Die unglaubliche Vielfalt von Festen, der wir heute begegnen, wirft die Frage nach übergeordneten Kategorien auf, die unabhängig von kulturellen und religiösen Entwicklungen durch die Geschichte der Menschheit hindurch bis in unsere Tage Gültigkeit behalten haben. Feste Feiern erfordert die Fähigkeit, wirkliche Gemeinschaft empfinden und erleben zu könnnen. Diese Fähigkeit hat der Mensch der modernen, individualisierten Gesellschaft mit seiner nach außen verlagerten Sinnsuche und dem damit einhergehenden Verlust seines Selbst jedoch weitgehend eingebüßt. Das Ineinandergreifen von gesellschaftlichem Wandel einerseits und psychologischen Entwicklungsprozessen der Individuen andererseits hat den funktionalen Charakter von Festen heute grundlegend verändert. Gemeinschaft konstituierende und Identität stiftende Aspekte traditioneller Feste fallen auseinander, geraten in Gegensatz zueinander und beginnen sich darin aufzulösen. Eine unumkehrbare Entwicklung?
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Was kennzeichnet ein Fest?
2.1. Versuch einer Systematisierung
2.2. Übergangsfeste, Naturfeste und heilsgeschichtliche Feste
3. Über den Unterschied zwischen Alltagszeit und Festzeit
3.1. Drei Merkmale des Alltags
3.2. Drei Merkmale des Fests
4. Von der Fähigkeit des Menschen in zwei Zeiten zu leben
4.1. Die Fähigkeit zur Integration von „kommunikativem“ und „kulturellem Gedächtnis“ als Voraussetzung für ein Leben in zwei Zeiten.
4.2. Das kulturelle Gedächtnis als Funktion der Gruppenbildung
4.3. Von der Notwendigkeit der Interaktion zur Herstellung einer kulturellen
Gruppenidentität
5. Von der ursprünglichen Idee des Festes zum Fest heute
5.1. Vom Fest zur Freizeit
5.2. Selbstentfremdung und Festkultur
6. Fazit
1. Einleitung
Mit der unglaublichen Vielfalt von Festen, der wir heute begegnen, stellt sich die Frage nach übergeordneten Kategorien, die unabhängig von kulturellen und religiösen Entwicklungen durch die Geschichte der Menschheit hindurch bis in unsere Tage Gültigkeit behalten haben. Mein Interesse richtet sich in diesem Kontext vor allem auf den ursprünglichen Sinn von Festen und darauf, was sich von diesem bis in die sogenannte Fun- und Spaßgesellschaft der Gegenwart erhalten konnte.
Ausgehend von der Festtheorie Assmanns will ich zeigen, dass das Ineinandergreifen von gesellschaftlichem Wandel einerseits und psychologischen Entwicklungsprozessen der Individuen andererseits, den funktionalen Charakter von Festen heute grundlegend verändert hat. Für das Feiern von Festen setze ich die Fähigkeit voraus, wirkliche Gemeinschaft empfinden und erleben zu können. Diese Fähigkeit hat der Mensch der modernen, individualisierten Gesellschaft mit seiner nach außen verlagerten Sinnsuche[1] und dem damit einhergehenden Verlust seines Selbst jedoch weitgehend eingebüßt.
2. Was kennzeichnet ein Fest?
Die Skala der Merkmale eines Festes reicht von Verschwendung bzw. unproduktiver Verausgabung (Bataille, Mauss) bis hin zum „gebotenen Exzess“ (Freud) oder zum Medium der Erneuerung von Natur und Gesellschaft (Callois). Darüber hinaus sind Feste tiefster Ausdruck einer Zustimmung zur Welt und damit lebensbejahend (Pieper) (vgl. Martin, S.133).
Diese Aussagen lassen sich leicht mit spontanen Assoziationen zum Thema Fest vereinbaren. Um jedoch Missverständnissen bezüglich der Spannbreite dieses Themas vorzubeugen, ist eine nähere Definition des Phänomens Fest unumgänglich.[2]
2.1. Versuch einer Systematisierung
Bischofberger unterscheidet in der Religionsgeschichte fünf mögliche Merkmale eines Festes. Das erste betrifft die äußere Erscheinungsform und umfasst beispielsweise die musikalische Darbietung, kulinarische Genüsse und besondere Kleidung, aber auch Opfer und dramatische Aufführungen. Das zweite Merkmal beschreibt das Fest als ein komplexes Gesamtgeschehen. In Anlehnung an E. Durkheim ist jede soziale Gruppe zur Erhaltung ihrer Identität durch Bestätigung, Bestärkung und Erneuerung ihrer Gemeinschaft auf Feste angewiesen.[3] Eine dritte Besonderheit der Feste liegt in ihrer Möglichkeit zur Rückbesinnung auf den Ursprung. Diese Rückbesinnung wird dabei als notwendig zur Sicherung der Zukunft einer Gemeinschaft angesehen. Mit einem Fest sollen Ängste und Hoffnungen nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern überwunden werden. Auf diese Weise wird ihm ein lebensbejahender Charakter zugeschrieben. Viertens erfährt das Fest, wenn es in mehrere Feiertage eingebettet ist, auf formeller Ebene die Sinnerweiterung einer heiligen Zeit, in welcher die Arbeit sogar tabuisiert sein kann. Von besonderer Relevanz ist das fünfte Merkmal. Sein Wesen besteht in der Aufhebung bestimmter Institutionen, Gesetze und Konventionen.[4] Diese Umkehrung der Werte wird einerseits als notwendige Rückkehr ins Chaos verstanden, durch die Neuschöpfung und Erhaltung einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung erst möglich wird (Eliade). Andererseits werden die exzessiven Ausschweifungen eines Festes als potentielle Gefährdung und Möglichkeit für den Umsturz herrschender Systeme interpretiert. In diesem Sinne würde der Protest das eigentliche Wesen eines Festes ausmachen (vgl. Bischofberger, S. 93-94).
