Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Figurenkonzeption in Alexander Kluges 1965/66 gedrehtem Film "Abschied von gestern (Anita G.)" erscheint problematisch, überwindet er doch in eigensinniger Vermischung ‘fiktinaler und dokumentarischer Formen’ gängige Genrezuweisungen, bricht Wahrnehmungsmuster und Beschreibungsmodelle auf. Unter dem Etikett des Essayfilms subsumiert, oszillieren die Figuren als markierendes Element von Fiktion und Nicht-Fiktion zwischen Rolle und Selbstdarstellung: Ist der Figuren-begriff für die Nicht-Fiktion dann überhaupt anwendbar? Überzeugen ‘dokumentarische Formen’ nicht gerade durch die Präsenz ‘realer’ Menschen, die Authentizität ‘wirklichen’ Lebens? Wie überhaupt kann ein Nebeneinander von Fiktionalem und Dokumentarischem bestehen und funktionieren, will es sich auf die inhaltliche Präsentation durch Personen in Absetzung zur formalen Ausgestaltung durch dramaturgische und technische Mittel beziehen?
Fragen, die ins Zentrum einer Debatte der Postmoderne über das Wesen und den Status der ‘Bilder des Wirklichen’ weisen, stützen sie doch bedingt den Trugschluß, mit dem die Filmgeschichte einst begann: Der Bestimmung von Nicht-Fiktion und Fiktion, vorstrukturiert durch die angeblich nicht-narrativen, rein abbildenden ‘Protofilme’ der Lumières in Polarisierung zu den filmischen Illusionen eines Méliès; Ausgangspunkt einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt früh in der Gleichsetzung von Nicht-Fiktionalem mit Dokumentarfilmen und Fiktionalem mit Spielfilmen fand. Eine Weiterentwicklung blieb aus: Die Marginalisierung des Dokumentarfilms gegenüber dem Sehgewohnheiten prägenden Genre des fiktionalen Films verursachte eine anhaltende Vernachlässigung innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mit der Folge, daß fast hundert Jahre lang die Natur des Dokumentarischen im Realitätsbezug, in seiner Abbildfunktion von Wirklichkeit zu suchen war. Erst 1988 setzte mit Eva Hohenbergers Dissertation ‘Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch’ ein geistiger Kurswechsel in Deutschlands Köpfen ein.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Fiktion und Nicht-Fiktion – Gedanken zur Geschichte einer begrifflichen Verwirrung
1. Ein Rettungsversuch: Roger Odins Theorie der dokumentarisierenden Lektüre
1.1 Die Grundlage der dokumentarisierenden und fiktivisierenden Lektüre
1.2 Die Anwendung der dokumentarisierenden Lektüre
1.3 Die Produktionsmodi der dokumentarisierenden Lektüre
2. Reflexion der semio-pragmatischen Kopfprodukte Odins und ihre Bedeutung ür eine Figurenanalyse
2. Ein Analyseversuch: Roger Odin meets Abschied von gestern (Anita G.)
2.1 Filmexterner Produktionsmodus: Das Vorwissen und die Erwartungshaltung des Zuschauers
2.1.1 Die Filmtheorie Kluges im Gedenken Adornos
2.1.2 Der Einfluß des Klugeschen Gedankenguts auf die Figurenrezeption in Abschied von gestern (Anita G.)
2.1.3 Anita G. und institutionelle Anweisungen
2.2 Der filmische Text
Schlußbemerkung: Und am Ende bleibt die Figur...
Einleitung: Fiktion und Nicht-Fiktion - Gedanken zur Geschichte einer begrifflichen Verwirrung
„Genau dies hatte Nietzsche gezeigt: daß das Ideal des Wahren, im Herzen
des Realen, die tiefste Fiktion ist (...).“ G. Deleuze[1]
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Figurenkonzeption in Alexander Kluges 1965/66 gedrehtem Film Abschied von gestern (Anita G.)[2] erscheint problematisch, überwindet er doch in eigensinniger Vermischung ‘fiktionaler und dokumentarischer Formen’[3] gängige Genrezuweisungen, bricht Wahrnehmungsmuster und Beschreibungsmodelle auf. Unter dem Etikett des Essayfilms subsumiert, oszillieren die Figuren als markierendes Element von Fiktion und Nicht-Fiktion zwischen Rolle und Selbstdarstellung: Ist der Figurenbegriff für die Nicht-Fiktion dann überhaupt anwendbar? Überzeugen ‘dokumentarische Formen’ nicht gerade durch die Präsenz ‘realer’ Menschen, die Authentizität ‘wirklichen’ Lebens? Wie überhaupt kann ein Nebeneinander von Fiktionalem und Dokumentarischem bestehen und funktionieren, will es sich auf die inhaltliche Präsentation durch Personen in Absetzung zur formalen Ausgestaltung durch dramaturgische und technische Mittel beziehen?
