Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise ist auch heute, 225 Jahre nach seiner Fertigstellung, noch immer eines der meistgespielten deutschen Dramen. Der Nathan wird in der gegenwärtigen Forschungsliteratur immer neu interpretiert, auf den Bühnen neu inszeniert und ist nicht zuletzt auch fester Bestandteil des Deutschunterrichts an Schulen. Oft vernachlässigt wird dabei die Tatsache, dass Lessing schon dreißig Jahre vor seinem letzen dramatischen Werk mit dem Einakter Die Juden eine Komödie verfasste, die eine sehr ähnliche Thematik behandelt. Zwar stellen Die Juden einen formalen Kontrast zum Nathan dar, doch wird der Einakter in der Lessing-Forschung als dessen Vorläufer, ja sogar als „Meilenstein auf dem Weg zum Nathan“ 1 bezeichnet. Doch trotz der inhaltlichen Verknüpfung ist Lessings frühe Komödie größtenteils in Vergessenheit geraten und wird aufgrund seines simplen dramatischen Aufbaus bestenfalls als originelles Experiment 2 angesehen, welches weder in Form noch Inhalt an das Spätwerk heranreicht. Diese Arbeit soll die u nterschiedliche Bearbeitung der Problematik der sozialen und religiösen Intoleranz im interkonfessionellen Miteinander betrachten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Juden und des Nathan aufzeigen. Zu diesem Zweck werden nach einer kurzen Inhaltsangabe der Werke jeweils die Hauptcharaktere untersucht. Daran anschließend soll der Versuch einer literaturgeschichtlichen Einordnung anhand ausgewählter Vertreter der Dramenliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts unternommen und die unerlässliche Analyse der Lessingschen Gattungstheorie geführt werden.
Darauf aufbauend soll die Frage geklärt werden, ob die Juden nur unbeholfene „poetische Übungen“ 3 eines jungen Schriftstellers sind, die wenig Beachtung fanden und finden, und erst der Nathan die eigentlich dramenästhetische und thematische Revolution darstellte. Mit dem Fokus auf der Rezeption von Lessings Zeitgenossen und der Nachwelt wird untersucht, welche Wirkung die Dramen erzielen konnten und ob diese mit der von Lessing angestrebten übereinstimmt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Inhaltsangaben
2.1. Die Juden
2.2. Nathan der Weise
3. Die Personen
3.1. Die Juden
3.1.1. Der Reisende
3.1.2. Der Baron
3.1.3. Das Fräulein
3.2. Nathan der Weise
3.2.1. Nathan
3.2.2. Saladin
3.2.3. Recha
3.2.4. Der Tempelherr
4. Lessing und die dramenästhetischen Einflüsse seiner Zeit
4.1. Die Komödie im 18. Jahrhundert und die Sonderstellung von Lessings
Die Juden
4.1.1. Die sächsische Typenkomödie und das rührende Lustspiel
4.1.2. Die Komödientheorie Lessings
4.1.3. Die Juden – mehr als nur ein „harmloses Jugendlustspiel“
4.2. Nathan im Zuge der Tragödienentwicklung
4.2.1. Aristoteles als Grundlage der Tragödientheorie
4.2.2. Lessing und die tragédie française
4.2.3. Die Tragödientheorie Lessings und ihre Umsetzung im Nathan
5. Die Juden und Nathan der Weise - Werke mit ähnlicher Intention, doch unterschiedlicher Wirkung
5.1. Die Juden und Nathan der Weise im Vergleich
5.2. Lessings Lehrstücke in der Rezeption von Mit- und Nachwelt
6. Schlussbemerkung
Bibliographie
1. Einleitung
Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise ist auch heute, 225 Jahre nach seiner Fertigstellung, noch immer eines der meistgespielten deutschen Dramen. Der Nathan wird in der gegenwärtigen Forschungsliteratur immer neu interpretiert, auf den Bühnen neu inszeniert und ist nicht zuletzt auch fester Bestandteil des Deutschunterrichts an Schulen.
