Übergreifendes Thema der vorliegenden Arbeit ist Louis Aragons Roman "Le paysan de Paris"; analysiert wurde das Werk an Hand des ersten Teils "Le passage de l'Opéra", da dem Passagenmotiv das Hauptaugenmerk gelten sollte. Hier ließ sich dann auch die Brücke zu Walter Benjamins Beschäftigung mit der Passage als Symbol kulturellen Umbruchs schlagen.
Die Arbeit hat somit zwei Hauptteile, von denen der erste sich mit dem Roman im Allgemeinen, der zweite jedoch speziell mit dem Passagenmotiv beschäftigt. Beide Teile schließen einen kurzen biografisch-entstehungsgeschichtlichen
Abschnitt ein, im ersten zu Aragon und dem "Paysan" selber, im zweiten zu Benjamin und seinem "Passagen-Werk".
Auch kam ich nicht umhin, den umfangreichen philosophischen Grundlagen des Analysierten einigen Raum zu widmen. Jedem der beiden Teile ist also ein Abschnitt zu den philosophisch-theoretischen Hintergründen des jeweiligen Werkes beigegeben.
Inhaltsverzeichnis
1 »Le paysan de Paris« - Allgemeines
1.1 Biografische Notiz und Entstehungsgeschichte
1.2 Form und Inhalt
1.2.1 ‘Handlung’ und Erzählperspektive
1.2.2 Stil
1.3 Theoretischer Unterbau
1.3.1 Logozentrismuskritik
1.3.2 Der Surrealismus als Monismus
1.3.3 Surrealistische Existenzphilosophie
1.3.4 Der Mythos
2 Die Passage
2.1 Das Passagenmotiv bei Aragon: »Le passage de l’Opéra«
2.1.1 Der Flaneur
2.1.2 Prostitution
2.2 Walter Benjamin - Notiz zur Biografie
2.3 Das »Passagen-Werk«
2.4 Die Theorie hinter dem »Passagen-Werk«
2.5 Benjamin und Aragon - Berührpunkte und Differenzen
3 Schlussbemerkung
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit ist die Ausarbeitung eines Referats und teilt demzufolge dessen Schwerpunkte. Übergreifendes Thema ist Louis Aragons Roman »Le paysan de Paris«; analysiert wurde das Werk jedoch fast ausschließlich an Hand des ersten Teils »Le passage de l’Opéra«, da dem Passagenmotiv das Hauptaugenmerk gelten sollte. Hier ließ sich dann auch die Brücke zu Walter Benjamins Beschäftigung mit der Passage als Symbol kulturellen Umbruchs schlagen.
Die Arbeit besteht somit neben Vor- und Schlussbemerkung aus zwei Hauptteilen, von denen der erste sich mit dem Roman im Allgemeinen, der zweite jedoch speziell mit dem Passagenmotiv beschäftigt. Beide Teile schließen einen kurzen biografisch-entstehungsgeschichtlichen Abschnitt ein, im ersten zu Aragon und dem »Paysan« selber, im zweiten zu Benjamin und seinem »PassagenWerk«.
Auch kam ich nicht umhin, den umfangreichen philosophischen Grundlagen des Analysierten einigen Raum zu widmen, denen mir als Hauptfachstudierendem der Philosophie ohnehin großes Interesse galt. Jedem der beiden Teile ist also ein Abschnitt zu den philosophisch-theoretischen Hintergründen des jeweiligen Werkes beigegeben.
1 »Le paysan de Paris« - Allgemeines
Aragons Roman, der Ausgangspunkt dieser Untersuchung, verrät in seiner recht schmalen äußeren Erscheinung (249 Druckseiten) und der wenig spektakulären Handlung (sofern man von einer solchen sprechen kann; mehr dazu in Abschnitt 1.2.1) zunächst wenig von seinem immensen ideellen Umfang. Ich möchte in diesem Teil der Arbeit versuchen, zu verdeutlichen, wieviel vor und hinter diesem Text steht.
1.1 Biografische Notiz und Entstehungsgeschichte
Louis Aragon (⋆1897 Paris, †1982 Paris) beginnt schon als Kind, Gorki, Tolstoi, Rolland und Nietzsche zu lesen; seinen ersten erhaltenen Text schreibt er als Siebenjähriger. Aus gesundheitlichen Gründen vom Militärdienst freigestellt, nimmt er 1916 ein Medizinstudium in Paris auf.
Schon im Jahr darauf wird er jedoch für tauglich erklärt und zum Sanitätsdienst der Armee eingezogen. Eine langjährige Freundschaft mit André Breton nimmt im selben Jahr mit der gemeinsamen Lautréamont-Lektüre ihren Anfang. Den Roman »Anicet ou le panorama«, dem ersten Vorläufer des in dieser Arbeit behandelten Werkes, beginnt Aragon 1918 an der Front.