Fragen, die ins Zentrum einer Debatte der Postmoderne über das Wesen und den Status der ‘Bilder des Wirklichen’[4] weisen, stützen sie doch bedingt den Trugschluß, mit dem die Filmgeschichte einst begann: Der Bestimmung von Nicht-Fiktion und Fiktion, vorstrukturiert durch die angeblich nicht-narrativen, rein abbildenden ‘Protofilme’ der Lumières in Polarisierung zu den filmischen Illusionen eines Méliès; Ausgangspunkt einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt früh in der Gleichsetzung von Nicht-Fiktionalem mit Dokumentarfilmen und Fiktionalem mit Spielfilmen fand. Eine Weiterentwicklung blieb aus: Die Marginalisierung des Dokumentarfilms gegenüber dem Sehgewohnheiten prägenden Genre des fiktionalen Films verursachte eine anhaltende Vernachlässigung innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mit der Folge, daß fast hundert Jahre lang die Natur des Dokumentarischen im Realitätsbezug, in seiner Abbildfunktion von Wirklichkeit zu suchen war. Erst 1988 setzte mit Eva Hohenbergers Dissertation ‘Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch’ ein geistiger Kurswechsel in Deutschlands Köpfen ein. Hohenberger, die ihre Aufgabe darin sah, bisherige, am fiktionalen Film verifizierte Konzeptionen der Filmtheorie auf den Gegenstand des Dokumentarischen verifizierbar zu machen, formulierte die These, daß sich innerhalb der filmischen Struktur und der Erzählweise dokumentarische und fiktionale Filme durchdringen und ihre Unterscheidbarkeit im institutionellen Kontext liegt: „Ein Dokumentarfilm ist ein Film, der als solcher bezeichnet und wahrgenommen wird, wobei in die Wahrnehmung der Diskurs über den Dokumentarfilm eingeht (...).“[5] Mit dieser Aussage wurde die über Jahrzehnte mühevoll gehaltene Abbilddebatte endlich abgelöst.
Warum aber ein Exkurs in die klägliche Geschichte der deutschen Dokumentarfilmtheorie, hat sich die Verfasserin der vorliegenden Arbeit doch die Figurenanalyse in Kluges essayistischem Film Abschied von gestern (Anita G.) zur Aufgabe gestellt?
Die Figurenkonzeption als Kennzeichnung von Fiktionalem und Nicht-Fiktionalem innerhalb eines Filmes, der sich Spiel- und Dokumentarfilmformen bedient, beschreiben zu können, setzt eine Bewußtwerdung voraus, die die verwendeten Begriffe und ihre Referentialität erst einmal klären sollte.
Festzuhalten ist, daß Begrifflichkeiten wie Dokumentarisches und Nicht-Fiktion nicht synonym einzubringen sind, denn „der Dokumentarfilm behauptet Realität zu zeigen, wo er sie selbst als sinnvolle doch ebenso erst konstruiert,“[6] somit ist auch die vielgepriesene „indexikalische Authentizität des Dokumentarischen ein diskursiver ‘Effekt’ und hat keine kausale Ursache in der Realität selbst.“[7]
Die anfänglich getroffene Formulierung der Vermischung ‘fiktionaler und dokumentarischer Formen’ in Kluges Film trifft somit nicht zu. Dokumentarisches basiert auf der Fiktion, eine Fiktion, die in der Natur des Filmes selbst liegt.[8] Ebensosehr enthalten Spielfilme im Realen der Fiktion nicht-fiktionale Momente. Da ich eine Annäherung an den Fiktionsbegriff bisher ausgespart habe, soll nun Käthe Hamburgers Bestimmung der literarischen Fiktion sinnvoll auf’s Filmische übertragen werden:
„Der Ausdruck ‘als Wirklichkeit erscheinen’ bezeichnet sie (die literarische Fiktion) mit jedem dieser drei Wörter. Er bedeutet, daß der Schein von Wirklichkeit erzeugt sei und das heißt (...) Schein von Wirklichkeit auch dann, wenn es sich um eine noch so unwirkliche Dramen-oder Romanwelt handelt. Auch das Märchen erscheint als Wirklichkeit, so lange wir lesend oder zuschauend in ihm verweilen, doch nicht so, als ob es eine Wirklichkeit wäre.“[9]
Damit ist das Täuschungsmoment des ‘Als Ob’ in Bezug auf eine Wirklichkeit, die es vorgibt zu sein, aber nicht ist, aufgehoben zugunsten einer ‘Als-Wirklichkeit’, die nur der Schein, die Illusion einer Wirklichkeit ist, also Fiktion.