Oft vernachlässigt wird dabei die Tatsache, dass Lessing schon dreißig Jahre vor seinem letzen dramatischen Werk mit dem Einakter Die Juden eine Komödie verfasste, die eine sehr ähnliche Thematik behandelt. Zwar stellen Die Juden einen formalen Kontrast zum Nathan dar, doch wird der Einakter in der Lessing-Forschung als dessen Vorläufer, ja sogar als „Meilenstein auf dem Weg zum Nathan“[1] bezeichnet. Doch trotz der inhaltlichen Verknüpfung ist Lessings frühe Komödie größtenteils in Vergessenheit geraten und wird aufgrund seines simplen dramatischen Aufbaus bestenfalls als originelles Experiment[2] angesehen, welches weder in Form noch Inhalt an das Spätwerk heranreicht.
Diese Arbeit soll die unterschiedliche Bearbeitung der Problematik der sozialen und religiösen Intoleranz im interkonfessionellen Miteinander betrachten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Juden und des Nathan aufzeigen.
Zu diesem Zweck werden nach einer kurzen Inhaltsangabe der Werke jeweils die Hauptcharaktere untersucht. Daran anschließend soll der Versuch einer literaturgeschicht-lichen Einordnung anhand ausgewählter Vertreter der Dramenliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts unternommen und die unerlässliche Analyse der Lessingschen Gattungstheorie geführt werden.
Darauf aufbauend soll die Frage geklärt werden, ob die Juden nur unbeholfene „poetische Übungen“[3] eines jungen Schriftstellers sind, die wenig Beachtung fanden und finden, und erst der Nathan die eigentlich dramenästhetische und thematische Revolution darstellte. Mit dem Fokus auf der Rezeption von Lessings Zeitgenossen und der Nachwelt wird untersucht, welche Wirkung die Dramen erzielen konnten und ob diese mit der von Lessing angestrebten übereinstimmt.
Die Arbeit beschränkt sich auf die Auseinandersetzung mit den Werken Die Juden und Nathan der Weise. Andere dramatische Arbeiten, wenngleich Zeugnisse der Entwicklung vom Früh- zum Spätwerk, werden weitestgehend vernachlässigt, da eine sorgfältige und den Dramen gerecht werdende Analyse im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.
2. Inhaltsangaben
2.1. Die Juden
Zu Beginn des Einakters unterhalten sich der Vogt Martin Krumm und der Schulze Michel Stich über einen Anschlag, den sie auf ihren Herren, den Baron, verübt haben. Die Verbrecher erzählen, dass ein fremder Reisender den Anschlag vereitelt habe und sie so ihr Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnten. Als der Reisende, den der Baron zum Dank auf sein Landgut eingeladen hat, sich nähert, äußert Krumm ihm gegenüber, dass der Anschlag das Werk von Juden gewesen sein müsse. Mehrfach verrät der Vogt sich beinahe selbst. Trotz der Wachsamkeit des Reisenden gelingt es ihm, diesem eine silberne Tabakdose zu entwenden.
Der Fremde will das Gut des Barons möglichst bald verlassen und drängt seinen Diener Christoph zum raschen Aufbruch. Die Tochter des Barons, ein junges Fräulein, und ihr Vater bestehen darauf, dass der Reisende für einige Zeit bei ihnen bleibt, obwohl sie weder seinen Namen noch Beruf oder Herkunft kennen. Schließlich willigt der Unbekannte ein und macht einen Spaziergang mit dem Fräulein.
Unterdessen beauftragt der neugierig gewordene Baron Lisette, die Dienerin seiner Tochter, damit, Christoph über den Fremden auszuhorchen. Diese macht sich umgehend auf, um den Diener des Reisenden zu befragen. Der gesteht ihr zwar schnell seine Liebe, über seinen Herrn äußert er sich jedoch nicht. Auch der Vogt Krumm will mit Lisette anbandeln, die ihm im Gespräch die gestohlene Tabakdose abschwatzt. Einmal mehr nutzt die listige Lisette das Interesse Christoph an ihrer Person, um an Informationen über den Fremden zu kommen. Da Christoph selbst nichts über seinen Herrn weiß, erfindet er die Geschichte eines holländischen Adligen, der nach einem Duell auf der Flucht ist. Als Zeichen ihrer Verbundenheit schenkt Lisette Christoph die Tabakdose.