Ab Februar 1919 lernt der Autor in den französischen Saarbesatzungstruppen Deutschland kennen, was sich auch im »Paysan de Paris« niederschlagen wird. Kurz darauf erscheint die erste Nummer der Zeitschrift »Littérature«, späteres Zentralorgan des Surrealismus; Herausgeber sind Aragon, Breton und Philippe Soupault. Mitte des Jahres lernt Aragon die »écriture automatique« kennen, kehrt aus dem Militärdienst zurück und nimmt sein Studium wieder auf.
1920 trifft der Autor in Paris auf Tristan Tzara und gehört in diesem und im folgenden Jahr zu den Pionieren der französischen Dada-Bewegung. »Anicet« erscheint 1921. Im nächsten Jahr verbringt Aragon einen Monat in Berlin. 1923 ist ein Jahr lebhafter publizistischer Tätigkeit, die 1924 in der Veröffentlichung der surrealismustheoretischen Texte »Une vague de rêves« und »Préface à une mythologie moderne« mündet. Letzterer Text, zusammen mit ersten Teilen des zweiten Kapitels »Le passage de l’Opéra« in der Juninummer der »Révue européenne« erschienen, bildet die erste veröffentlichte Strecke des »Paysan de Paris«. Der Rest des Passagen-Kapitels erscheint bis September 1924 in derselben Zeitschrift.
Der Rest von 1924 und 1925 werden bestimmt von der Arbeit im »Bureau de recherches surréalistes« und der Auseinandersetzung mit dem konventionellen Literaturbetrieb, z. B. im Pamphlet »Un cadavre« zum Tode von dessen Exponenten Anatole France. Von März bis Juli 1925 erscheint »Le sentiment de la nature aux Buttes-Chaumont«, das spätere zweite Hauptkapitel des »Paysan«, wiederum in der »Revue européenne«.
Zum ersten Mal als Ganzschrift erscheint »Le paysan de Paris« erst im Juli 1926.1
1.2 Form und Inhalt
Wie aus der vorstehenden Notiz zu Biografie und Entstehungsgeschichte ersichtlich, handelt es sich bei »Le paysan de Paris« nicht um einen homogenen Text. Seinen ‘Hauptteil’ bilden die beiden getrennt voneinander veröffentlichten Texte »Le passage de l’Opéra« und »Le sentiment de la nature aux ButtesChaumont«, denen die Theorieschrift »Préface à une mythologie moderne« wie der Methodenteil eines philosophischen Werkes vorangestellt ist.
1.2.1 ‘Handlung’ und Erzählperspektive
Es gibt keine Handlung im herkömmlichen Sinne, weder durchlaufend noch fragmentarisch. Zwar findet sich sequenzielle Erzählung von Geschehnissen, doch dient diese ausnahmslos der Beschreibung.
Im konventionellen Roman wird Beschreibung erst durch Handlung erforderlich. Selbst wenn die Intention des Romans deutlich die Beschreibung z. B. eines sozialen Milieus ist, bleibt sie eine Funktion der Handlung. In Aragons vorliegendem Werk ist es umgekehrt: Handlung tritt sozusagen nur dort auf, wo ein Objekt im Lichtkegel der Beschreibung nicht stillhält. Ob die Bezeichnung ‘Roman’ also gerechtfertigt ist, lässt sich diskutieren; der »Paysan« ist kein narratives, sondern ein deskriptives Werk.
Eine grobe Inhaltsangabe würde bei einem konventionellen Roman versuchen, die Handlung in einigen Sätzen zu umreißen. Hier jedoch ist dies mangels Handlung nicht möglich. Es kann gesagt werden, dass es sich um die Beschreibung zweier Spaziergänge durch Paris handelt, einer davon durch die Passage de l’Opéra, ein anderer durch den Park der Buttes-Chaumont; dass das Wesen dieser Spaziergänge ein schweifendes Flanieren mit eingestreuten Betrachtungen der verschiedenste Gegenstände ist; und dass dieser Beschreibung ein philosophischer Essai vorausgeht. Jede eingehendere Inhaltsangabe würde den Rahmen dieser Arbeit bereits sprengen, denn mangels größerer Ereignisse wäre eine solche Inhaltsangabe eine Schilderung zahlreicher kleiner, mehr oder minder alltäglicher Verrichtungen und Reflexionen.
1.2.2 Stil
Ohne Handlung, der sie dienstbar zu sein hätte, macht sich die Beschreibung also selbständig, ufert ungeleitet zu ungekanntem Umfang aus. Ihre Präzision ist so unerhört, dass man sie als Modell und Definitionsfall für die surrealistische Methode überhaupt betrachten darf, was in dieser Frühphase des Surrealismus wohl auch Aragons Absicht war.