Es scheint, der Unterschied zwischen Dokumentar-und Spielfilm kann nicht entscheidend auf der Ebene der Fiktion und Nicht-Fiktion analysiert werden, sondern anhand der Strategien, die ein Film einsetzt, um einen fiktionalen oder nicht-fiktionalen Wahrnehmungsmodus zu erzielen. Eine dieser Strategien ist der spezifische Einsatz und die Funktion der Figuren: Über das Verhältnis einer Figur zu ihrem filmischen Kontext verdeutlicht sich die Referentialität eines Filmes und seine Adressierung; Figuren sind Inhaltsträger eines Filmes und verkörpern seinen Erzählmodus; die formale Gestaltung eines Films ist der Präsentation seiner Figuren eingeschrieben - Figuren vermitteln am unmittelbarsten den ‘Schein des Lebens’. Damit steht nicht das Wesen, sondern die Erscheinung eines Filmes durch seine Figuren im Vordergrund.
Roger Odin hat in dem 1998 publizierten Buch ‘Bilder des Wirklichen’ den Aufsatz ‘Dokumentarischer Film-Dokumentarisierende Lektüre’ verfaßt, der der vorliegenden Arbeit als analytischer Leitfaden dienen soll. In Opposition zur fiktivisierenden Lektüre setzt er vier große Produktionsmodi der dokumentarisierenden Lektüre. Das erste Kapitel zeichnet verkürzt Odins theoretische Position nach: Externe Lektüreanweisungen, die sich auf die pragmatische Lektüre und damit das Vorwissen, die Erwartungshaltung der Zuschauer und den Einfluß von Institutionen beziehen, lassen sich durch interne, die textuelle Lektüre betreffende Anweisungen ergänzen und sollen hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine Figurenanalyse hinterfragt werden.
Im zweiten Kapitel finden Odins Lektüreanweisungen anhand Kluges Film Abschied von gestern (Anita G.) ihre Anwendung. Auf der pragmatischen Ebene kommt Kluges theoretischer Verankerung mit Adornos ‘Dialektik der Aufklärung’ und seiner eigenen Filmtheorie Bedeutung zu. Mit diesem ‘künstlich erzeugten’ Vorwissen soll die Rezeption der Figuren beschrieben werden. Die textuelle Lektüre schließt die Figurenanalyse hinsichtlich filmischer Gestaltungsmittel, die die Figuren ‘in Szene’ setzen, ergänzend ab.
Im Schlußwort dieser Arbeit sollen das Analyseverfahren und die damit erzielten Ergebnisse kritisch reflektiert werden.
1. Ein Rettungsversuch: Roger Odins Theorie der dokumentarisierenden Lektüre
Um eine philosophische Bestimmung von Begrifflichkeiten wie ‘Realität’, ‘Imagination’, ‘Wahrheit’ und letztlich den ‘Status des Sehens’, Begrifflichkeiten, deren Definition die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Dargestellten zwangsläufig provoziert, zu vermeiden, entwickelt Roger Odin, Vertreter der Semio-Pragmatik, eine Semiologie der Lektüre, die die Opposition von dokumentarisierender und fiktivisierender[10] Lektüre umfaßt; ein Versuch, die spezifischen Ausdrucksmittel des Filmes aufgrund ihrer Wirkungsweisen zu beschreiben. Odin steht in der geistigen Gefolgschaft von Christian Metz, dessen ‘Semiologie des Films’ das Ziel trug, „den Film als vollständigen Diskurs, als einen integrale Bedeutung tragenden Ort zu untersuchen (=Form und Substanz des Inhalts, Form und Substanz des Ausdrucks)“[11], ihn folglich einer strukturellen Analyse zu unterwerfen, die sich vorwiegend an linguistischen Modellen orientiert.