Mittlerweile hat der Reisende das Verschwinden seiner Dose bemerkt und verdächtigt Krumm, sie gestohlen zu haben. Als er den Vogt trifft, spricht er ihn auf die verschwundene Dose an. Krumm leugnet zwar, aber in der Hektik fällt ihm ein falscher Bart, den er bei dem Überfall auf den Baron getragen hat, aus der Tasche. Der Reisende nimmt den Bart an sich, zeigt ihn dem Baron und äußert seine Vermutung, dass der Vogt an dem Anschlag beteiligt gewesen sei und ihm zudem die Tabakdose entwendet habe.
Als der Reisende die Dose bei seinem Diener Christoph entdeckt, glaubt er, den Falschen beschuldigt zu haben. In einem Gespräch mit Lisette klärt sich jedoch alles auf, und der Baron berichtet, dass Krumm seine Verbrechen gestanden habe. Aus Dankbarkeit für die erneute Hilfe des Reisenden bietet der Baron ihm die Hand seiner Tochter sowie sein Vermögen an. Doch der Fremde gibt sich als Jude zu erkennen und macht damit eine solche Verbindung unmöglich. Statt der angebotenen finanziellen Belohnung bittet der Reisende den Baron um mehr Toleranz den Juden gegenüber.
Sein Diener Christoph beschimpft seinen Herrn, als er von dessen Religionszugehörigkeit erfährt. Nachdem dieser ihm jedoch die silberne Tabakdose schenkt, will er bei ihm bleiben. Im letzten Auftritt verlässt Christoph schwatzend und Arm in Arm mit Lisette die Bühne.
2. 2. Nathan der Weise
Das dramatische Gedicht Nathan der Weise erzählt in fünf Akten die Geschichte eines reichen jüdischen Kaufmannes, Nathan, der innerhalb des Stückes vor familiäre und wirtschaftliche Probleme gestellt wird.
Als Nathan eines Tages von einer seiner zahlreichen Handelsreisen zurückkehrt, erzählt ihm seine Gesellschafterin Daja, dass in seiner Abwesenheit im Hause Nathans Feuer ausgebrochen sei. Ein Tempelherr sei zufällig erschienen und habe die im Hause eingeschlossene Tochter Nathans, Recha, gerettet. Diese ist, wie man dem Gespräch entnehmen kann, nicht Nathans leibliche Tochter, sondern eine von ihm adoptierte Christin.
Nathan will sich bei dem Tempelherren bedanken, der weist ihn jedoch zurück und lehnt jeden Dank sowie den Kontakt zu dem Juden ab.
Später begegnet Nathan Al Hafi, seinem alten Freund, der zu Nathans Erstaunen inzwischen zum Schatzmeister des Sultans Saladin geworden ist. Im Gespräch beider wird klar, dass die Staatskassen leer sind.
Deshalb schlägt die Schwester des Sultans, Sittah, diesem vor, Al Hafi vorzuschicken, um sich beim wohlhabenden Nathan Geld zu leihen.
Unterdessen spricht Nathan mit dem Tempelherren, der sich als Curd von Stauffen vorstellt. Nach anfänglichem Zögern äußert der Christ seine Zuneigung zu Recha, die er jedoch nicht zu sehr habe zeigen können, da diese ja – wie er annimmt – Jüdin sei. Doch er äußert seine Absicht, sie noch an diesem Tage zu besuchen. Plötzlich taucht Daja auf und bestellt Nathan zum Sultan. Während dieses Gespräches erwachen bei Nathan Erinnerungen an seinen alten Freund Wolf von Filnek, der dem Tempelherren in Statur, Gang und Stimme sehr ähnelt.
Die Begegnung zwischen Recha und Curd ist geprägt von gegenseitiger Zuneigung, endet aber sehr plötzlich, als sich Curd mit der Ausrede, noch mit Nathan verabredet zu sein verabschiedet.
Inzwischen haben der Sultan Saladin und seine Schwester Sittah sich dazu entschlossen, sich von Nathan Geld zu leihen. Als dieser daraufhin beim Sultan erscheint, beginnt ein Gespräch über die Wahrhaftigkeit des Judentums, des Christentums und des Islam. Der Sultan möchte von Nathan wissen, welche dieser Religionen denn die einzige und somit richtige sei.
