Bibliodrama begegnete mir persönlich das allererste Mal vor ca. 10 Jahren bei einem Seminar für Pflegekräfte zum Thema "Heil und Heilung" in der Communität Lindenhof in Geislingen/Steige. Ich arbeitete damals in einem kleinen Pflegeheim und war somit täglich damit beschäftigt, daß andere Menschen mitunter auch durch mich Heilsames erleben, wieder beweglich werden, ihre Selbständigkeit und ein Stück ihrer Gesundheit zurückgewinnen. Eigene Bedürftigkeit war mir kaum im Blick; ich war stark und oft mußte ich dies auch sein. Die Arbeit war körperlich und psychisch sehr anstrengend und ging manchmal über die Grenzen meiner Belastbarkeit. Im Mittelpunkt des erwähnten Seminars standen verschiedene Heilungsgeschichten, eine davon war die "Heilung der verkrümmten Frau am Sabbat" in Lukas 13, 10-17. Wir gingen mit dieser Heilungsgeschichte bibliodramatisch um, spielten diese nach und erlebten sie so ganz konkret. Mich beeindruckte sehr, daß ich die Geschichte so leibhaftig erlebte, so daß sie plötzlich Teil meiner eigenen Geschichte war. Ich erkannte meine eigenen Verkrümmungen und erfuhr ein Stück Befreiung. Eine andere, weniger erfahrungsorientierte Bearbeitung des Textes hätte mich wesentlich mehr in der Distanz zum Text gelassen. Bevor ich an mich gedacht hätte, wären mir andere Menschen im Blick gewesen, so wie ich es damals gewöhnt war.
Immer wieder begegnete mir dann diese Methode des Umgangs mit biblischen Texten, und jedes Mal war es für mich als Teilnehmerin eine positive Erfahrung. Die vielfältigen Entdeckungen in einem Text, das gemeinsame Spiel mit aller Heiterkeit und aber auch mit aller Ernsthaftigkeit, waren für mich, die ich bisher mit starrer Fröm- migkeit vertraut war, immer wieder beeindruckend.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Bibliodrama - Beschreibung einer Methode
1.2 Eingrenzung des Themas
1.3 Verwandte Auslegungsmethoden des Bibliodramas
1.3.1 Lateinamerikanische Auslegung (Relectura)
1.3.2 Feministische Bibelauslegung
1.3.3 Tiefenpsychologische Bibelauslegung
1.3.4 Narrative Bibelauslegung
1.3.5 Bibelauslegung durch Kunst und Musik
1.4 Vorstellung der Arbeit
2 Geschichte des Bibliodramas
2.1 Erfahrungen mit der Bibel gestern und heute
2.2 Entstehung von Bibliodrama
2.2.1 Der zeitgeschichtliche Rahmen
2.2.2 Weitere Impulse für das Bibliodrama
3 Verschiedene Bibliodrama-Ansätze
3.1 Zwei Hauptrichtungen der Bibliodramabewegung und ihre Intention
3.1.1 Bibliodrama als Seelsorge
3.1.2 Mimetisches Bibliodrama
3.1.3 Textzentriertes Bibliodrama
3.1.4 Spiel- und theaterpädagogisch inspiriertes Bibliodrama
3.2 Zusammenfassung
4 Exkurs: Bibliodrama und historisch-kritische Exegese
4.1 Die Historisch-Kritische Auslegung
4.2 Chancen und Grenzen der historisch-kritischen Auslegung
4.2.1 Argumente für die historisch-kritische Methode
4.2.2 Kritische Rückfragen
4.2.3 Resümee
4.3 Bibliodrama als Ergänzung der historisch-kritischen Methode
4.3.1 Argumente für das Bibliodrama
4.4 Zusammenfassung
5 Zur Planung und Durchführung eines Bibliodramas
5.1 Didaktische Gesichtspunkte
5.1.1 Rahmenbedingungen
5.1.1.1 Überlegungen zum zeitlichen Rahmen
5.1.1.2 Raumgestaltung
5.1.1.3 Die Gruppe
5.2 Methodische Überlegungen
5.2.1 Schritte eines Bibliodramaprozesses
5.2.2 Methoden
5.2.3 Materialien
5.3 Leitung eines Bibliodramas
5.3.1 Die Vorbereitungen der Leitung
5.3.2 Aufgaben der Leitung im bibliodramatischen Prozeß
6 Psalmen im Bibliodrama
6.1 Die Psalmen
6.2 Bibliodramatische Bearbeitung von Psalmen
6.2.1 Grundsätzliche Überlegungen
6.2.2 Methodische Überlegungen
6.2.3 Ein Beispiel aus der Praxis
7 Bibliodrama zu Psalm 139
7.1 Psalm 139 - Gott der Allwissende und Allgegenwärtige
7.2 Exegese zu Psalm 139
7.2.1 Zur Gattung
7.2.2 Zur Auslegungsgeschichte
7.3 Entwurf für einen Sonntagnachmittag
7.3.1 Beschreibung der Gruppe
7.3.2 Äußere Bedingungen
7.3.3 Planung des gesamten Nachmittags
7.3.3.1 Beginn des Nachmittags
7.3.3.2 Zum weiteren Verlauf des Nachmittags
7.4 Reflexion
7.4.1 Rückblick auf das Gruppengeschehen
7.4.2 Inhaltlicher Rückblick
7.4.3 Weitere Überlegungen
8 Zusammenfassung
8.1 Stärken und Schwächen dieser Methode
8.2 Für welchen Personenkreis ist Bibliodrama geeignet?
8.3 Wann ist es geeignet?
8.4 Nachwort
9 Eidesstattliche Erklärung
10 Literaturverzeichnis
11 Anhang
11.1 Schematische Einordnung verschiedener Bibliodrama - Ansätze
11.2 Bibeltexte
11.2.1 Die Heilung eines Mannes am Sabbat
11.2.2 Die Stillung des Sturms
11.2.3 Psalm 16 - Das schöne Erbteil
11.3 Szenarium mit Requisiten als Einstieg
11.4 Tänze
11.4.1 "Kalimera" - Gruß an die Sonne -
11.4.2 "Enas Mithos"
11.4.3 "Shalom chaverim"
1 Einleitung
1.1 Bibliodrama - Beschreibung einer Methode
Bibliodrama, was ist das? Diese Frage läßt sich nicht in einem Satz beantworten. Das Bibliodrama gibt es nicht, es ist kein "Markenname", eher ein Sammelbegriff.