1.1 Die Grundlage der dokumentarisierenden und fiktivisierenden Lektüre
Die dokumentarisierende Lektüre, die jeden Film als Dokument zu lesen vermag, bezieht sich nicht auf die Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit des Gezeigten, sondern „auf das Bild, das sich der Leser vom Enunziator[12] macht;“[13] sie definiert sich in Absetzung zur fiktivisierenden Lektüre durch die Konstruktion eines ‘realen Ursprungs-Ichs’ durch den Leser, während sich jene eben nicht konsequenterweise durch die Konstruktion eines ‘fiktiven Ursprungs-Ichs’ ableiten läßt, sondern durch die Weigerung der Konstruktion eines ‘Ursprungs-Ichs’ überhaupt. Den Verweis auf die Nähe der fiktivisierenden Lektüre zu Benevistes ‘historischer’ Aussageform, „Niemand spricht hier, die Ereignisse scheinen sich selbst zu erzählen,“[14] oder gar zur Form des Diskurses, in der sich der Sprechende deutlich manifestiert, lehnt Odin ab, beziehen sie sich doch auf die Ebene der Aussageformen und nicht auf das Aussagen selbst: Die Opposition der dokumentarisierenden zur fiktivisierenden Lektüre ist nicht ein Effekt des Textes, „sondern ein Effekt der Positionierung des Lesers gegenüber dem Film (...), d.h. das Resultat einer dem Film externen Operation: einer streng pragmatischen Operation.“[15]
Wer oder was jedoch ist das ‘reale Ursprungs-Ich’?
In der Implikation eines Subjektes, eines Autors etwa, der sich durch Intentionalität auszeichnet, gibt Odin den Term zugunsten eines präzisierteren auf:
„Das einzige Kriterium, das uns zur Charakterisierung dessen geeignet scheint, was sich bei der Durchführung der dokumentarisierenden Lektüre ereignet, ist tatsächlich, daß der Leserdas Bild des Enunziators konstruiert, indem er die Realität dieses Enunziators präsupponiert. Eine solche Spezifizierung der dokumentarisierenden Lektüre gestattet es zu verstehen, warum selbst ein irreales Objekt dem Realitätscharakter der Aussage nicht schadet. (...) Was die dokumentarisierende Lektüre folglich begründet, ist die präsupponierte Realität des Enunziators und nicht die Realität des Dargestellten.“[16]
Trotz des Bewußtseins über Manipulation und Fälschung, Filme wie ‘Nanook’ oder ‘Man of Arran’ werden immer noch als Dokumente gelesen: Die dokumentarisierende Lektüre gestaltet sich folglich aufgrund der Konstruktion eines als real vorausgesetzten Enunziators durch den Leser und nicht durch den Realitätsgehalt der Darstellung.
1.2 Die Anwendung der dokumentarisierenden Lektüre
Die dokumentarisierende Lektüre läßt sich auf unterschiedlichen Ebenen eines Filmes anwenden, unabhängig, ob es sich dabei um einen Spiel-oder Dokumentarfilm handelt. Innerhalb dieses Filmes kann es zu mehreren dokumentarisierenden Lektüren kommen, je nach Konstruktionsmöglichkeit eines realen Enunziators:
1. Kamera als realer Enunziator: Ein Lektüretyp, der alles vor der Kamera als Objekt liest, für den das Kino „in einzigartiger Weise dazu geeignet ist, physische Realität wiederzugeben und zu enthüllen.“[17]
2. Kino als realer Enunziator: Ein Lektüretyp, innerhalb dessen ein Film immer ein Dokument des Films und des Kinos an sich ist.
3. Gesellschaft als realer Enunziator: Ein Lektüretyp, der sich auf historische und soziologische Faktoren stützt.
4. Kameramann als realer Enunziator: Von Reportagefilmen evozierte Lektüre; „das vom Leser Präsupponierte liegt in diesem Fall darin, daß der Kameramann sich an den Orten befand, wo die Ereignisse abliefen.“[18]
5. Regisseur als realer Enunziator: Cinephiler Lektüretyp, der einen Film als Dokument über seinen ‘Autor’ begreift.
6. Verantwortlicher des vom Film geführten Diskurses als realer Enunziator: Lektüretyp, der sich auf einen ‘Diskursverantwortlichen’ (Forscher, Lehrender, Spezialist, Berufsfilmer, Regisseur etc.) bezieht.