Daraufhin erzählt der Jude ein Märchen von einem König, der seinen Söhnen Plagiate eines sehr wichtigen Rings aushändigt, ihnen aber nicht sagt, dass diese Fälschungen sind. Als später der wahre Herrscher anhand des richtigen Ringes herausgefunden werden soll, ist dieses unmöglich, denn keiner weiß die Ringe zu unterscheiden. Nathan betont, dass es sich mit den Religionen ähnlich verhalte und erntet dafür die Bewunderung des Sultans. Danach bietet der Kaufmann diesem freiwillig Geld an, um seine Dankbarkeit auszudrücken, denn Saladin hatte den Tempelherrn, der Nathans Tochter rettete, vom Tode verschont, weil dieser dem verstorbenen Bruder Saladins, Assad, sehr ähnlich sah.
Nathan wird losgeschickt, um den Tempelherren zu Sittah zu bringen, damit auch sie sich von dessen Ähnlichkeit überzeugen kann. Er findet Stauffen, der um Rechas Hand anhält. Doch er wird vertröstet, Nathan verschwindet und will ihm später abholen, um mit ihm zu Saladin zu gehen. Kurz darauf erscheint Daja und erzählt Curd, dass Recha keine Jüdin ist, sondern lediglich ein adoptiertes Christenmädchen, woraufhin Curd sich voller Unverständnis für Nathans Verhalten an den Patriarchen Jerusalems wendet. Dieser weiß nicht, dass es sich bei dem vom Tempelherren erzählten Fall um die Familie Nathans handelt und verkündet, dass dieser Jude zum Tode verurteilt werden sollte.
Später, im Haus des Sultans, sprechen Sittah und Saladin über die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Tempelherren und ihrem verschollenen Bruder Assad, die beide vorher anhand eines Gemäldes zu erkennen glauben. Sittah äußert die Vermutung, dass Curd aus einer Verbindung Assads mit einer Christin entstand. Außerdem will Sittah Recha in ihr Haus holen, da von Stauffen verriet, dass sie nicht Nathans leibliche Tochter ist.
Unterdessen schickt der Patriarch auf der Suche nach dem „Verbrecher“ einen Klosterbruder aus, der kurz darauf bei Nathan auftaucht. Er gesteht, dass er selbst es war, der vor 18 Jahren ein kleines Mädchen im Auftrag seines damaligen Herren, Wolf von Filnek, zum Juden brachte. Des Weiteren berichtet er, dass Wolf ein Buch besaß, in dem seine Familienverhältnisse niedergeschrieben waren.
Mit Hilfe dieses Buches gelingt Nathan die finale Auflösung: Vor dem Haus des Sultans treffen sich Saladin und Sittah, Curd, Recha und Nathan. Nachdem Saladin überraschend Nathans Geld zurückgibt, hält Curd erneut um Rechas Hand an, Nathan greift aber ein und deckt auf, dass der Tempelherr in Wirklichkeit Leu von Filnek ist, Bruder von Recha. Sichtlich enttäuscht weicht er zurück, da er in seiner Geliebten nun seine Schwester erkennt, wird aber von Saladin besänftigt und beruhigt sich. Zum Schluss zeigt Nathan Saladin und Sittah das Buch Filneks, in dem sie sofort die Handschrift ihres Bruders Assad erkennen, der also der Vater Leus ist. Schließlich umarmen sich die neugewonnen Verwandten in familiärer Vertrautheit.
3. Die Personen
3.1. Die Juden
3.1.1. Der Reisende
Durch das gesamte Werk hindurch ist die Hauptfigur nur als „der Reisende“ bekannt. Niemand kennt seinen Namen, auch er selbst nennt ihn nie. Nicht einmal sein Bediensteter Christoph weiß mehr über seinen Herren: „Man fragte mich nach Ihrem Namen, Stande, Vaterlande, Verrichtungen; ich ließ mich nicht lange bitten, ich sagte alles, was ich davon wusste; das ist: ich sagte, ich wüsste nichts.“[4] Seine Zugehörigkeit zum Judentum verschweigt er bis zum 22. Auftritt, vorher fürchtet er nur: „Werde ich denn nicht alsbald genötiget sein, mich zu entdecken?“[5]
Seine finanzielle Situation ist offenkundig gesichert, so hat er Christoph in Diensten und reist mit viel Gepäck, besitzt eine teure silberne Tabakdose und eine wertvolle Uhr. Als der Baron ihm sein Vermögen anbietet, lehnt der Reisende ab: „Auch dieses Anbieten ist bei mir umsonst, da mir der Gott meiner Väter mehr gegeben hat, als ich brauche.“[6]
Der Reisende ist ein gebildeter Mann, der sogar auf seinen Reisen zahlreiche Bücher mit sich führt, die Christoph als die „Reisebibliothek“[7] seines Herrn bezeichnet. Die Umgangsformen des Reisenden sind sehr gut, er ist kultiviert und höflich. Im Gespräch mit dem Fräulein weiß er sich angemessen und gewandt zu unterhalten:
DAS FRÄUL. Warum verlassen sie uns, mein Herr? […] Ich suche aller Welt zu gefallen, und Ihnen möchte ich, vor allen anderen, nicht gern missfallen.
