Dieses Buch behandelt die besondere Situation von Familien mit einem Kind mit Behinderung. Es zeigt die Veränderungen und Auswirkungen auf, die die Geburt eines behinderten Kindes für die Familie mit sich bringt und gibt einen Einblick in den Prozess der Auseinandersetzung mit dieser Situation. Dabei wird gesondert auf die verschiedenen Familienmitglieder eingegangen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Die Familie
1.1 Versuch einer Definition des Familienbegriffes
1.3 Geschichtliche Entwicklung der Familie
1.3.1. Familie des Mittelalters
1.3.2. Familie zur Zeit der Industrialisierung
1.3.3. Die moderne Familie
1.4. Die verschiedenen Phasen in einer Familie
2. Die Geburt eines behinderten Kindes
2.1. Was bedeutet das Kind für die Eltern?
2.2. Die Schwangerschaft
2.3. Pränataldiagnostik
2.4. Gesellschaft und Behinderung
2.5. Die Geburt eines behinderten Kindes
2.6. Abschied vom Wunschkind
3. Diagnosemitteilung an die Eltern
3.1. Trennung von Mutter und Kind
3.2. Diagnosezeitpunkt
3.3. Diagnoseeröffnug
3.4. Menschliche Probleme bei der Diagnosemitteilung
3.5. Verspätete Feststellung der Behinderung
4. Die Auswirkungen der Geburt eines behinderten Kindes auf die Familie
4.1. Verarbeitungsprozesse innerhalb der Familie
4.2. Die Rolle des behinderten Kindes in der Familie
4.2.1. Der Sündenbock
4.2.2. „mein Kleiner“
4.2.3. Der Auserwählte
4.3. Chancen für die Familie
5. Situation der Mütter
5.1. Bedeutung des Kindes für die Mutter
5.2. Mutterschaft in unserer Gesellschaft
5.3. Verlusterleben von Müttern behinderter Kinder nach Jonas
5.3.1. Kindzentriertes Verlusterleben
5.3.2. Identitätszentriertes Verlusterleben
5.3.3. Sozialzentriertes Verlusterleben
5.4. Auswirkungen des behinderten Kindes auf die Frau
5.5. Verlust von Möglichkeiten zu einer individuell gestalteten Alltagswelt
5.6. Belastungen von Müttern
5.6.1. Pflege des Kindes
5.6.2. Gesundheitliche Probleme des Kindes
5.6.3. Haushalt
5.6.4. Die Gesellschaft
5.7. Zukunftsangst
6. Situation der Väter
6.1. Die männliche Geschlechterrolle
6.2. Die Bedeutung des „Vaterseins“
6.3. Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung
6.4. Belastungen für Väter behinderter Kinder
6.5. Die Vater – Kind Beziehung
6.6. Chancen für Väter behinderter Kinder
7. Situation der Geschwister
7.1. Allgemeine Geschwisterbeziehungen
7.2. Belastungen von Geschwisterkindern
7.3. Ich bin doch auch noch da
7.4. Chancen für Geschwister behinderter Kinder
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Vorwort:
In meiner Arbeit setze ich mich mit der besonderen Situation von Familien mit einem Kind mit Behinderung auseinander. Ich möchte die Veränderungen aufzeigen, die die Geburt eines behinderten Kindes für die Familie mit sich bringt und einen Einblick in den Prozess der Auseinandersetzung mit der Situation geben.
Um mich dem Thema zu nähern, beleuchte ich zunächst die allgemeine Situation der Familie genauer. Neben dem Versuch einer Definition stelle ich in einem historischen Rückblick die Veränderungen der Familienstruktur vom Mittelalter über die Zeit der Industrialisierung bis zur heutigen Familie des 20. Jahrhunderts dar.
In Kapitel 2 gehe ich genauer auf das Kind, seine Bedeutung für die Eltern, das Schockerlebnis der Geburt eines behinderten Kindes sowie das gesellschaftliche Bild der Behinderung ein.
Anschließend beleuchte ich die Diagnosemitteilung genauer und gehe vor allem auf die Probleme der Mitteilung und die psychische Situation der Eltern ein.