Taucht dieses Wort "Bibliodrama" in den Prospekten von Fortbildungsveranstaltungen auf, dann signalisiert es: "Hier geht es um biblische Texte und um Spiel und Theater - also um kreative, körpernahe Arbeitsformen; hier geht es um so etwas wie Psychodrama oder Soziodrama - also um Erfahrungen mit sich selbst und einem Bibeltext und einer Gruppe."[1]
Bibliodrama sucht Anschluß bei den Menschen, die heute leben und beginnt dort, wo sie sind. Ihr Denken, Fühlen, Glauben oder Nichtglauben, so wie ihr Handeln sind Ausgangspunkt. Alle konkreten Erfahrungen, die ein Mensch mitbringt und "sich in Leib und Seele verdichtet haben"[2], sind wichtig und dürfen zu Wort kommen.[3] "Eigene Erfahrungen sollen in Kontakt kommen mit den Erfahrungen, die in den Geschichten, Situationen, Personen, aber auch in Gebets-, und Lehrtexten der Bibel lebendig, möglicherweise auch verzerrt und verschüttet sind. Es geht in diesem Prozeß (Hervorhebung durch die Verfasserin) gleichermaßen um das Bewußtmachen von Irritationen, Projektionen, Blockierungen in und gegenüber biblischen Texten, wie um die Entdeckung von deren befreiendem lebensfreundlichen Potential."[4] In der Auseinandersetzung mit dem Text geht es um Verstehen desselben im umfassenden Sinne. "Verstehen im weiteren Sinne bedeutet aber personales Verstehen, nicht vorwiegend rationales und instrumentelles Verstehen."[5], man könnte also auch sagen: subjektives Verstehen oder die persönliche Aneignung eines Textes.
1.2 Eingrenzung des Themas
Innerhalb der Bibliodramabewegung kann man zwei Hauptrichtungen unterscheiden: Bibliodrama, das diversen psychotherapeutischen Schulen verpflichtet ist, und Bibliodrama, das sich an der Körper-, Spiel- und Theaterpädagogik orientiert. Es wird nicht möglich sein, die gesamte Bewegung innerhalb dieser Arbeit zu behandeln, so daß ich mich vor allem auf die Formen des Bibliodrama, die sich an der Körper-, Spiel- und Theaterpädagogik orientieren, konzentrieren werde. Dafür habe ich innerhalb meiner bisherigen Ausbildung das nötige "Handwerkszeug" erworben. Es ist im Blick auf den naheliegenden Praxisversuch und im Blick auf meine spätere Berufspraxis eine für mich geeignete und durchführbare Methode. Psychotherapeutisch orientiertes Bibliodrama erfordert meines Erachtens eine Ausbildung in diesem Bereich und sollte nicht einfach so praktiziert werden. Die Durchführung desselben würde ich ohne entsprechende Kompetenz im therapeutischen Bereich für verantwortungslos halten.
Gewisse strukturelle Ähnlichkeiten zum Bibliodrama hat das Bibeltheater. Beide sind prozeßorientiert. Bibeltheater hat sich aus dem Bibliodrama entwickelt. Wie das Wort Bibel theater schon deutlich macht, wird vor einem Publikum etwas aufgeführt. Die Erfahrungen, die eine Gruppe mit einem Text machte, werden weitergegeben. Ein wesentlicher Unterschied zum Bibliodrama liegt also in der Produkt- orientierung des Bibeltheaters; es werden Spielstücke zu biblischen Texten zur Aufführung gebracht, so daß nach der ersten erfahrungsorientierten Phase bewußt an der Gestaltung des Stückes gearbeitet wird.[6] Ich werde das Bibeltheater trotz seiner Verwandtschaft zu Bibliodrama in dieser Arbeit überhaupt nicht bearbeiten.
1.3 Verwandte Auslegungsmethoden des Bibliodramas
Bibliodrama ist mit einigen anderen Auslegungsmethoden von Bibeltexten verwandt. Von der Theologie der Befreiung wurde und wird es beeinflußt. Eine Affinität besteht auch zu folgenden Auslegungsmethoden: Feministische Auslegung, Narrative Bibelauslegung, Tiefenpsychologische Auslegung und Auslegung biblischer Texte durch Musik und Kunst. Auch diese beeinflußten das Bibliodrama. Die meisten genannten Methoden entwickelten sich, genau wie das Bibliodrama, in den letzten dreißig Jahren. Nur die Theologie der Befreiung hat schon ein klein wenig früher ihren Anfang genommen. Die Auslegung durch Kunst und Musik ist wesentlich älter. Da im Verlauf der weiteren Arbeit kein Raum besteht, diese verwandten Methoden genauer zu erklären, werde ich diese im folgenden kurz darstellen.