DER REIS. Verzeihen Sie, mein Fräulein. Ich habe nur meinem Bedienten befehlen wollen, alles zur Abreise fertig zu halten.
DAS FRÄUL. Wovon reden Sie? Von Ihrer Abreise? […] das ist zu arg. Ich sage Ihnen, ich werde böse, wenn Sie noch einmal daran gedenken.
DER REIS. Sie könnten mir nichts Empfindlicheres drohen.
DAS FRÄUL. Nein? Im Ernst? Ist es wahr, würden Sie empfindlich sein, wenn ich böse auf Sie würde?
DER REIS. Wem sollte der Zorn eines liebenswürdigen Frauenzimmers gleichgültig sein können?[8]
Er ist der einzige, der die Machenschaften des Martin Krumm durchschaut, doch hält er sich mit einem vorschnellen Urteil zurück. Sein Gerechtigkeitsempfinden bewegt ihn dazu, in seiner „Vermutung behutsam [zu] gehen“[9], denn „wie leid würde es [ihm] sein, wenn [er] ihm Unrecht täte“.[10] Der Verdacht, Krumm wegen Christoph möglicherweise fälschlich eines Diebstahls bezichtigt zu haben, macht ihn wütend: „Eure Treulosigkeit ärgert mich nicht so sehr, als der übereilte Verdacht, den ich deswegen einem ehrlichen Mann zugezogen habe.“[11]
Für die Hilfe, die er dem Baron während des Überfalls geleistet hat, will er keine Belohnung annehmen, denn sein Handeln scheint ihm selbstverständlich: „Das Vergnügen, einem Unbekannten ohne Absicht geholfen zu haben, ist schon vor sich so groß!“[12] Trotz der gesellschaftlichen Distanz zwischen dem Baron und sich und dem daraus resultierenden Verhalten des Barons schätzt der Jude ihn und seine Freundschaft: „Ich [bin] genugsam durch Ihre Freundschaft belohnt. […] Und die Freundschaft eines Menschen, er sei wer er wolle, ist mir allezeit unschätzbar gewesen.“[13]
Wegen seines selbstlosen Verhaltens attestiert ihm der Baron sogleich ausgeprägte „Menschenliebe“[14], die sich auch in der Tatsache bestätigt findet, dass der Reisende seinen Diener Christoph in Hamburg aus widrigen Umständen heraus aufgenommen hat. Obwohl Christoph in aufgrund seiner Religionszugehörigkeit beschimpft und erniedrigt, behält der Reisende ihn in seinen Diensten.
Die Toleranz, die er anderen Personen gegenüber zeigt, wünscht er sich auch von den anderen Beteiligten, besonders von dem Baron. Das einzige, was er als Dank von dem Adligen fordert, ist eine weniger feindliche Gesinnung dem jüdischen Volk gegenüber, und das Ablegen pauschaler Einschätzungen: „Zu aller Vergeltung bitte ich nichts, als dass Sie künftig von meinem Volke etwas gelinder und weniger allgemein urteilen.“[15]
3.1.2. Der Baron
Wie der Name des Reisenden ist auch der des Barons unbekannt. Er ist ein Landadliger, der mit seiner Tochter ein ruhiges Leben führt. Mit nachsichtiger Güte erzieht er sie und ist sehr erfreut über die Zuneigung des Mädchens zu dem Reisenden. Eine kindliche Neugier zeichnet ihn aus, wenn es darum geht, mehr über den Fremden zu erfahren. So überlegt er lange, ob er seinen Retter direkt nach Herkunft und Beruf fragen soll, entschließt sich dann aber doch, Lisette mit den Nachforschungen zu betrauen. Offenbar ist sein Freundeskreis klein, denn er sucht sofort die Freundschaft des gebildeten Fremden:
DER BARON Was könnte mir angenehmer sein, als dass ich sehe, wie unsre Gedanken und Urteile so sehr übereinstimmen? O! Dass ich nicht schon längst einen Freund Ihresgleichen habe!