In Kapitel 4 frage ich nach den Auswirkungen, die die Geburt eines behinderten Kindes für die Familie mit sich bringt. Neben der Rolle, die das behinderte Kind in der Familie spielen kann, nenne ich noch Verarbeitungsmöglichkeiten und Chancen, die sich durch das behinderte Kind für die Familienmitglieder ergeben.
In den folgenden Kapiteln gehe ich nun speziell auf die Situation der einzelnen Familienmitglieder ein. Am ausführlichsten behandle ich die Situation der Mütter, da diese die meiste Zeit mit dem Kind verbringen und daher am stärksten von der Behinderung betroffen sind. Ich zeige auf, welche große Bedeutung Kinder für Mütter haben und welche Auswirkungen es für die Mutter hat, ein behindertes Kind zu bekommen. Hierzu zählen die Belastungen, Trauer, aber auch Chancen die sich auftun können.
Um die Situation der Väter behinderter Kinder besser verstehen zu können, gehe ich zunächst auf die männliche Geschlechterrolle, ihre Gefühlswelt und ihr Denken ein. So werden die zur Mutter unterschiedliche Beziehung zum Kind sowie die Belastungssituation der Väter deutlicher.
Bei der Situation der Geschwister in Kapitel 7 beschreibe ich neben den Aspekten der Belastungen und Chancen von Geschwisterkindern vor allem die Situation des, gegenüber dem behinderten Geschwisters, in „zweiter Reihe“ Stehens und ständigen Zurückstecken müssens.
Bevor ich mich nun dem eigentlichen Teil meiner Arbeit zuwende, möchte ich noch zwei Vorbemerkungen machen:
In meiner Arbeit differenziere ich nicht nach verschiedenen Behinderungen. Die Literatur, auf die ich zurückgreife, bezieht sich vor allem auf Familien mit geistig- oder schwerst-mehrfachbehinderten Kindern.
Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass die im Folgenden beschriebenen familiären Situationen nicht als allgemeingültig und für jede Familie in gleichem Grad zutreffend sind.
1. Die Familie:
1.1 Versuch einer Definition des Familienbegriffes:
Nach dem Brockhauslexikon ist die Familie „in der Regel das Elternpaar mit den unselbstständigen Kindern als Einheit des Haushaltes“ (www.brockhaus.de). Mit dieser Definition ist die heute übliche Kernfamilie gemeint. Für Wicki ist diese Definition weitgehend eine bürgerliche Sicht auf die Familie, die andere heutzutage häufige Familienformen außer Acht lässt. Hierzu gehören Scheidungs-, Mehrgenerationen- oder Einelternfamilien sowie Adoptiv- und Stiefelternschaften (vgl. Wicki 1997, 16 zitiert in: Brüstle 2000, 50).
Allgemeiner formuliert kann man die Familie als eine Gruppe von Menschen sehen, die miteinander in irgendeiner Form verwandt oder verschwägert sind, ganz egal ob sie gemeinsam oder getrennt leben. Im enger gefassten Sinn wird die Familie als „biologisch – soziale Gruppe von Eltern mit ihren ledigen, leiblichen und/oder adoptierten Kindern“ gesehen (vgl. Brüstle 2000, 50).
Die Familie ist jener Ort, der die Lebenschancen des kleinen Kindes bestimmt und auch sein Erleben, Erfahren und Wissen entscheidend prägt. Aufgabe der Familie ist es, „während der verschiedenen Stadien der kindlichen Entwicklung einen angemessenen Rahmen zu bilden, in dem die Bedürfnisse des Kindes nach Erhaltung der Existenz, aber auch jene nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe, nach Achtung und Selbstverwirklichung erfüllt werden, in dem es aber auch jene sozialen Kompetenzen erwerben kann, die es befähigen, zu einem autonomen Mitglied seiner Gesellschaft zu werden. […] Eltern wird die Aufgabe zugeschrieben, familiäres Leben zu gestalten, dass die Bedürfnisse des Kindes erfüllt und seine Fähigkeiten entwickelt werden. Die Gestaltung familiären Lebens wird dabei voneinander zum Teil widersprechenden Norm- und Wertvorstellungen, aber auch von anderen gesellschaftlichen Bereichen entscheidend mitbestimmt“ (Wilk 1992, 7).