1.3.1 Lateinamerikanische Auslegung (Relectura)
Die Lateinamerikanische Bibelauslegung geht von den Unterdrückungs- und Leidenserfahrungen der Campensinos Lateinamerikas aus. In den Basisgemeinden treffen sich die Armen und lesen die Bibel vom Standort ihrer Praxis aus. Sie verstehen sie ganz existentiell: Die Überlieferung als ihre Geschichte, in der von Unterdrückung und Befreiung berichtet wird und die zum Leben inspiriert. Die Armen nehmen die Bibel als Buch der Befreiung in Gebrauch, lassen sich von ihr anstiften zu Aktionen, die zur Verbesserung ihrer Lebensumstände dienen.[7]
1.3.2 Feministische Bibelauslegung
Die Feministische Theologie ist eine Befreiungstheologie. Ausgangspunkt ist die Erfahrung jahrelanger Unterdrückung und Mißachtung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Feministische Theologie ergreift Partei für die Frauen. Zunächst versucht sie hauptsächlich durch wissenschaftlich-reflektierte Methoden, die biblische Tradition von patriarchalen Überlagerungen zu befreien und sie neu zu interpretieren. Auch der Mißbrauch von bestimmten Bibelstellen, oft herangezogen für diskriminierende und unterdrückende Verhaltensweisen, wird entlarvt. Frauen der Bibel, die stark waren, werden in den Blick genommen und dienen als Identifikationsfiguren. Jahrelang wurde übersehen, daß wir auch Mütter im Glauben haben. Feministische Theologie betont auch die weiblichen Züge Gottes.
Neben den wissenschaftlich-reflektierten Methoden arbeitet Feministische Theologie auch mit unmittelbar erfahrungsbezogenen Ansätzen. Vor allem in Frauenkreisen werden Bibeltexte so ganz neu verstanden, und Frauen werden ermutigt aufzustehen und Gefühle des Unwerts hinter sich zu lassen. Sie erhalten ein Stück ihrer Würde wieder zurück.[8]
1.3.3 Tiefenpsychologische Bibelauslegung
Die Tiefenpsychologie befaßte sich schon immer mit der Religion. Insbesondere Sigmund Freud und Carl Gustav Jung beschäftigten sich auch mit biblischen Texten. Seitdem die Theologie die Bedeutung der Humanwissenschaften vor allem für die Seelsorge erkannte, entstand auf der Grundlage der Gedanken und Methoden Carl Gustav Jungs die "Tiefenpsychologische Bibelauslegung", die einen lebensbezogenen Dialog zwischen der Überlieferung und dem heutigen Menschen will. "Der hörende Mensch" soll im existentiellen Sinne ein "Gleichzeitiger" sein, die historische Distanz zwischen dem Geschehen von damals und der Existenz des Menschen heute soll überbrückt werden.
Charakteristisch ist, daß biblische Gestalten symbolisch verstanden werden. Bibeltexte, aber auch Mythen und Märchen spiegeln die innere Wirklichkeit des Menschen wieder.
Die Auslegung soll also nicht von den Gefühlen der Menschen abgetrennt sein, nicht isoliert vom Subjekt. Bibelauslegung hat so zu geschehen, daß Menschen angeregt werden, in die Tiefenschichten ihrer Seele hinabzusteigen und damit "Grunderfahrungen des Religiösen" zu machen.[9]
1.3.4 Narrative Bibelauslegung
Bei der Weitergabe des biblischen Zeugnisses wurde schon immer erzählt: in der Familie, im Religionsunterricht, im Kindergottesdienst, usw. In den zurückliegenden Jahren kamen immer mehr auch erzählende Predigten in den Blick. Diese Art der Bibelauslegung beruft sich darauf, daß die erste christliche Gemeinde vornehmlich eine Erzählgemeinschaft war. Auch die Jünger Jesu hörten Geschichten, die sie dann ihrerseits wieder weitererzählten. Narrative Exegese ist erzählende Weitergabe des Glaubens, Texte werden nach- und neuerzählt. Der Erzähler taucht in den Text ein, setzt diesen in Szene und lädt so die Hörenden ein zur Identifikation mit den Personen der Erzählung.[10]
1.3.5 Bibelauslegung durch Kunst und Musik
Bibelauslegung durch Kunst und Musik hat eine lange Geschichte. In kirchenmusikalischen Stücken, wie z. B. Kantaten, Oratorien oder Passionen, werden biblische Texte interpretiert. Auch Bilder und Skulpturen deuten die biblischen Überlieferungen. Die Formen der Auslegung durch Kunst und Musik haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Ausdruckstanz und liturgischer Tanz, Pantomime und Performance sind dazugekommen. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis, daß das biblische Zeugnis nicht nur mit Worten weitergesagt werden kann, durch. In der Schlußansprache auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1991 sagte Erhard Eppler: "Wir lernen in der Begegnung mit der Kunst Formen der Verkündigung, die der Kirche des Wortes bislang fremd waren. Daß die Bibel im Mittelpunkt der Kirchentage steht, heißt nicht, daß sie uns nur mit Worten nähergebracht und ausgelegt werden kann."[11] Hier und da ist diese Einsicht auch in örtlichen Kirchengemeinden vorhanden. Neues wird probiert. Eine Kirchentänzerin berichtete mir neulich, wie sie dann und wann in Gottesdiensten die Predigt tanzt, also die Botschaft körpersprachlich vermittelt.
1.4 Vorstellung der Arbeit
Im Vorwort habe ich mein Interesse für diese Arbeit beschrieben: Ich möchte mir ein Bild von Bibliodrama machen. Dazu muß ich die Methode genauer erforschen. Hierfür und um die Fragen aus dem Vorwort zu beantworten, habe ich für meine Ausarbeitung folgende Gliederung gewählt.
- Kapitel 2: Geschichte des Bibliodramas
Hier möchte ich die Entstehungsgeschichte von Bibliodrama darstellen. In welcher Zeit ist es entstanden und wie hat es sich entwickelt?
- Kapitel 3: Verschiedene Ansätze des Bibliodramas
In diesem Kapitel sollen einige Ansätze des Bibliodramas näher beschrieben werden.
- Kapitel 4: Exkurs: Bibliodrama und historisch-kritische Exegese
Immer wieder muß sich das Bibliodrama vor der historisch-kritischen Exegese verantworten. Ich möchte in diesem Kapitel über das Verhältnis dieser beiden Methoden nachdenken. Beide sollen auch auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen überprüft werden .
- Kapitel 5: Zur Planung und Durchführung eines Bibliodramas
In diesem Kapitel geht es um methodisch-didaktische Überlegungen. Was ist bei den Vorbereitungen und bei der Durchführung eines Bibliodramas zu bedenken?