DER REIS. Sie werden ungerecht gegen Ihre übrigen Freunde.
DER BARON Gegen meine übrigen Freunde, sagen Sie? Ich bin funfzig Jahre alt; -- Bekannte habe ich gehabt, aber noch keinen Freund. Und niemals ist mir die Freundschaft so reizend vorgekommen, als seit den wenigen Stunden, da ich nach der Ihrigen strebe. [16]
Doch liegt der Schluss nahe, dass der Baron Freundschaft mit Dankbarkeit verwechselt, denn er gründet seinen Wunsch nach Freundschaft allein auf die Tatsache, dass der Reisende ihn aus der misslichen Lage des Überfalls befreit hat: „O, mein Herr, die Freundschaft eines Wohltäters--“[17]
Die Gedanken des Adligen sind einfach ( Dunkle bezeichnet ihn gar als „simpleton“[18] ), er sieht nicht hinter die Fassaden von Menschen und Begebenheiten, und erkennt in seiner Naivität weder das Intrigenspiel seines Vogts Krumm noch die deutlichen Hinweise des Reisenden:
DER REIS. Sollten Sie nicht glauben, ich wäre gestern mit den jüdischen Straßenräubern ins Handgemenge gekommen, dass ich einem davon den Bart ausgerissen hätte?
(Er zeigt ihm den Bart)
DER BARON Wie verstehen sie das, mein Herr?
[…]
DER REIS. Allein, betrachten Sie doch einmal diesen ansehnlichen Bart!
DER BARON Sie haben ihn mir schon einmal gezeigt. Warum?
DER REIS. […] Ich glaube – Doch nein, ich will meine Vermutungen zurückhalten. […]
DER BARON Ihre Vermutungen? Erklären Sie sich!
DER REIS. Was halten Sie von Ihrem Vogt?
DER BARON Nein, nein; wir wollen das Gespräch auf nichts anderes lenken […][19]
Das lächerliche Nicht-Verstehen des Barons durchzieht die meisten seiner Wortbeiträge. Das zeigt sich auch in seinen unüberlegten Vorurteilen, die er vehement vertritt. In der festen Überzeugung, dass Juden den Anschlag auf ihn begangen haben, meint er, die jüdische Verschlagenheit schon an der Gesichtsform zu erkennen: „ Und ist es nicht wahr, ihre Gesichtsbildung hat etwas, das uns wider sie einnimmt? Das Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid, sollte man sehr deutlich aus ihren Augen zu lesen glauben.“[20] Wie lächerlich wirkt da seine weitere Einschätzung des Reisenden: „Ohne ein Kenner der Physiognomie zu sein, muss ich Ihnen sagen, dass ich nie eine so aufrichtige, großmütige und gefällige Miene sah wie die Ihre.“[21]
Aus Dankbarkeit will er dem Reisenden die Hand seiner Tochter und sein gesamtes Vermögen überlassen, und er zeigt sich anders als in der Religionsfrage sehr tolerant:
DER BARON Mein Vermögen ist meinem Stande, und dieser dem Ihrigen gleich. […] Wollte der Himmel, dass das nicht einmal wären, wofür [Christoph] Sie ausgibt! Wollte der Himmel, Ihr Stand wäre geringer, als der meinige! So würde doch meine Vergeltung etwas kostbarer, und Sie würden vielleicht weniger ungeneiget sein, meine Bitte statthaft zu finden. [22]
Eine Vermählung seiner Tochter unter Stand schließt der Baron also unter den gegebenen Umständen nicht aus. Doch käme für ihn auch ein Hinwegsetzen über die Standesschranken in Frage, die Religionszugehörigkeit des Reisenden stellt eine unüberwindbare Hürde dar: „Ein Jude? Grausamer Zufall! […] So gibt es denn Fälle, wo uns der Himmel selbst verhindert dankbar zu sein?“[23]
So sehr er sich seines Verhaltens gegenüber dem Reisenden auch schämt, eine universell gültige Lehre zieht er daraus nicht. Seinen jüdischer Retter sieht er als Ausnahme, die die Regel bestätigt: „O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!“[24]
3.1.3. Das Fräulein
Die Tochter des Barons wird augenscheinlich allein von ihrem Vater, der ihr viele Freiheiten lässt, auf dem Land erzogen. Von der Existenz der Mutter wird während des gesamten Stücks nichts gesprochen. Kontakt zu Freundinnen scheint kaum zu bestehen. Die einzige weibliche Vertraute ist ihre Dienerin Lisette. Doch ist dem Fräulein eine unbekümmerte, natürliche Art zueigen, die zuweilen ins Ungestüme übergeht:
DER REIS. […] Sie bezaubert durch ihre munteren Reden, in welchen die liebenswürdigste Unschuld, der ungekünsteltste Witz herrschet.
