Die Arbeit nimmt eine Begriffsbestimmung der in Psychologie, Soziologie und Ethnologie
weit verbreiteten Konzepte der individuellen und der kollektiven Identität vor. Im
ersten Teil wird personale Identität zuerst aus der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus
sowie der Eriksonschen Ich-Psychologie betrachtet, auch in Abgrenzung zu
verwandten Begriffen wie Individualität. Kollektive Identität als Übertragung eines individualpsychologischen Konstrukts auf Kollektivsubjekte wird im zweiten Teil auf die damit einhergehenden Schwierigkeiten theoretischer und empirischer Art als auch auf die praktisch-politischen Konsequenzen wie Ausschlussprozesse und Konfliktpotential hin untersucht. Im Schlussteil erfolgt eine kurze Diskussion über die offen bleibende Frage der sinnvollen
Abgrenzung zwischen einem deskriptiven und einem präskriptiv-normativen Identitätsbegriff
und möglichen Alternativen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Personale Identität
2.1 Symbolischer Interaktionismus
2.2 Eriksons Ich-Psychologie
2.3 Straubs Konzeption personaler Identität
2.4 Identität vs. Individualität
3 Kollektive Identität
3.1 Was ist kollektive Identität?
3.1.1 Kollektive Identität, Recht und Gewalt
3.2 Was könnte kollektive Identität sein?
3.2.1 Identität als rekonstruierende Nachschrift
3.2.2 „wir“ anstatt kollektiver Identität
4 Diskussion
A Zu den Autoren
A.1 Lutz Niethammer
A.2 Jürgen Straub
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Das Konzept der Identität (für einen allgemeinen Überblick über verschiedene Identitätstheorien und -konzepte in der Psychologie vgl. Keupp, 2001) und der kollektiven Identität ist ein in sowohl in der Soziologie und Ethnologie als auch der Psychologie häufig gebrauchtes, zugleich jedoch auch oft heftig kritisiertes Konzept. Diese Arbeit soll anhand der Texte von Straub (1998) und Niethammer (2000, Kapitel III/ 4) in einem ersten Schritt eine genauere Bestimmung der begriffsgeschichtlichen Wurzeln von Identität vornehmen, in einem zweiten Schritt eine genauere inhaltliche Bestimmung von Straubs Idee von personaler Identität leisten, um daraufhin in einem dritten Schritt das Konzept der kollektiven Identität einer kritischen Untersuchung zu unterziehen und mögliche Alternativen zu betrachten.
Da kollektive Identität an Straub anschließend als Übertragung eines individualpsychologischen Kontrukts auf Kollektivsubjekte verstanden werden soll, erfolgt im folgenden Kapitel eine begriffsgeschichtliche und inhaltliche Beschreibung des relativ jungen Identitätskonzepts; zum einen soll dies in einer psychologischen/ psychoanalytischen Ausrichtung in Anlehnung an Erikson, zum anderen - in einer mehr soziologischen Ausrichtung mit dem symbolischen Interaktionismus erfolgen (für eine ausführliche Begriffsgeschichte von kollektiver Identität vgl. Niethammer, 1994, 2000)
2 Personale Identität
2.1 Symbolischer Interaktionismus
Erste wichtige Quelle des Konzepts der Identität ist der Symbolische Interaktionismus, eine meist mit George Herbert Mead verbundene soziologische/ sozialpsychologische Theorie. Sie baut auf dem amerikanischen Pragmatismus von William James und John Dewey und dessen Grundsatz auf, dass sich das Begreifen der Dinge an ihren praktischen Konsequenzen orientieren soll. Identität - bei Mead self genannt - besteht aus zwei Elementen: einerseits dem I, dem in Reaktion auf die Haltung anderer handelnden Subjekt, andererseits dem Me, der Summe der durch Rollenübernahme (Meads internalisierter generalisierter Anderer ) erworbenen Elemente gesellschaftlichen Ursprungs; Identität hat also sowohl eine subjektive als auch eine sozial vermittelte Dimension, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen.
2.2 Eriksons Ich-Psychologie
Weitere wichtige, wenn nicht die wichtigste begriffsgeschichtliche Wurzel des Identitätsbegriffs ist Erik H. Eriksons an die Psychoanalyse anschließende Ich-Psychologie. Ausgehend von sowohl sozial- als geschichtstheoretischen Überlegungen (so beschrieb Erikson z. B. den Lebensweg Luthers in den Begriffen seiner Identitätskonzeption) fasste Erikson Identität „als jene Einheit und Nämlichkeit einer Person aufzufassen, welche auf aktive, psychische Synthetisierungs- und Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die betreffende Person der Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis zu vergewissern sucht“ (Straub, 1998, S. 75, Hervorh. i. Original). Die genannten Integrationsleistungen werden notwendig infolge diachroner und synchroner Differenzerfahrungen, die Erikson zu einem universellen Stufenmodell der menschlichen Entwicklung zusammenfasst (Tabelle 2.1).
Wie die Tabelle zeigt, bleibt die Identitätskrise (und damit auch -entwicklung) nicht wie in anderen Ansätzen auf die Zeit der Adoleszenz beschränkt, sondern ist im Prinzip unbegrenzt; Erikson fasst die Identitätskrise - wie Freud die Neurose - als „psychologische Signatur seiner Epoche“ (Straub, 1998, S. 84) auf. Identität stellt sich hier also als etwas permanent Gefährdetes dar, etwas, das ständig neu erarbeitet werden muss, was deutlich macht, dass Erikson ein persönlichkeits-, entwicklungspsychologisches und klinisches Konzept formuliert hat.