- Kapitel 6: Psalmen im Bibliodrama
Bei dem von mir durchgeführten Bibliodrama liegt ein Psalm zugrunde, deshalb möchte ich in diesem Kapitel über die Besonderheit von Psalmen im Blick auf ihre Bibliodramatische Bearbeitung nachdenken.
- Kapitel 7: Bibliodrama zu Psalm 139
Zur Planung eines Bibliodramas gehört auch die Auseinandersetzung mit dem gewählten Text, deshalb steht am Beginn des Kapitels eine Exegese zum ausgewählten Psalm. Dann folgt der Entwurf für das Bibliodrama und am Schluß eine Reflexion darüber.
- Kapitel 8: Resümee
In diesem letzten Kapitel möchte ich die Erkenntnisse aus der bisherigen Erarbeitung noch einmal zusammentragen und daraus ein Ergebnis formulieren.
2 Geschichte des Bibliodramas
2.1 Erfahrungen mit der Bibel gestern und heute
"Sola scriptura", "Allein die Schrift" - das war einer der tragenden Grundsätze der Reformation. Diese umfassende Bewegung zur Erneuerung der Kirche war nicht zuletzt durch Martin Luther eine Bibelbewegung. Allen Reformatoren war gemeinsam, daß sie die Bibel aus der "Babylonischen Gefangenschaft" der Kirchen befreien wollten. Die verkündigende Auslegung der Heiligen Schrift sollte wieder in den Mittelpunkt des Gottesdienstes gestellt werden. Und außerdem sollte jeder Laie die Bibel lesen können, was Martin Luther veranlaßte, zuerst das Neue Testament und danach auch das Alte Testament ins Deutsche zu übersetzen.
Jahrhundertelang war die Bibel dann wichtigstes Buch. Die Kinder lernten in ihr lesen und wurden so mit den Geschichten vertraut. Auch die Erwachsenen lasen in diesem Buch, und für viele war es der einzigste Lesestoff. Für viele Leser war sie geradezu "Lebensmittel", sie enthielt Lebensworte, von denen eine große Kraft ausging.[12]
Die Lebensumstände haben sich geändert, und der heutige Mensch lebt anders als damals. Man hört hier und dort noch Redewendungen, welche ihren Ursprung in biblischen Texten haben - "das Kind schläft wie in Abrahams Schoß", man bringt jemand anders eine "Hiobsbotschaft" oder es herrschen irgendwo Zustände, "die zum Himmel schreien." Viele wissen aber nicht mehr, wer Hiob oder Abraham waren. Die Bibel spielt im Bewußtsein vieler Menschen kaum noch eine Rolle, für deren Lebenspraxis hat sie keine Bedeutung. Horst Klaus Berg redet hier von einem "Relevanzverlust"[13]. Für viele ist die Bibel nicht mehr überzeugend, weil sie nicht mehr unmittelbar einleuchtet. Menschen von heute glauben, daß sie bestimmte Erfahrungen, welche biblische Texte voraussetzen, entbehren. Nicht zuletzt erscheint die Bibel vielen sehr realitätsfremd. Glaube begegnet ihnen als Forderung, Vorstellungen und Ereignisse für wahr zu halten, welche sich in eine neuzeitliche Weltsicht nicht integrieren lassen. Wenn man glauben soll, daß eine Frau als Jungfrau ein Kind zur Welt bringt oder die Welt in sieben Tagen erschaffen worden ist, dann ist dies wirklich realitätsfremd. Doch auch Menschen, denen die Bibel durchaus wichtig ist, wissen mit der alten Botschaft oft wenig anzufangen. Es gibt so viele andere packendere Nachrichten, die aufrütteln.[14] Die Bibel weckt kaum noch jemand "aus dem Schlaf der Sicherheit": Weder die, die sie lesen, noch die, die sie wie ein "kleines Museum" im Bücherregal stehen haben. Eine neue Bibelpraxis, ein neuer - vor allem erfahrungsorientierter Umgang mit der biblischen Botschaft - soll sie entstauben und wieder lebendige Kraft werden lassen. Eine dieser Methoden ist das Bibliodrama.
2.2 Entstehung von Bibliodrama
2.2.1 Der zeitgeschichtliche Rahmen
Die Sechzigerjahre gelten als Jahrzehnt des Optimismus, des Aufbruchwillens, der Euphorie der Gefühle und der sexuellen Befreiung. Emanzipation aus den Zwängen der Tradition, Selbstverantwortlichkeit und die Suche nach neuen, nicht traditionell fest geschriebenen Lebensentwürfen, waren wichtige Themen.[15] Fast symbolisch für die gesamten Sechzigerjahre steht das Jahr 1968 mit seinen Studentenrevolten, die nicht nur politischer Art waren. Kommunikation auf allen Ebenen war wichtig, man suchte in Familie und in anderen Beziehungen nach neuen Lebensformen. "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung", so lautete der 1969 erschienene Titel von Alexander Neill, welcher durch sein Schulexperiment "Summerhill" bekannt war und dessen Schriften interessiert gelesen wurden. Er und andere sorgten für eine Befreiung der Schulen von repressiver Strafpädagogik. Es entstanden Kinderläden, in denen Kinder antiautoritär erzogen wurden. Kommunikationswissenschaften und verschiedene Schulrichtungen der Gruppendynamik sollten das, was der Gesellschaftskritik verfiel, neu beleben.
Das Theater suchte nach neuen Formen. Klassiker sollten so dargestellt werden, daß es auch die gegenwärtig Lebenden etwas angeht.