Die Konstruktionsmöglichkeiten eines realen Enunziators lassen sich beliebig weiterführen. Zu ergänzen ist, daß sich die dokumentarisierende Lektüre auf der temporären Achse nicht auf den vollständigen Film, sondern zunächst auf ein Filmfragment beziehen kann. Auf der Achse des Simultanen erfasst sie eine oder mehrere Schichten des Films, „deswegen kann die gleiche dokumentarisierende Bewegung in einem die Gesellschaft, den Kameramann, den Regisseur und den Verantwortlichen für den Diskurs des Films als realen Enunziator annehmen.“[19]
1.3 Die Produktionsmodi der dokumentarisierenden Lektüre
Wer oder was jedoch produziert die dokumentarisierende Lektüre?
Odin unterscheidet in seinem Aufsatz filmextern zwei Produktionsebenen: Die individuelle und institutionelle Produktion.
Innerhalb der individuellen Produktion besitzt der Film das Potential, eine dokumentarisierende Lektüre auf gewissen Ebenen zu verhindern: Das Anführen von Schauspielern im Vorspann z.B. unterbindet die Konstruktion der Figuren als reale Enunziatoren. Diese Macht des Filmes jedoch ist begrenzt, funktioniert doch nach Odin in jedem Fall die Konstruktion von Kamera und/oder Kino als reale Enunziatoren.
Auch Institutionen (pädagogische, historische, soziologische, Kino als Institution etc.) können die dokumentarisierende Lektüre von Filmen programmieren: “Die Quasitotalität festgelegter Lektüren verweist auf eine Anweisung institutionellen Typs (...), die fiktivisierende Lektüre ist somit das Ergebnis der Anwendung der Anweisung der herrschenden kinematographischen Institution.“[20]
Die aufgeführten filmexternen Produktionsmodi lassen sich durch weitere filminterne ergänzen: Der Vorspann als Anweisung und textuelle Anweisungen eines Films sind hierbei von zentraler Bedeutung; enthält ein Film diese Anweisungen zur dokumentarisierenden Lektüre, läßt er sich unter der Kategorie ‘dokumentarisches Ensemble’[21] subsumieren.
Wie sehen die durch den Vorspann transportierten Anweisungen aus?
Form und Inhalt eines Filmtitels (‘Unser Planet Erde’), offene Genrebezeichnung im Subtitel (‘Eine Reportage von...’), Verweise auf dokumentarorientierte Produktionsgesellschaften (‘Eine Produktion von...’) markieren Anweisungen für einen dokumentarisierten Lektüretypus. Verinnerlichte Wahrnehmungsmuster, die ihre Prägung anhand fiktionaler Filme erfuhren, verstehen das Fehlen von Schauspielernamen im Vorspann als Zeichen zur Ankündigung eines Dokumentarfilms; ebenso weist das Fehlen eines Vorspannes überhaupt auf einen „schwachen Ausarbeitungsgrad des vorgelegten filmischen Textes,“[22] zeugt damit weniger vom Werkcharakter eines Filmes, als von seiner Dokumenthaftigkeit; eine Figur, deren sich der medizinische und ethnographische Film bedingt bedienen und die nicht selten mit der tatsächlichen Präsenz des ‘Regisseurs’ während der Projektion einhergeht.
Wie sehen die am filmischen Text evozierten Anweisungen aus?
Die Struktur der Figuren, die Odin als spezifisch stilistische Figuren des Dokumentarfilms entlarvt und die für die Produktion einer dokumentarisierten Lektüre wahrscheinlich sind, findet ihre Wesensberechtigung in folgendem Zitat:
„Eine Tatsache ist sicher:’Ein Zuschauer, der mit geschlossenen Augen in einen Saal eintreten und dem man einen Film vorführen würde, von dem er niemals reden gehört hat, weiß nach einigen Minuten sofort, ob es sich um einen fiktionalen Film oder um einen Dokumentarfilm handelt’, und das selbst dann, wenn er den Vorspann nicht gesehen hat. Es existieren folglich spezifisch stilistische Figuren des Dokumentarfilms.“[23]
Im Zentrum der Kurzanalyse, die Odin innerhalb seines Aufsatzes vornimmt, steht der Hinweis auf die Verkettung, die Kombinatorik, die Struktur dieser Figuren und nicht die Beschreibung einzelner Figuren an sich; die Analyse bezieht sich auf das stilistische System zweier dokumentarischer Subensembles:[24] das des pädagogischen Films und das des Reportagefilms.