Andere Autoren sehen insbesondere im Fest der Moderne eine tendenzielle Pervertierung, da die kapitalistischen Produktionsverhältnisse das Fest zu einem Herrschaftsinstrument derjenigen gemacht haben, die über politische und ökonomische Macht verfügen. Vertreter dieser Auffassung sind u.a. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (vgl. Gebhardt in: Schulz, S. 2).
Gebhardt verweist in Anlehnung an Josef Pieper und Karl Kerényi zusätzlich auf das Phänomen der Ruhe und Kontemplation als Prinzip des Festes. Durch den rhythmischen Zyklus von Festen und ihrer Gestaltung besinnt sich der Mensch auf sich selbst. Feste haben als Ausgleich zur Arbeit entlastende Funktionen (Gebhardt in: Schulz, S. 2).
Unabhängig davon, welche Einteilung zur Beschreibung und Klassifizierung von Festen vorgenommen wird, sind die oben beschriebenen Kategorien nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen.
2.2. Übergangsfeste, Naturfeste und heilsgeschichtliche Feste
Bischofberger unterscheidet drei Hauptgruppen von Festen: Übergangsfeste, Naturfeste und heilsgeschichtliche Feste.
Übergangsfeste markieren wichtige Übergänge in der Biographie eines Menschen, mit denen bedeutsame Veränderungen sowohl für das Individuum selbst als auch für die Gemeinschaft verbunden sind. Zu solchen Stationen zählen Geburt, Initiation, Hochzeit und Tod/Bestattung. Diese Übergänge werden durch sog. Übergangsriten (rites de passage) begleitet, deren besonderes Merkmal ihr dreistufiger Aufbau ist (A. van Gennep in: Bischofberger, S.94). In der ersten Phase, der Ablösung (séparation), verabschiedet sich das Individuum von seinem bisherigen Leben. Hieran schließt eine Art Übergangszeit (marge), gefolgt von der dritten Stufe, dem neuen Lebensabschnitt (agrégation). Besonders diese letzte Phase wird rituell begleitet und bietet daher Anlass für die Feste der Gemeinschaft. Während die Geburt vor allem die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft thematisiert und die Hochzeit mit einem neuen Status für das Paar verbunden ist, liegt die Bedeutung der Initiation in der Erweckung zu neuem Sein und wird von der Gemeinschaft entsprechend als Fest des erneuerten Lebens gefeiert. Selbst die Bestattung wird als ein Fest der Lebenserneuerung begangen. Dies erscheint zunächst paradox, doch soll es den Toten in eine neue jenseitige Existenz überführen und ihn so aus der alten Gemeinschaft lösen (vgl. Bischofberger, S.94).
Anlässe für das Feiern von Naturfesten sind besondere, immer wiederkehrende Rhythmen im Jahreslauf. So werden beispielsweise die Sommer- und Wintersonnenwende als kritische Angelpunkte des Jahres bezeichnet. Die Wiedergeburt der Sonne dient dabei als Symbol für die Erneuerung des Lebens in der Gemeinschaft. In bäuerlichen Kulturen dagegen gelten Aussaat und Ernte als die kritischen Schnittpunkte, so dass deren Feste eng an wirtschaftliche Tätigkeiten gebunden sind (vgl. Bischofberger, S.94-95).
Für die Erlösungsreligionen sind die heilsgeschichtlichen Feste von besonderer Bedeutung. Auch sie werden jährlich wiederholt und erinnern an das Eingreifen Gottes oder an bestimmte Ereignisse aus dem Leben von Heiligen. Heilsgeschichtliche Feste wollen aber nicht einfach nur erinnern. Mit ihnen sollen vor allem ursprüngliche Heilsereignisse erneuert werden. Interessanterweise sind manche heilsgeschichtlichen Feste ursprünglich als Naturfeste gefeiert worden. So wurde der heidnische Jahreskalender vom Christentum übernommen, seine Feste und Feiertage bekamen jedoch eine neue heilsgeschichtliche Bedeutung. Demgegenüber haben beispielsweise islamische Feste keine jahreszeitliche Bedeutung (vgl. Bischofberger, S. 95).