Gesellschafts- und Religionskritik machte natürlich vor den Toren der Theologie nicht Halt. Nichts war mehr selbstverständlich, alles mußte neu bedacht werden. Alle Institutionen wurden kritisiert, so auch die Kirche. Gerhard Marcel Martin, der in den frühen Siebzigerjahren seine Bibliodramaarbeit begann, schildert die Veränderungen in der Theologie, wie er sie persönlich erlebte:
Seit Ende der 50er Jahre, jedoch spätestens seit Ende der 60er Jahre waren die Bewegungen in Kirche und Theologie erstarrt. Theodor W. Adorno sprach von "neutralisierter Religion" und davon spürte man auch etwas an den theologischen Fakultäten. Jürgen Moltmann setzte mit seiner "Theologie der Hoffnung" (1964) aber einen neuen Impuls, der sich in den Jahren danach konkretisierte und verwandelte. Die Theologie öffnete sich mehr, wurde politischer, Gesellschaftsthemen und Ökumene, sowie Weltgeschichte waren mehr und mehr im Blick. Der christlich - marxistische Dialog war auf seinem Höhepunkt. Man diskutierte heiß, die "Theologie der Revolution", ein neues Konzept einer politischen Theologie war im Gespräch. 1968 entwickelte sich auch das politische Nachtgebet, das die Untrennbarkeit von Glaube und Politik beschwor.
Die Themen der 68er beeinflußten die Theologie noch einmal neu. Die Fragen der Ästhetik spielten auch innerhalb der Theologie eine Rolle. In der Theologie Amerikas gab es 1969 von Harvey Cox ein Zeichen, "Das Fest der Narren". 1965 hatte derselbe in seinem Buch "Stadt ohne Gott?" die soziologischen Phänomene der Säkularisierung und der Verstädterung menschlichen Lebens untersucht und gab diesen eine theologische Deutung. Er warb für christlich-gesellschaftspolitisches Engagement. In seinem Buch "Das Fest der Narren" nimmt er den Auftrag zum gesellschaftlichen und politischen Engagement nicht zurück, aber er betont, daß auch Feierlichkeit und Phantasie gesellschaftlich wichtige Größen sind und zutiefst zu unserem Menschsein gehören.
In Deutschland war es wieder Jürgen Moltmann, der mit seinem Titel "Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Versuche über die Freude und das Wohlgefallen am Spiel" ein deutliches Signal gab. In diesem Buch findet man ein Plädoyer für die notwendige Wiederentdeckung ästhetischer und religiöser Dimensionen in Kirche und Gesellschaft. Die bisherigen Themen sind immer noch wichtig, aber eine Kurskorrektur ist von Nöten. Nicht mehr die einseitige Theologie der Arbeit, nicht mehr nur ethisches und politisches Engagement, sondern Festlichkeit und Freude, Spiel und Phantasie sollten Raum gewinnen. Man war auf der Suche nach einem politischen und persönlichen Lebensstil, in dem Subjektivität, Phantasie, Kreativität und Festlichkeit wesentliche Faktoren sind.[16] Der Kirchentag in Düsseldorf 1973 mit seiner Feier einer "liturgischen Nacht"[17] war ein deutliches Beispiel, wie dieses aussehen kann.
2.2.2 Weitere Impulse für das Bibliodrama
Wichtige Impulse für die gesamte Bibliodramaarbeit kamen von Katja Delakova[18] und Professor Dr. Moshe Budmor.[19] Beide beeinflußten die mitteleuropäische Szene von Körperarbeit, Spielpädagogik und Bibliodrama in den vergangenen zwanzig Jahren.
G. M. Martin brachte eine Zeit in Amerika bei Katja Delakova zu. Er beschreibt, wie er während seines Studienaufenthalts in Amerika in Katja Delakovas Bewegungsschule seinen Körper radikal neu kennenlernte; er spricht sogar von einer leibhaftigen Wiedergeburt. Er lernte, in seinem Körper zu Hause zu sein, verlernte Erstarrungen und übte, Bewußtsein dort hinzuschicken, wo Dumpfheit war. Es gab keine Tabus mehr. Er entdeckte, daß er dort, wo er sein Bewußtsein hinschickt und wofür er innere Vorstellungen entwickelt, auch lebendig wird, ihm an diesen Stellen Bewegungsabläufe, ja Lebensbewegungen gelingen, die bis dahin so gut wie nicht machbar erschienen, weil sie im Tiefsten nicht vorstellbar waren.
Mit dem Handwerkszeug, das G. M. Martin bei Katja Delakova erlernte, und mit den Erkenntnissen verschiedener körperorientierter Schulrichtungen der humanistischen Psychologie begann er seine Bibliodramaarbeit 1976 an der evangelischen Akademie Arnoldshain. Als Vorbilder aus dem Theaterbereich diente ihm das "Bread and puppet Theatre", das "Living Theatre" und andere Theatergruppen, die Stücke auf die Bühne brachten, deren Themen ganz durch ihren Körper hindurchgegangen waren und ganz in ihnen lebten.
Zusammen mit Christoph Riemer, Else-Natalie Warns und anderen gehört er zur ersten Generation von Bibliodramatikern, die in den frühen Siebzigerjahren zu experimentieren begannen und "die neue Formen erfanden und erprobten. Sie suchten das noch nicht Gefundene, gingen Risiken ein und vertrauten der Tragfähigkeit des biblischen Textes."[20] Im Wagnis und Experiment entdeckten sie neue Möglichkeiten und gelangten von der Praxis zur Theorie. Erst einige Jahre später kam es zu ersten Veröffentlichungen über die verschiedenen Werkstatterfahrungen, und die damals neuen Methoden wurden auch in der breiteren Öffentlichkeit unter dem Namen "Bibliodrama" bekannt.
Im katholischen Bereich gehören Herman Andriessen und Nicolaas Derksen zu der Generation von Bibliodramatikern, die einen Weg gewiesen haben. Bei ihnen spürt man besonders deutlich die Einflüsse der Humanwissenschaften. Auch bei den anderen Bibliodramatikern sind diese Einflüsse zu erkennen. So haben zum Beispiel die Erkenntnisse der Gestalttherapie oder der Lernansatz der Themenzentrierten Interaktion (TZI) von Ruth Cohn den ersten Bibliodramatikern wichtige Impulse gegeben.