Die Beschreibung gibt alles Getane, Beobachtete, Gedachte, Geträumte, visionär Erblickte mit gleicher Genauigkeit wieder. Der Unterschied zwischen Objektivitität und Subjektivität, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Narration und Reflexion geht verloren. Konsequenterweise gibt es auch keinen Abstand zwischen Autor, Erzählendem und Erlebendem: Aragon wird von einer seiner Fiktionen mit Namen gerufen2; der Text selber bezieht sich auf Leserreaktionen auf frühere Textabschnitte3, was den Abstand, den herkömmliche Literaturrezeption zwischen Primärtext und Selbstreflexion des Autors fordert, zu Nichte macht.
Um diese schrankenlose Beschreibung zu realisieren, greift der Roman auf alle verfügbaren Mittel des Mediums Buch zurück. Fiktive, allegorische Personen halten Monologe4und dramenmäßig niedergeschriebene Dialoge5; Lieder und Gedichte tauchen eingestreut auf6, genauso wie ein Brief Aragons an den Herausgeber der Revue européenne7; die Formenvielfalt lässt an postmoderne Romane denken.
Auch werden typografische Mittel ausgenutzt, sowohl um dem eigentlichen Text Effekt zu verleihen8, als auch um Dokumente wie Zeitungsartikel9, Werbeschilder10oder die Getränkekarte des Certa11zu faksimilieren. All dies erinnert an die konsequente Ausnutzung aller Mittel der Typografie in der Poesie des Dadaismus, an den der Surrealismus besonders in seiner hier relevanten Frühphase umfangreiche Anleihen macht - und dies bei der Schilderung jenes Cafés, in dem sich der dadaistische Zirkel zunächst zu treffen pflegte.
Wo solcherlei Montagetechnik nicht ausreicht, wird der herkömmliche deskriptive Schreibstil in höchster Präzision eingesetzt, um visuelle Eindrücke darzustellen, wie z. B. bei der Beschreibung der Einrichtung des Certa:
Au milieu deux tonneaux et leurs siéges. A l’entrée du retrait une petite table et un fauteuil. Enfin entre le retrait et la porte du passage, á l’abri de celle-ci grâce au paravent de bois, un dernier tonneau, et ses siéges. Pour le retrait, on y trouve trois tables serrées sur le même rang, avec, au fond, une seule banquette de molesquine qui en tient toute la largeur, des chaises à l’opposé de la banquette, et dans le coin droit distal12, un petit radiateur à gaz mobile, très appréciable en hiver.13
Natürlich soll hier auch ein Hinweis auf die wohl berühmteste Stelle des Passagen-Kapitels nicht fehlen: Der Erscheinung im Stockladen.14Hier wird die pedantisch-materialistische Beschreibung des Visionären auf die Spitze getrieben. Aragon schildert in einer Rückblende die Illusion einer Verwandlung der Auslagen dieses Stockladens in eine Unterwasserszenerie, in der ihm eine von seiner Zeit bei den Besatzungstruppen bekannte Saarländerin als Meerjungfrau erscheint. Das Ende der Vision wird geradezu drehbuchhaft in aller technischer Genauigkeit beschrieben: »Les cannes tournèrent en avant de quatre-vingt-dix degrés, de telle façon que la moitié supérieure des X vint ouvrir son V contre le verre complétant en avant de l’apparition le rideau des éventails inférieurs.«15
[...]
1Zu allen biografischen Angaben vgl. Babilas, Wolfgang, Louis Aragons Leben. 〈URL: http://www.uni-muenster.de/Romanistik/Aragon/biog/biog.htm〉 - Zugriff am 200403-14.
2Vgl. Aragon, Louis, Le paysan de Paris. Gallimard, 1926, S. 72.
3Vgl. ebd., S. 105.
4Vgl. »Discours de l’Imagination«, ebd., S. 80.
5Vgl. »L’homme converse avec ses facultés«, ebd., S. 76.
6Vgl. z. B. »Les Realités«, ebd., S. 70.
7Vgl. ebd., S. 223ff.
8Vgl. z. B. Aragon, Le paysan de Paris, S. 62.
9Vgl. ebd., S. 34, 37f., 40ff.
10Vgl. z. B. ebd., S. 85.
11Vgl. ebd., S. 97.
12Hier spricht der Mediziner Aragon. Eine Frequenzanalyse der medizinischen Fachbegriffe in seinen Werken wäre sicher ein interessantes Unterfangen.
13Ebd., S. 94.
14Ebd., S. 30-33.
15Ebd., S. 32.
- Arbeit zitieren
- Matthias Warkus (Autor:in), 2004, Zu: Louis Aragons "Le paysan de Paris" - Das Motiv der Passage, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24262
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