1.3. Geschichtliche Entwicklung der Familie (vgl. Seminar-unterlagen WS 2002/2003 PH Reutlingen):
1.3.1. Familie des Mittelalters:
Im Mittelalter war die Eheschließung meist zweckgebunden. Das Familienleben fand ohne intensive emotionale Interaktionen statt. Die Familie umfasste mehrere Generationen im Sinne einer Groß- oder Haushaltsfamilie, dem so genannten „ganzen Haus“. Das „ganze Haus“ war eine Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, in der auch zusätzlich zur Familie, mit ihr nicht verwandte Personen, wie Mägde oder Stallburschen unter einem Dach lebten. Des weiteren waren die Familien der damaligen Zeit regelrechte Versorgungsgemeinschaften für gesunde, kranke, invalide und alte Familienmitglieder.
Innerhalb der Familie kam dem Vater eine besondere Bedeutung zu. Durch ihn wurden die Familienmitglieder und die Angestellten patriarchalisch geführt.
Kinder hatten keine besondere Stellung innerhalb der Familiengemeinschaft. Sie wurden als Arbeitskräfte und Altersversorgung gesehen und wuchsen ansonsten nebenbei auf. Für die Erziehung war mehr das Gesinde, als die Eltern zuständig.
1.3.2. Familie zur Zeit der Industrialisierung:
Im 18. und 19. Jahrhundert brachten gesamtgesellschaftliche Wandlungen große Veränderungen für die Familien. Durch die industrielle Revolution, die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, die Bevölkerungsexplosion und die Landflucht kam es zu einem Wandel von der ständischen Agrargesellschaft zur bürgerlichen Industriegesellschaft.
Begünstigt durch die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz wurde die Familie ein privaterer Ort mit rein verwandtschaftlichen Beziehungen. Dadurch verkleinerten sich die Familien und ein emotionales Familienleben begann sich zu entwickeln.
Die Ehe gewann an Bedeutung und die Liebe wurde ein immer wichtigerer Heiratsgrund. Der Patriachalismus blieb bestehen mit der Frau in einer untergeordneten, unselbständigen Stellung. Waren zuvor noch alle Mitglieder des „ganzen Hauses“ am Lebensunterhalt beteiligt, trat nun der Vater als Alleinverdiener an diese Stelle. Die Frau musste den Haushalt führen, für die Familie sorgen, sich um die Kinder kümmern und ihrem Mann dienen, so dass dieser ohne Störungen den Lebensunterhalt verdienen konnte.
Der vorherrschende Familientyp war der der Kleinfamilie mit zwei bis drei Generationen und einer geringen Kinderzahl.
1.3.3. Die moderne Familie:
Heute ist die Familie ein Ort emotionaler Nähe, der biologischen und psychosozialen Reproduktion, der Sozialisation und Persönlichkeits-entwicklung. Es besteht eine hohe wechselseitige Abhängigkeit der Familienmitglieder voneinander. Elternschaft wird heutzutage zielgerichtet geplant, mit dem Glauben an eine generelle Planbarkeit und Machbarkeit der kindlichen Entwicklung („inszenierte Kindheit“). Das Kind wird als sinnstiftender Moment gesehen und bekommt zunehmende Bedeutung, wobei die Geburtenzahl abnimmt.
Bei den modernen Lebensformen kommt es zu einer starken Pluralisierung, d.h. neben der traditionell orientierten Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind bzw. Kindern, die es heute natürlich noch weit verbreitet gibt, haben sich noch viele weitere Formen des Zusammenlebens herausgebildet. So gibt es heutzutage getrennte Familien, unverheiratete Familien, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, usw..
Aufgrund der demographischen Veränderungen kommt es zu einer Zunahme nicht ehelicher Lebensgemeinschaften, der Einpersonen- und Eineltern-haushalte und Ehescheidungen.