Eriksons Identitätskonzeption fand und findet bis heute sehr viel Anklang, es wurde aber auch Kritik an seinem Modell formuliert:
In all seinen Schriften definiert er seinen Identitätsbegriff nie exakt, seine Beschreibun gen bleiben zum einen auf einer sehr allgemeinen Ebene mit einem (zu) großen Anwendungsbereich, der nicht einmal eine Abgrenzung zwischen personaler und kollektiver Identität zulässt, zum anderen vermischt er inhaltlich-qualitative mit formal-strukturellen Aspekten.
Tabelle 2.1: Das Acht-Stufenmodell von Erikson (nach Oerter & Montada, 2002)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zweiter wichtiger Kritikpunkt ist sein Anspruch der universellen Gültigkeit: es ist überaus fraglich - wie natürlich auch bei vielen anderen psychologischen Konstrukten - inwieweit sein Modells zeitliche und räumliche Universalität für sich beanspruchen kann, oder wie Straub schreibt:
„Hält man sich an die terminologische Bedeutung des theoretischen Begriffs [der personalen Identität], mag Luther unter allem möglichen gelitten haben, gewiß jedoch nicht unter psychosozialen Schwierigkeiten, die man zu Recht unter den modernen Titel ‚Identitätsprobleme‘ bringen kann.“ (S. 89f)
Auf der Ebene der räumlichen oder besser kulturellen Universalität wurde Erikson zusätzlich vorgeworfen, sein eigenes Modell sehr stark an Charakteristika des American way of life gebunden zu haben.
Dritter Kritikpunkt sind Eriksons Äußerungen zum Thema „innerer Raum und weibliche Identität“, die auf eine Naturalisierung und Vereindeutigung weiblicher Geschlechtsrollen hinauslaufen.
2.3 Straubs Konzeption personaler Identität
Wie oben beschrieben ist Eriksons Identitätsbegriff eher vage und deshalb soll mit Straub in diesem Abschnitt eine genauere Herausarbeitung eines brauchbaren Konzepts personaler Identität erfolgen.
Straub stimmt mit Erikson darin überein, dass Krisenerfahrungen entscheidend für die Entwicklung von Identität seien, wobei er allerdings nicht von universalisierbaren, in festgelegter Reihenfolge auftretenden Krisen ausgeht. In diesem Sinne lassen sich Identitätsprobleme als Orientierungsprobleme fassen, d. h. Probleme, die dann auftreten, wenn relevante Handlungs- und Lebensorientierungen für den/ die je Einzelne(n) fragwürdig werden und in der Folge eine erneute Bestimmung des eigenen „Selbst- und Weltverhältnisses“ (Straub, 1998, S. 87) erforderlich machen.
Diese Sichtweise von Identität hat verschiedenen Konsequenzen: Wie bei Erikson erscheint Identität hier nicht als etwas Festgelegtes, Essentielles, als etwas, das man dauerhaft besitzt, sondern vielmehr als eine fragile, „spezifisch moderne Erfahrung, nämlich jene, welche besagt, daß nicht feststeht und niemals ein für alle mal festgestellt werden kann, wer jemand ist, sein will, sein kann“ (Straub, 1998, S. 88; Hervorh. i. Original). Zentral wird dadurch der Begriff der Identitätsarbeit im Sinne von aktiver Selbstreflexion und Selbstverortung des Individuums, um die angesprochenen syn- und diachronen Differenzerfahrungen zu integrieren. Straub betont die Bedeutung dieser Differenzerfahrungen als allgemeinem Kennzeichen moderner Subjektivität und sieht Identität in diesem Zusammenhang als eine spezifische Form dieser Subjektivität, die von der Moderne erforderlich gemacht und zugleich auf den Weg gebracht worden sei.
Straub betrachtet die (postmoderne?) Form der Erfahrung der Wirklichkeit in Begriffen der Differenz im Wesentlichen als etwas Positives, das dem Subjekt einen „Möglichkeitsraum [schafft], in dem der radikale Zweifel zum Kern eines selbstreflexiven, selbstkritischen Denkens geworden ist“ (Straub, 1998, S. 88; Hervorh. i. Original). Identität stellt hierbei eine Art Klammer oder Integrationswerkzeug dar, um ein kohärentes und kontinuierliches Bild von der eigenen Person zu ermöglichen. Kohärenz und Kontinuität beziehen sich aber nicht - Straub betont dies ausdrücklich - auf inhaltliche Aspekte des Selbstbildes, sondern allein auf die Form. Straub drückt dies folgendermaßen aus:
Dies aber heißt, daß Identitätstheorien anzugeben bemüht sind, wie Subjekte theoretisch gedacht werden können, damit vorstellbar und plausibel bleibt, daß sie sich auch dann noch als kommunikations-, handlungs- und interaktionsfähige Personen erhalten können, wenn klar ist, daß Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit Konstituenten menschlicher Praxis sind und - im Unterschied zu anderen Zeiten und Lebensformen - permanente Begleiter
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- Arbeit zitieren
- Harald Kliems (Autor:in), 2004, Kollektive Identität - Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren eines Konstrukts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24205
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