3 Verschiedene Bibliodrama-Ansätze
3.1 Zwei Hauptrichtungen der Bibliodramabewegung und ihre Intention
Man kann innerhalb der Bibliodramabewegung - wie bereits im Kapitel 1. 2 erwähnt - im wesentlichen zwei Hauptrichtungen voneinander unterscheiden:
- Bibliodrama, das von verschiedenen psychotherapeutischen Schulen (Tiefenpsychologie, Gestalttherapie, Psychodrama etc.) inspiriert ist.
- Bibliodrama, das sich an Körper-, Spiel- und Theaterpädagogik orientiert.
Die erste Richtung betont sehr stark die Selbsterfahrung und intendiert therapeutische Wirkung. Sie richtet sich fast ausschließlich an Erwachsene. Auch die zweite Richtung beinhaltet Selbsterfahrung, die jedoch nicht so vertieft wird, daß therapeutische Kompetenzen erforderlich sind. Sie betont dafür die kreative, spielerische und ästhetische Auseinandersetzung mit einem Text. Es ist Auslegung der Schrift mit "Leib und Seele, Augen, Ohren und allen Gliedern, Vernunft und allen Sinnen" (Martin Luther)[21], die mit Menschen fast jeden Alters durchgeführt werden kann.[22]
Beiden Richtungen können bestimmte Ansätze zugeordnet werden. Es sollen nun einige verschiedene Bibliodrama-Ansätze, die sich im Lauf der Zeit entwickelt haben, dargestellt werden. Diese Darstellung ist nicht vollständig; durch die Vorstellung einiger literarischer und praktischer Protagonisten des Bibliodramas und ihrer spezifischen Ansätze soll die Vielfalt verdeutlicht werden.[23]
3.1.1 Bibliodrama als Seelsorge
Bekannte Vertreter des Bibliodramas als Seelsorge sind Herman Andriessen und Nicolaas Derksen, die dieses Modell aus ihrer Seelsorge-Praxis heraus entwickelt haben. Sie verstehen Bibliodrama als Möglichkeit, Alltag, Lebenslauf und Glauben miteinander zu verbinden und das gläubige Selbstverständnis engagierter Christen zu erhellen und zu fördern. Mündigkeit und Befreiung des Einzelnen, sowie das Erwachsen werden im Glauben sind zentrale Themen. Des weiteren betonen sie aber auch, daß Menschen durch Bibliodrama Trost finden, echten Trost, weil zur Sprache kommen darf, was hier und jetzt dran ist, also keine Vertröstungen im Sinne von "es wird schon werden". Angst wird beim Namen genannt, "lebend" wird genannt, was lebend ist, "tot", was tot ist.[24]
Innerhalb dieses Ansatzes wird auch mit Psychodramatischen Elementen gearbeitet, dennoch ist es nicht Psychodrama, sondern Biblio drama, und der Akzent liegt auf dem ersten Wortteil. Das heißt die beiden gehen - so wie die meisten Bibliodramatiker - von einem vorgegebenen (Bibel)-text aus. Dieser wird inszeniert. Dabei ist wichtig, daß sowohl die Heilsgeschichte im Spieler und in der Gruppe als auch der Spieler und die Gruppe in der Heilsgeschichte zu Wort kommen. Hierzu dient auch das seelsorgerliche Fragegespräch, das ein wichtiges Merkmal dieses Ansatzes ist und im Zentrum steht. Die menschliche Problematik wird ernstgenommen und die menschliche Erfahrung kommt zur Sprache. Aber bei aller menschlichen Erfahrung und Problematik verschwindet der Text nicht aus dem Blickfeld, sein Glaubensangebot bleibt bestehen. Dieser Glaube soll aber nicht aus der Höhe herunterrieseln und damit dem Leben der Menschen fremd bleiben.
Andriessen und Derksen verstehen Bibliodrama als eine Form praktischer Exegese, wobei die Botschaft, die diese Schriftstelle jetzt für diese Gruppe Menschen beinhaltet, im Drama entwickelt wird. Diese Botschaft ist konkret. Sie ist nicht vorgegeben, wie der Text vorgegeben ist. Sie entwickelt sich, fast könnte man sagen, man schreibt die Schrift weiter. Beide gehen davon aus, daß die Erzählungen der Heiligen Schrift konkret ansprechen und arbeiten deshalb ohne hinführende Übungen.[25]
3.1.2 Mimetisches Bibliodrama
Mimetisches Bibliodrama ist nachahmendes Spiel. Als Vertreter dieses Ansatzes ist Samuel Laeuchli bekannt. Er setzte innerhalb der Bibliodramabewegung wichtige Impulse, so daß sein Ansatz auch dargestellt werden soll.
Samuel Laeuchlis Ansatz ist eher tiefenpsychologisch orientiert. Zur mimetischen Arbeitsweise gehören der Gestus des Körper, die Unterbrechung des kausal-diachronischen Vorgangs und das Schweigen.
Bedeutsam für Spiel und Gespräch sind die Dialoge mit den Akteuren. So wird z. B. in einer Mimesis der Opferung des Isaak, Abraham gefragt, warum er sich nicht gegen Gottes Auftrag bzw. die Zumutung Gottes gewehrt hat. Abraham soll Rede und Antwort stehen. Das Geschehen spitzt sich zu, und "Abraham" erkennt, wie oft er nicht widersprochen hat und wieviele "Isaake" er bereits geopfert hat.. Dies nennt Laeuchli "Mythischen Schock", der die Geschichte ganz neu betrachten läßt. Die Spielenden erkennen, daß die Tragik einer Geschichte ihre eigene Tragik ist. Die Biographie des Teilnehmers kreuzt sich mit dem Werdegang der Personen der Geschichte. Wut, Zorn und andere Gefühle, die dabei hochkommen, sind Zugänge zur Wahrheit einer Geschichte. Laeuchli hofft während des Spiels nicht nur auf Bewußtseinsveränderung, sondern auf Verwandlung der Teilnehmenden.[26]
3.1.3 Textzentriertes Bibliodrama
Vertreter des Textzentrierten Bibliodramas ist Gerhard Marcel Martin. Seiner Arbeitsweise liegt ein Dreischritt zugrunde.