Zu den wesentlichen Figuren des prototypischen pädagogischen Films zählt z.B. die Wissensverkörperung durch einen auf der Leinwand erscheinenden Spezialisten, die direkte Anrede der Leser oder eines Interviewers durch diesen und filmumfassend eine diskursstrukturierte Darstellung in Anwendung erklärender Kommentare, Graphiken, Schemata.
Das stilistische System des Reportagefilms zeichnet sich auf der Ebene des Bildes handkamerabedingt vor allem durch verschwommene, verwackelte Bilder, grobkörniges Bildmaterial, abrupte Zooms, lange Plansequenzen einerseits und harte Schnitte im Szenenablauf andererseits, mangelhafte Ausleuchtung etc., kurz, durch den Charakter des Provisorischen, Spontanen aus. Auf der Tonebene erfolgt eine Ergänzung durch den Gebrauch resonanzarmen Direkttons, meist mit geräuschvollem Hintergrund, und den Einsatz linguistischer Strukturen der ‘lebendigen’, ‘natürlichen’ Rede. Auch das Verhalten der gefilmten Personen wirkt ‘lebendig’; oft kommt es zur Adressierung und direkten Ansprache des Kameramannes. Stilmerkmale, die auch in jenen fiktionalen Filmen wiederzufinden sind, die sich des Reportageeffektes bedienen und die Kamera als realen Enunziator konstruieren wollen.
[...]
[1] G. Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 197
[2] Nach der Produktion einiger Kurzfilme ist Abschied von gestern (Anita G.) Kluges erster langer Film, der überaus erfolgreich rezipiert wurde: Er gewann acht Preise in Cannes, den Sonderpreis in Venedig und den Bundesfilmpreis.
[3] R. Stollmann, Alexander Kluge, S. 66 f.
[4] vgl. E. Hohenberger (Hrsg.), Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms
[5] E. Hohenberger, Wirklichkeit des Films, S. 331
[6] E. Hohenberger, Bilder des Wirklichen, S.22
[7] ebd.
[8] Im Konstruktionscharakter eines Filmes offenbart sich dessen Fiktionalität. Eine Position, die sich auch auf Verschriftlichtes beziehen sollte, stellt sie doch den herkömmlichen Wissenschaftsbegriff in Frage.
[9] K. Hamburger, Logik und Dichtung, S. 55
[10] Für Odin nicht zu verwechseln mit fiktionalisierender Lektüre, die die fiktivisierende Lektüre einschließt.
[11] C. Metz, Sprache und Film, S. 21
[12] Enunziator ist hier im Sinne einer Äußerungsinstanz zu verstehen, das, „was als Ausgangspunkt der filmischen Kommunikation angenommen wird,“ R. Odin, Dokumentarischer Film, S. 287
[13] ebd.
[14] R. Odin zitiert Beneviste, ebd., S. 288
[15] ebd., S. 289
[16] R. Odin, Dokumentarische Lektüre, S. 291
[17] R. Odin zitiert S. Kracauer, ebd., S. 292
[18] ebd.
[19] ebd., S. 293
[20] R. Odin, Dokumentarischer Film, S. 294
[21] Odin hält den Begriff des dokumentarischen Genres (ethnographische Filme, Industriefilme, Lehrfilme, wissenschaftliche Filme etc.) innerhalb der vorgenommenen Unterscheidung für unangebracht.
[22] R. Odin, Dokumentarischer Film, S. 296
[23] R. Odin zitiert P. Zagaglia, ebd.
[24] Odin verweist auf die Begriffsbestimmung von Subensemble und dokumentarischem Genre: Während sich jenes durch die Beschreibung stilistischer Systeme definiert, formt sich dieses durch inhaltliche und/oder pragmatische Zuschreibung. So umfaßt das Subensemble des Reportagefilms unterschiedliche dokumentarische Genres: Ethnographische Filme, Wochenschauen, Kriegsreportagen etc.. Kategorisierungen entscheiden sich bei inhaltlicher Übereinstimmung auf der pragmatischen Ebene: Die Genrespezifik der Wochenschau in Absetzung zur Subensemblezugehörigkeit einer Reportage bezieht sich einzig auf die pragmatische Bedingung der Aktualität der Ereignisse, die im Extremfall den Ablauf einer Woche umfassen kann.
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- Jasmin Hermann (Author), 2000, Über: "Abschied von gestern (A. Kluge)" - Eine semio-pragmatische Lektüre nach Roger Odin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24169
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