DER BARON […] Sie ist wenig unter ihresgleichen gewesen, uns besitzt die Kunst zu gefallen, die man schwerlich auf dem Lande erlernen kann, in einem sehr geringen Grade. Es ist alles bei ihr noch die sich selbst gelassene Natur.[25]
Das „wilde Ding“[26], das ohnehin „gern um Mannspersonen“[27] ist, hat ein herzliches
Verhältnis zu ihrem Vater, den es mit seiner offenen, natürlichen Art stets schnell besänftigen kann und nie Gefahr läuft, ernsthaft von ihm gerügt oder gar bestraft zu werden. Doch sie möchte – zumindest in Gegenwart des Reisenden – von ihrem Vater als Erwachsene behandelt werden und macht ihm dies deutlich: „Kind? – Papa! – beschämen Sie mich doch nicht so! –
Der Herr wird denken, wie jung ich bin!“[28]
An dem charmanten Fremden hat sie schnell Interesse entwickelt, und so ist sie bemüht, mit dem Reisenden ohne die Aufsicht ihres Vaters Zeit zu verbringen:
DAS FRÄUL. […] Kommen Sie, ich will Ihnen unseren Garten zeigen; er wird Ihnen gefallen.
[…]
Kommen Sie nur; -- unterdessen wird es Essenszeit. Papa, Sie erlauben es doch?
DER BARON Ich werde euch sogar begleiten.
DAS FRÄUL. Nein, nein, das wollen wir Ihnen nicht zumuten. Sie werden zu tun haben.
DER BARON Ich habe jetzt nichts Wichtigeres zu tun, als meinen Gast zu vergnügen.
DAS FRÄUL. Er wird es Ihnen nicht übel nehmen: nicht wahr, mein Herr? (Sachte zu ihm) Sprechen Sie doch Nein. Ich möchte gern mit Ihnen allein gehen.[29]
[...]
[1] Grosse, Wilhelm: Nachwort zu „Die Juden“. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge verfertiget im Jahr 1749. Mit Anmerkungen und Materialien herausgegeben von Wilhelm Grosse. Stuttgart: Reclam 2002. S. 87.
[2] Dunkle, Harvey: Lessing’s “Die Juden“. An Original Experiment. In: Monatshefte 49 (1957). S. 323.
[3] Rilla, Paul: Lessing und sein Zeitalter. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1981. S. 22.
[4] Lessing, Gotthold Ephraim: Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge verfertiget im Jahr 1749. Mit Anmer-kungen und Materialien herausgegeben von Wilhelm Grosse. Stuttgart: Reclam 2002. S. 39.
[5] ebenda
[6] Die Juden 44.
[7] Die Juden 23.
[8] Die Juden 13.
[9] Die Juden 36.
[10] Die Juden 34.
[11] Die Juden 40.
[12] Die Juden 12.
[13] Die Juden 15/44.
[14] Die Juden 42.
[15] Die Juden 44.
[16] Die Juden 14/15.
[17] ebenda
[18] Dunkle 326.
[19] Die Juden 36/37.
[20] Die Juden 17.
[21] ebenda
[22] Die Juden 43.
[23] Die Juden 44.
[24] Die Juden 45.
[25] Die Juden 14.
[26] ebenda
[27] ebenda
[28] Die Juden 20.
[29] ebenda
- Arbeit zitieren
- Jasmin Ostermeyer (Autor:in), 2004, Lessings "Die Juden" und "Nathan der Weise" - Auflösung der traditionellen literarischen Gattungen zugunsten eines aufklärerischen Erziehungsmodells, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24119
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