1. Körperarbeit
Körperarbeit ist für G. M. Martin konstitutiv mit Bibliodrama verbunden. Es können ganz verschiedene Übungswege - wie z. B. aus bestimmten Atemschulen, aus der Eutonie oder aus dem Tanz und Theatertraining - dazu dienen, den Körper besser kennen zu lernen. Körperarbeit hat drei Ziele.
Sie dient zunächst dem Fokuswechsel: Menschen sollen Abstand zu ihrem Alltag gewinnen, und sie sollen allzu schnelle Reaktions- und Verarbeitungsmuster geradezu verlernen. Nur so ist ein wirklich neues und elementares Begegnen mit dem Text möglich.
Bei der Körperarbeit bewegen sich alle zusammen und doch setzt jeder die Bewegungsübungen auf seine Weise um. Es geht nicht um Kontrolle, um richtig oder falsch und niemand korrigiert einen anderen. So entsteht eine Zentrierung in die Gruppensituation hinein.
Ein weiteres Ziel der Körperarbeit ist die Vorbereitung auf die inhaltliche und gestalterische Arbeit.
2. Kreative Phase
Hier arbeitet er mit "linguistischen Ansätzen" vor allem mit "strukturalistischer Textanalyse"[27] und weiterhin auch mit körperorientierten Methoden. Gerne verbindet er Wort und Gestus. Zum Beispiel werden aus einem Text alle Verben herausgeschrieben und diese dann anschließend dargestellt. Dieses ist für ihn ein unmittelbarer Zugang zum Text und soll verhindern, daß im Kopf gespeichertes theologisches Herrschaftswissen den Spielprozeß behindert. Nach der Darstellung dieser Gesten kann es zu kurzen Spielsequenzen kommen Aber auch bestimmte gestalterische Mittel wie zum Beispiel "Malen" setzt er ein. Wichtig bei allem sind ihm die Grundparolen "Small is beautiful" und "Slow down". Das heißt keine Materialschlachten und großartige, verspielte Improvisationen, sondern eher einzelne Bewegungen und auch die Beachtung kleiner Gesten und Bewegungen. Verlangsamung, das heißt für ihn, an einem Textabschnitt zu verweilen und intensiv daran zu arbeiten, einzelne Worte eines Textes wirklich genau zu betrachten und auszukosten. Die Arbeit ist am Text orientiert. Dieser ist nicht Sprungbrett hinein in die Biographie des Einzelnen oder in ein allgemeines Thema. Der Text wird in Bewegung gehalten, und es findet zwischen dem Text und dem Lebenstext des Einzelnen eine ständige Verknüpfung, Verschränkung und Verflechtung statt. Der Text bleibt immer Gegenüber und Sinnhorizont.[28]
3. Aufarbeitung/Gespräch
In dieser Phase werden die Erfahrungen des vorhergehenden Schrittes besprochen. Es geht auf gar keinen Fall um eine theologische Diskussion, sondern um Rollen-Feedback und um Identifikations-Feedback. Im Rollen-Feedback berichten einzelne, was sie in ihrer Rolle oder bei ihrer Geste erlebten. Beim Identifikations-Feedback sagen die Zuschauenden, was sie bei einer Bewegung oder anderen Darstellung wahrgenommen haben. Zum Schluß teilen die Teilnehmenden miteinander, was während des Spiels aus der eigenen Lebensgeschichte lebendig geworden ist. Dieses ergänzt oder verstärkt das bisher Dargestellte.[29]
3.1.4 Spiel- und theaterpädagogisch inspiriertes Bibliodrama
Mit dem Spiel- und Theaterpädagogisch inspirierten Bibliodrama verbindet sich unter anderem der Name Else Natalie Warns. Sie sucht mit verschiedenen Interaktions- und Kommunikationsspielen, durch Inszenierungen von biblischen Geschichten - häufig auch mit Requisiten - und ästhetischen Gestaltungsaufgaben (Tonen, Malen, Musizieren) Zugänge zum Text. Durch die Zusammenarbeit mit befreundeten Bibliodramatikern lernte sie dazu und integrierte deren Erfahrungen in ihren Ansatz. Sie übernahm z. B. verschiedene Elemente aus der Körperarbeit. Auch bestimmte Rituale haben inzwischen innerhalb ihres Ansatzes einen Platz gefunden. Durch die Erfahrungen im Spiel und bei der Gestaltung gelangen die Beteiligten in ein dialogisches Verhältnis zum Text. Die Spielenden werden sich ihrer selbst bewußt und erkennen überraschende Bezüge zu den Textaussagen.
Der biblische Text gilt als Raum, der betreten und erforscht wird. Jeder tritt in diesen Raum mit einem "Koffer" voller Erfahrungen, die in das Spiel miteinfließen. Das Arrangement aus verschiedenen Elementen (Spiel- und Gestaltungsaufgaben) dient dazu, verschiedene Zugänge zum Textraum zu finden. Die Erschließung dieses Textraumes, sowie dessen Gestaltung, sind Ausgangspunkt und Ziel des Bibliodramas. Durch Verleiblichung und Gestaltung geschieht Vergegenwärtigung. Während des Spiels wird der Text aktualisiert.
Für die Teilnehmenden soll während des Spiels immer wieder Zeit sein, ihre Erfahrungen für sich selbst zu bündeln. Dies hält Else Natalie Warns vor allem nach nonverbalen Spielphasen und Gesprächen für notwendig. Es ist beispielsweise geeignet, ein "Tagebuch" zu führen, in das Assoziationen, gefühlsmäßige Eindrücke, Gedankensplitter, Träume, eingetragen werden. Bei kürzeren Bibliodramen kann dies auch durch ein Textblatt mit genügend Raum für Eintragungen ersetzt werden.