1.4. Die verschiedenen Phasen in einer Familie:
Wenn ein Paar ein Kind erwartet, stehen viele Veränderungen an. Mann und Frau werden zu Vater und Mutter, also zu Eltern. Vor allem beim ersten Kind sind diese Veränderungen besonders zu spüren, da es zu einem Rollenwechsel kommt, der sich nicht nur in der Beziehung zum Kind, sondern auch in der Partnerschaft bemerkbar macht.
Kommt ein zweites Kind zur Welt ergibt sich mit der Geschwisterbeziehung eine neue Aufgabe.
Mit dem Älterwerden der Kinder ergeben sich für die Familie immer neue Abschnitte, in denen sie gefordert ist: Familien mit einem Kindergartenkind, einem Schulkind, einem pubertierenden Jugendlichen, einem jungen Erwachsenen, der dann schließlich das Elternhaus verlässt.
2. Die Geburt eines behinderten Kindes:
2.1. Was bedeutet das Kind für die Eltern?
Früher hatten Kinder eine ökonomische Bedeutung für die Eltern. Sie waren zuerst als Arbeitskräfte und dann in der Altersversorgung wichtig. Wer viele Kinder hatte, war sozial abgesichert.
Heutzutage sind Kinder nach Finger in Deutschland eher ein „Armutsrisiko“ (Finger 2000, 63). Sie kosten viel und vom Staat erhalten die Eltern nur wenig Hilfe. Wer heute ein Kind bekommt ist finanziell aber auch in seiner Beweglichkeit und Selbstbestimmung eingeschränkt (vgl. ebd.).
Es stellt sich nun die Frage, warum sich Paare überhaupt noch Kinder wünschen? Trotz der persönlichen Einschränkungen, die ein Kind mit sich bringt, ist es dennoch „wertvoller“ wie früher.
Ein Kind ist heute gefühlsmäßig für Paare sehr wichtig geworden. Es ist ein schöpferischer Neubeginn und verkörpert als gemeinsames Drittes im starken Maße eine gemeinsame Zukunft und die Kontinuität des Lebens. Die Eltern sind durch das Kind also auf einer weiteren Ebene verbunden.
Kinder werden heute stark in die persönliche Lebensgeschichte der Eltern eingebunden und mit persönlichen Hoffnungen, Interessen und Wünschen besetzt. Nicht selten soll das Kind die eigenen unerfüllten Wünsche der Eltern in Bezug auf die Lebensplanung erfüllen.
Für viele Eltern gibt das Kind dem Leben einen Sinn und befriedigt das Bedürfnis nach Emotionalität wie Wärme, Zugehörigkeit und Zuwendung. Das Kind verkörpert geradezu Zärtlichkeit, Spontaneität, Lebensenergie- und lust und löst damit bei den Eltern Gelassenheit, Fürsorglichkeit und Einfühlungsvermögen aus. Ein Kind vermittelt einem Erfahrungen und Gefühle, die man in der Arbeitswelt, die von Rationalität und Leistungsdruck beherrscht wird, nicht findet.
Die Eltern können ihrem Kind vermitteln, was ihnen wichtig erscheint und gewinnen an Prestige und Ansehen in der Bevölkerung. Dadurch, dass man dem Kind viel gibt, bekommt man auch viel wieder zurück.
Wenn man diese ganzen aufgezählten Punkte ansieht, was Eltern von ihrem Kind erwarten bzw. wünschen, kann zusammengefasst gesagt werden: Das Kind soll die Eltern glücklich machen.
2.2. Die Schwangerschaft:
Mütter und Väter die ein Kind erwarten, freuen sich auf das Baby. In den 9 Monaten der Wartezeit bereiten sie sich schon auf das Kind vor und machen sich Gedanken etwa über sein Geschlecht, sein Aussehen oder seine allgemeine Zukunft:
Hierzu eine glückliche werdende Mutter:
„Heute, mein Kind, ist ein ganz besonderer Tag für uns. Ich weiß, dass es Dich gibt, Du lebst in mir, und ich bin glücklich. Durch meine Gedanken versuche ich, Dir von diesem Glück zu erzählen. Du sollst wissen, dass du sehr willkommen bist. Dein Vater und ich haben so lange auf Dich gewartet, und nun scheint es, als könnte ich den August des kommenden Jahres kaum erwarten. Alle Menschen, die es erfahren, sind glücklich mit uns. […]“
(Zeile 1988, 107)
Gelegentlich schweifen die Gedanken, vor allem bei spätgebärenden Müttern, auch zu dem Punkt einer möglichen Behinderung des Kindes. Diese Gedankengänge werden aber meist wieder schnell verworfen und die Mütter sagen sich: „Warum gerade ich?“ oder „Ich doch nicht!“.
