tschechow: ... einer der Schauspieler erzählte, daß in der Möwe hinter der Szene quakende Frösche und bellende Hunde zu hören sein werden. "Wozu das?" fragt unzufrieden Tschechow. "Das ist real", antwortet der Schauspieler. "Real...", wiederholt Tschechow lachend und fügt nach einer kleinen Pause hinzu: "Die Bühne – das ist Kunst... Die Bühne verlangt eine bestimmte «Bedingtheit» («uslownost»). Sie haben keine vierte Wand." [3] Meyerhold spielte in dieser Möwe-Inszenierung des MchAT den jungen Konstantin Treplew.
Sowohl Meyerhold als auch sein Schüler Eisenstein akzeptierten Stanislawskis grundsätzliche Analyse der speziellen Probleme des Schauspielers: Inspiration und Ausdruck. Stanislawskis Weg zu einer überzeugenden Bühnenperformance ging über die richtige Stimulation der Gefühle im Schauspieler. Meyerhold und Eisenstein dachten genau das Gegenteil, daß der Ausdruck in der Bewegung automatisch zu inspirierten Emotionen führt. Sie argumentierten, daß der Schauspieler nicht mit versteckten Gedanken und Gefühlen überhäuft werden sollte, sondern mit dem Publikum expressiv kommunizieren muß. Ob sich der Schauspieler "korrekt" fühlt oder nicht, ist uninteressant, wenn der Zuschauer das Ergebnis nicht sehen und fühlen kann.
Meyerhold integrierte die Methoden des modernen Technologie-Zeitalters in sein Ausbildungs- und Spielsystem, indem er vom Schauspieler eine fast maschinelle Exaktheit der Bewegung verlangte. Anregungen holte er sich von den Zeit- und Bewegungsstudien im Arbeitsprozeß nach der Methode des amerikanischen Ingenieurs Taylor (1856-1915), vor allem aber von der Commedia dell'arte, vom japanischen Kabuki und von der rhythmischen Gymnastik des Schweizer Musikpädagogen Emilie Dalcroze (1865-1950). Die Grundlagen der Biomechanik im Theater formte und erforschte Meyerhold ab 1915 in seinem St. Petersburger Studio. 1918 gab er der Technik der szenischen Bewegungen den Namen «Biomechanik» (er übernahm einen Begriff der Physiologie des 19. Jahrhunderts). Im Mittelpunkt der auf der Erkenntnisse der physiologischen Konstruktion des menschlichen Organismus beruhenden Biomechanik steht die These, daß Emotionen als Reflexe physischer Prozesse entstehen. Der Schauspieler soll seinen Körper im Idealfall vollkommen beherrschen können, Theater im Sinne der Biomechanik ist Demonstration der ideal organisierten menschlichen Mechanismen.
Meyerhold verglich den Schauspieler mit dem Taylor'schen Arbeiter und stellte dabei folgende Prinzipien fest:
1) keine überflüssigen Bewegungen
2) Rhythmik
3) Gefühl für Körperschwerpunkt
4) Ausdauer
Die daraus resultierenden Bewegungen haben tänzerischen Charakter und sind dadurch erst interessant und sehenswert. Als Verfechter des Konstruktivismus forderte Meyerhold eine wissenschaftliche Grundlagenforschung aller Künste, der Künstler muß sich seines Schaffens bewußt sein. Constant Coquelin's Konzept von der Dualität des Schauspielers übersetzte Meyerhold in eine Formel: N = A1 + A2 (Schauspieler ist Konstrukteur und Material). Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, er ist gleichzeitig Organisator und Organisierter. Der Körper muß so trainiert werden, daß der Schauspieler augenblicklich alle von außen erhaltenen Aufgaben (vom Schauspieler, vom Regisseur) ausführen kann. Die Taylorisierung des Theaters führt außerdem zu einer Zeiteinsparung; in einer Stunde sollte nun so viel gespielt werden, wie sonst in vier Stunden. Dazu braucht der Schauspieler die Begabung zur reflektorischen Erregbarkeit, ein gutes Augenmaß, Standfestigkeit und ein trainiertes Gleichgewichtsgefühl. In einem Vortrag [iv] vom 12. Juni 1922 betont Meyerhold, daß die herkömmlichen Systeme den Schauspieler mit Emotion überschwemmen, so daß er unmöglich noch verantwortlich für sein Spiel zeichnen kann. Die Spielweise der Biomechanik ist nicht vom Inneren zum Äußeren an die Rolle zu gehen, sondern umgekehrt vom Äußeren zum Inneren, wie es einige große Schauspieler wie Chaplin, Eleonore Duse, Sarah Bernhardt, Grasso, Lenski, Moissi, Coquelin, der Sänger Schaljapin, die japanische Schauspielerin Hanako intuitiv beherrschten. In einem Referat vom 1. Jänner 1925 über Alexej Faikos (1893-1978) Komödie Der Lehrer Bubus kam Meyerhold auf ein Beispiel zu sprechen, wie man eine Rolle vom Äußeren zum Inneren angehen sollte: "Als ich Sinaida Raich die Szene der Stefka aus dem dritten Akt vorspielte, haben manche vielleicht bemerkt, daß mir die Augen feucht wurden, obzwar ich ihnen versichern kann, daß Stefkas Gefühle mit den meinen auf gar keinen Fall identisch sind. Ich habe einfach beim Zeigen eine Haltung eingenommen, die bei meiner Eingeschliffenheit die nötige Reaktion hervorrufen mußte; die Nervenstränge, die den bewußten Muskel regieren, wurden betroffen, und dieser Muskel, der die Tränen fließen macht, ließ sie denn auch fließen." [v]
Berühmt wurden Meyerholds nichtnaturalistischen Inszenierungen von Crommelyncks Der Großmütige Hahnrei (1922), die erstmals die neue Technik vorstellte, sowie Gogols Der Revisor (1926). 1930 gastierte Meyerhold erstmals in Deutschland, wo er Einfluß auf Brecht gewann.