Besonderen Wert legt sie auch auf die Wahl der Methoden. Diese sollen immer textgeleitet sein. Jeder Text regt zu bestimmten Gestaltungsaufgaben an. Bibliodrama ist dem biblischen Text verpflichtet, und alle Spiele und Gestaltungsaufgaben dienen dazu, zur Mitte eines
Textes zu gelangen.[30]
[...]
[1] Warns, Else Natalie; Bibliodrama - Spielprozesse zu biblischen Texten. In: Der evangelische Erzieher, 35. Jhg., 1983, S. 286
[2] Warns, Else Natalie und Fallner, Heinrich; Bibliodrama als Prozeß, Luther- Verlag Bielefeld 1994, S.85
[3] vgl. Andriessen, Herman und Derksen, Nicolaas; Lebendige Glaubensvermittlung im Bibliodrama: eine Einführung, Matthias-Grünewald-Verlag, 1989,
S. 20-24
[4] Martin, G. M.; Sachbuch Bibliodrama: Praxis und Theorie, Kohlhammer 1995, S.9
[5] Kollmann, Roland; Bibliodrama - drei didaktische Grundformen am Bsp. Der Maria und Martha Perikope. In: Katechetische Blätter 119. Jhg., 1994, S. 510
[6] Vgl. Bobrowski, Jürgen; Bibliodrama-Praxis: biblische Symbole im Spiel erfahren, EB-Verlag Rissen, 1991, S. 24-29
[7] Vgl. Berg, Horst Klaus; Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung; Kösel Verlag München und Calwer Verlag Stuttgart 1991, S. 464
[8] Vgl. ders., S. 463
[9] Vgl. Arnoldshainer Konferenz; Das Buch Gottes: elf Zugänge zur Bibel; Ein Votum des theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz - Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1992, S. 25-33
[10] Vgl. ebd. S. 120-125 und Kiehn, Antje u. a.; Bibliodrama; 1. Auflage Stuttgart: Kreuz Verlag, 1987, S. 117f
[11] Eppler, E.; in: epd-Dokumentation 26/1991, S. 20 (zitiert nach Arnoldshainer Konferenz; Das Buch Gottes: elf Zugänge zur Bibel; Ein Votum des theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz - Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1992, S. 144
[12] Vgl. Arnoldshainer Konferenz; Das Buch Gottes: elf Zugänge zur Bibel; Ein Votum des theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz - Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1992, S. 13ff
[13] Berg, Horst Klaus; Ein Wort wie Feuer: Wege lebendiger Bibelauslegung, Kösel Verlag München und Calwer Verlag Stuttgart, 1991, S. 16
[14] Vgl. ders. S. 17-19
[15] Kulturspiegel des 20. Jahrhunderts - 1900 bis heute; Georg Westermann - Verlag GmbH, Braunschweig 1984; 1987 überarbeitete und ergänzte Lizenzausgabe für den Unipart - Verlag GmbH, Remseck bei Stuttgart, 1987
[16] Vgl. Martin, G. M.; Sachbuch Bibliodrama: Praxis und Theorie, Kohlhammer 1995, S. 13- 15
[17] Diese "Liturgische Nacht" wurde veranstaltet von der "Arbeitsgemeinschaft für Gottesdienst und Kommunikation" Frankfurt, ein Experiment, das damals seinesgleichen suchte. Stundenlang waren die Teilnehmer dieser Großgruppenliturgie zusammen und feierten in ständigem Wechsel zwischen Aktion und Stille.
[18] Katja Delakova leitete in Amerika eine eigene Schule "Kunst der Bewegung". Sie hatte diese Kunst der Bewegung aus ihren Erkenntnissen, die sie zunächst aus dem Wienerballett, aber auch aus dem Ausdruckstanz und aus der israelischen und jugoslawischen Folklore, Aikido und Tai Chi so wie Feldenkraisarbeit gewonnen hatte, entwickelt. Immer wieder kam Katja Delakova auch nach Europa und führte Workshops zu ihrer Bewegungskunst durch.
[19] Professor Dr. Moshe Budmor ist Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler und führte mit seiner Frau Katja Delakova auch in Mitteleuropa immer wieder Workshops durch. Von ihm stammen viele Ideen für eine "Verklanglichung" von Texten.
[20] Riemer, Christoph; unveröffentlichtes Skript: "Perspektiven und Visionen zum Bibliodrama", S.2
[21] In Anlehnung an Luthers Erklärung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus.
[22] Vgl. Warns, Else Natalie und Fallner Heinrich; Bibliodrama als Prozeß, Luther-Verlag, Bielefeld 1994, S. 153
[23] Im Anhang S. I befindet sich eine Tabelle, die einem ersten Überblick dienen soll.
[24] Andriessen, Herman und Derksen, Nicolaas; Lebendige Glaubensvermittlung im Bibliodrama: eine Einführung, Matthias-Grünewald-Verlag, 1989, S. 139f
[25] ebd. S. 163-166
[26] vgl. Kiehn, Antje und andere, Bibliodrama, 1. Auflage Stuttgart: Kreuz Verlag, 1987, S. 16-43
[27] Bestimmte Wortgruppen (Codes) werden aus dem Text herausgezogen, mit denen dann gearbeitet wird, zum Beispiel alle Zeitangaben, die Ortsangaben eines Textes, die Subjekte einer Handlung, die Verben usw.
[28] Vgl. Kiehn, Antje u. a.; Bibliodrama; 1. Auflage Stuttgart: Kreuz Verlag, 1987 S. 44ff
[29] Martin, Gerhard Marcel; Sachbuch Bibliodrama Praxis und Theorie; Kohlhammer, 1995, S. 67
[30] vgl. Warns, Else Natalie und Fallner, Heinrich; Bibliodrama als Prozeß, Luther Verlag Bielefeld 1994, S. 13ff
- Quote paper
- Ute Fassel (Author), 1998, Bibliodrama - eine religionspädagogische Methode in der Arbeit mit Erwachsenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24271
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