2.3. Pränataldiagnostik:
Um Informationen über das Kind zu bekommen und eine eventuelle Behinderung festzustellen wird von Frauenärzten die pränatale Diagnostik angeboten. Darunter versteht man die medizinische Untersuchung des Fötus im Mutterleib während der Schwangerschaft (Finger 2000, 137).
Die pränatale Diagnostik lässt sich in zwei große Gruppen von Untersuchungen einteilen. Dies sind die „nicht – invasiven“ und die „invasiven“ Methoden.
Die „nicht – invasive“ Methode bedeutet keinen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Mutter oder des Kindes. Die Untersuchung erfolgt rein äußerlich, wie zum Beispiel die Ultraschalluntersuchung. Hierbei wird das Kind durch einen Ultraschallsonar der über die Bauchdecke der Mutter bewegt wird, auf einem Bildschirm sichtbar. Man kann darauf erkennen, welches Geschlecht das Kind hat, ob sein Herz richtig schlägt, wie es sich entwickelt oder ob es gewisse Fehlbildungen hat (vgl. ebd., 137).
Zur „invasiven“ Methode gehören die Amniozenthese (Fruchtwasser-untersuchung) und die Chorionzottenbiopsie, bei der Gewebeproben der Gebärmutter entnommen und untersucht werden. Dabei können Erbkrankheiten und Chromosomenveränderungen festgestellt werden. Bei diesen Untersuchungen besteht jedoch ein leichtes Verletzungsrisiko und eine gewisse Gefahr für das Auftreten einer Fehlgeburt (vgl. ebd., 138).
Die pränatale Diagnostik bietet den Eltern ein scheinbares Sicherheitsdenken, womit sie sich die Gesundheit ihres Kindes absichern können.
Hierzu muss jedoch gesagt werden, dass keine Form der pränatalen Diagnostik mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen kann, dass das ungeborene Kind nicht behindert bzw. behindert ist. Von den 10% der angeborenen Behinderungen kann nur ein kleiner Teil pränatal diagnostiziert werden. Trotz der diversen Früherkennungsuntersuchungen und der pränatalen Diagnostik während der Schwangerschaft können über 95% der Behinderungen nicht verhindert werden (Lambeck 1992, 82). Es besteht sogar noch die Gefahr, dass das Kind erst durch die gynäkologische Untersuchung behindert wird.
Vorteil der Pränataldiagnostik ist, dass in einigen Fällen Fehlentwicklungen erkannt und noch im Mutterleib behandelt werden können. So können durch rechtzeitige Gabe von Medikamenten über die Mutter Fehlentwicklungen, wie zu schneller Herzschlag, verhindert werden. Eventuell notwendige Operationen direkt nach der Geburt, zum Beispiel bei einem Darmverschluss, können schon vor der Entbindung geplant und vorbereitet werden (vgl. Finger 2000, 138).
Erhalten Eltern die Nachricht von der Behinderung ihres Kindes werden sie oftmals vor eine der schwersten, wenn nicht die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt: Können wir uns ein Leben mit einem behinderten Kind vorstellen, oder nicht und lassen es abtreiben?
2.4. Gesellschaft und Behinderung:
„Es ist wirklich schwierig, ein behindertes Kind zu haben, weil es so schwer ist, der Umwelt gegenüberzutreten, ohne Schaden zu nehmen. Man wird abfällig betrachtet, hinter dem Rücken wird getuschelt. Es ist sehr schwer, sich normal zu verhalten. Es gehören Selbstbewußtsein und Aufgeklärtheit dazu. Ich konnte es nicht von Anfang an und habe es erst lernen müssen.“
(Beuys 1984, 87)
Menschen mit Behinderung nehmen im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben nur einen geringen Platz ein. Sie werden in den Hintergrund gedrängt, „abgeschoben“ in Sondereinrichtungen (Sonderschulen, Heime, betreute Werkstätten, usw.). Wie andere Randgruppen sind auch Behinderte Außenseiter in unserer Gesellschaft.