Die Biomechanik ist nicht als Inszenierungsstil zu verstehen, auch wenn sie mit einer bestimmten Theaterästhetik Anfang der zwanziger Jahre in Erscheinung trat. Die Etüden sind als Trainingsmaterial "verdichtete Erfahrung", sie gehen als fixierte, kodifizierte Elemente nur als Ausnahme in die Figurengestaltung der Inszenierung ein. Meyerhold meinte, "Man darf den Bewegungen keinen freien Lauf lassen, man muß ökonomisch mit den Bewegungen umgehen. [...] Nirgendwo und niemals darf der Schauspieler seinen Vorrat ganz aufbrauchen. Sogar die offenste Geste muß immer die Möglichkeit einer noch offeneren belassen."[vi]
Gennadij Bogdanov
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gennadij Bogdanov meinte in einem Interview anläßlich des Workshops: "Andauernd wird ausschließlich Stanislawskis Einfühlungsprozeß zitiert, und so beginnt dann diese Verwirrung und Desorientierung, diese Spaziergänge in die Pathologie (Anm.: Pathologie meint hier die totale Identifikation mit den Affekten oder Emotionen der darzustellenden Figur). Und alle vergessen, daß Theater Spiel ist. Theater ist nicht Leben. [...] Man muß im Theater nicht tief und schwer leben, man muß leicht spielen." [vii]
Gennadij Bogdanov, geboren am 22. Oktober 1949 in Moskau, Schauspieler, Regisseur und Dozent, ist ein Enkelschüler von Wsewolod Meyerhold. In den achtziger Jahren formte sich eine Gruppe junger Schauspieler in der Sowjetunion am Moskauer "Theater der Satire" unter der Leitung des ehemaligen Instrukteurs für Biomechanik am Meyerhold-Theater Nikolai Kustow. Gennadij Bogdanov, heute Dozent für Biomechanik an der Russischen Theaterakademie in Moskau (RATI, ehemals GITIS) ging aus dieser Gruppe hervor. Als Schüler von Nikolai Kustow, seinerseits Schüler von Meyerhold, trainiert er diese neue Methodik für Theater praxisgerecht. 1990 präsentierte er erstmals der Öffentlichkeit seine Erfahrungen mit der Biomechanik bei der Moscow Conference on Actor Training. Er hat seitdem Workshops außerhalb Moskaus in den USA, Deutschland, Österreich, Frankreich, England, Italien, Schweden, Belgien und Holland gehalten. Die Kurse am Mime Centrum in Berlin (zuletzt im September 1999) laufen jeweils zwei Wochen, drei Stunden täglich das Einführungsseminar und fünf Stunden die "Arbeit an den Etüden". 1995 inszenierte er A. Bloks Der Unbekannte und Das total verrückte Stundenbuch von A. Vvedensky in Berlin für das Berlin-Moskau-Festival, seine letzte Inszenierung war B. Brechts Mann ist Mann am Deutschen Theater Berlin 1997. Derzeit arbeitet er an einem Don Juan-Thema, das dramaturgische Konzept steht, der Text ist in Rohfassung vorhanden, ein russischer Künstler hat bereits erste Kostüme entworfen.
[...]
[1] W. E. Meyerhold, zusammengestellt von M. Korenew, Die Prinzipien der Biomechanik
[2] Abkürzung von: Moskovskij Chudozestvennyj Akademiceskij teatr (Moskauer Akademisches Künstlertheater)
[3] W. E. Meyerhold, Tschechow i naturalism na szene, in: W mire iskusstw, 1907, Nr. 11-12, S. 24
[iv] W. E. Meyerhold, Schriften, Band 2, Henschelverlag Berlin, 1979
[v] W. E. Meyerhold, Schriften, Band 2, Henschelverlag Berlin 1979, S. 84-87
[vi] W. E. Meyerhold, zusammengestellt von M. Korenew, Die Prinzipien der Biomechanik
[vii] G. Bogdanov, in einem Interview mit Peter Bergh, Volksstimme, 15.04.1999