Wodurch definiert sich nun ein Fest? Das Wort Fest kommt aus dem Lateinischen (dies festus) und bezeichnet ein strukturiertes Geschehen, das gestaltet wird. Es steht im Gegensatz zu Nicht-Fest bzw. Alltag oder Arbeitstag und verspricht durch Unterbrechung der alltäglichen Raum- und Zeiterfahrung Erhebung über diesen, wie auch gesteigertes Leben (vgl. Martin, S.132).
3. Über den Unterschied zwischen Alltagszeit und Festzeit
Nach Assmann strebt der Mensch in seinem Leben nach mehr Sinn, als für die Bewältigung seines Alltags notwendig bzw. förderlich ist. Zugespitzt heißt das: Der Mensch ist dazu verdammt, unter einem immanenten Sinnanspruch zu leiden, den er in ständiger schmerzhafter Diskrepanz zu der ihn umgebenden Alltagswelt erleben muss. Der Alltag produziert in eintöniger Wiederholung der ewig gleichen Dinge auf Dauer Langeweile, Müdigkeit, Tod. Dieser Eintönigkeit und Lethargie steht ein im Menschen fest verankerter Drang nach Leben entgegen, der ihn dem alltäglichen Einerlei zu entreißen vermag. Das Feiern von Festen ist deshalb ein Angebot zur Befriedigung menschlicher Sinnsuche (vgl. Assmann, S. 13) und eine Hinwendung zum Leben.
3.1. Drei Merkmale des Alltags
Nach Assmann gibt es drei von Kultur und Geschichte unabhängige allgemeingültige Merkmale des Alltäglichen. Die Kontingenz, die Knappheit und die Routine.
Die Kontingenz umfasst sowohl die „Sphäre des Zufalls“ (das Unberechenbare einer Situation) als auch die „Sphäre des Ungeformten“ (orientiert an der Erreichung eines Zwecks). Konfrontiert mit seinen Aufgaben wird vom Menschen eine Haltung der Wachsamkeit und Flexibilität im Umgang mit alltäglichen Lebenssituationen erwartet. Mit Knappheit bezeichnet Assmann die „Sphäre des Mangels“. Mangelzustände bezieht er in erster Linie jedoch nicht auf primäre Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung. Vielmehr sind diese Mangelzustände auf einen Mangel an Sinn zurückzuführen, der sich notwendigerweise aus der Routine des Alltags ergibt. Sie können daher auch unabhängig vom Wohlstand einer Gesellschaft auftreten. Sinnerfüllung und Alltagsroutine, die sich aus der Notwendigkeit der Arbeit/Arbeitsteilung ergeben, bilden ein Gegensatzpaar. Zur Arbeit gehören auch Streit und Auseinandersetzung. Die Routine: Hier geht es um die „Sphäre der Automatisierung, Habitualisierung und Banalität“. Einerseits funktioniert Alltag nur aufgrund von voraussetzbaren Selbstverständlichkeiten, so dass Alltagshandlungen auf Wiederholungen angelegt sind. Diese Routine bedingt jedoch auch eine inhaltliche Leere, die den Alltag monoton erscheinen lässt (vgl. Assmann, S.14-15).
[...]
[1] Anhäufung von Besitztümern, Mediatisierung des Lebens, Sucht nach immer neuen externen Stimuli usw.
[2] Umgangsprachlich wird beispielsweise zwischen Fest und ‚Fete’ nicht exakt unterschieden. Diese Undifferenziertheit könnte dazu verführen, das rituelle Stammesfest mit einer spontanen, modernen ‚Fete’ gleichzusetzen, obwohl sich das eine vom anderen inhaltlich soweit unterscheiden kann, dass diese beiden Erscheinungsformen ein paradoxes Gegensatzpaar bilden. Ich verstehe den Begriff des Festes in Anlehnung an Martin umfassender und als anderen spezifischen Begriffen wie dem der ‚Fete’ oder auch des Feiertags übergeordnet. Zum Unterschied von Fest und Feiertag s. Martin, S.132.)
[3] Zurückgehend auf Sigmund Freud und Emil Durkheim unterstützt das Fest den Zusammenhalt und das Fortbestehen einer Gesellschaft. Als Alternative zum Alltäglichen dient es der individuellen und kollektiven Regeneration. Es wird u.a. auch als Flucht aus der Wirklichkeit und als Möglichkeit zum Exzess und des Rückbezugs auf das Göttliche interpretiert (vgl. W. Gebhardt in: Schulz, S.2).
[4] Im Fest bietet sich die Gelegenheit zur Umkehrung sozialer Ordnungen und zur Aufhebung der Alltagswelt. Vertreter dieser Auffassung (wie z.B. Gerhard Martin und Harvey Cox) sehen im Fest eine Möglichkeit zur Steigerung des Lebensgefühls. Die Welt wird durch das Feiern von Festen als gerechter, glücklicher empfunden (vgl. Gebhardt in: Schulz, S.2)
- Arbeit zitieren
- Gerlinde Braun (Autor:in), 2004, Das Fest - Ein Seiltanz zwischen Identität und Selbstentfremdung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24579
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