Es gibt heute zwar vielfältige Bemühungen, Menschen mit Behinderung in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken und sie in der Gesellschaft zu integrieren, doch in den Köpfen vieler Menschen herrschen immer noch Vorurteile gegenüber diesen Menschen und ihren Familien.
In unserer Gesellschaft sind Gesundheit, Schönheit, Leistung und Erfolg von großer Wichtigkeit. Wer diesen Anforderungen nicht gerecht werden kann entspricht nicht der Norm. Dazu gehören in großem Maße auch Menschen mit Behinderung. Sie werden als „Mängelwesen“ gesehen, da sie den gesellschaftlichen Anforderungen nicht entsprechen können.
Menschen mit Behinderung und deren Familien können den gesellschaftlichen Normvorstellungen nicht gerecht werden. In unserer Gesellschaft hat wohl nur der „Perfekte“ einen Platz. Wer nicht leistungsfähig ist, der gilt nicht viel.
Die Eltern haben sich bis zur Geburt ihres behinderten Kindes meist nur wenig oder gar nicht mit den Abwehrreaktionen und Vorurteilen der Gesellschaft gegenüber Behinderten und ihren Familien auseinandergesetzt. Nun ist plötzlich die eigene Familie betroffen. Die bisherige Einstellung gegenüber behinderten Kindern lässt sie die künftige Rolle der Familie antizipieren. Sie werden sich an den Rand gedrängt vorfinden, im schlimmsten Fall umgeben von Scheu und Mitleid (vgl. Schmidt 1986, 14).
Unsere Gesellschaft scheint Behinderung als etwas so Schreckliches zu betrachten und ein behindertes Leben als nicht lebenswert zu sehen, dass eine Abtreibung schon fast zwingend erscheint. Etwa 98 Prozent aller Eltern, bei deren Kind Down – Syndrom während der Schwangerschaft diagnostiziert wird, entscheiden sich für eine Abtreibung. Ähnlich hoch ist die Abbruchquote bei anderen Erbkrankheiten (Finger 2000, 145).
Seit es durch die pränatale Diagnostik die Möglichkeit gibt, ein Kind, das nicht der Norm entspricht, nicht zu bekommen, verringert sich die Toleranz gegenüber Kindern mit Behinderung. Nach Finger besteht die Gefahr, dass die Akzeptanz in unserer Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung immer geringer wird und immer öfter die Meinung vorherrscht, dass „so etwas doch heute nicht mehr zu passieren braucht“. Behinderung wäre demnach kein Schicksalsschlag mehr, sondern eine Bedrohung, gegen die man sich wehren kann (vgl. Finger 2000, 146).
Diese Vorgehens- und Denkweise, begünstigt durch die vorgeburtliche Diagnostik, diskriminiert Menschen mit Behinderung in hohem Maße. Ihnen wird klar gemacht, dass ihr Leben, für einen großen Teil der Bevölkerung, nicht Lebenswert und minderwertig sei. Dies gilt für den geschädigten sich entwickelnden Fötus, aber insbesondere auch für Menschen mit der gleichen Behinderung, deren Recht auf Leben dadurch in Frage gestellt wird (vgl. ebd., 147).
Viele Belastungen für Familien mit einem behinderten Kind entstehen nicht primär durch die Behinderung des Kindes, sondern erst durch Reaktionen der Umwelt und teilweise wenig behindertenfreundliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
2.5. Die Geburt eines behinderten Kindes:
Die Geburt eines behinderten Kindes trifft die Eltern, wenn sie nicht darauf vorbereitet sind, in der Regel wie ein Schlag. Sie sind meist in keiner Weise auf dieses Schicksal vorbereitet, denn nur die allerwenigsten Eltern erfahren vor der Entbindung von der Behinderung ihres Kindes. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich im ersten Moment, beim Anblick des behinderten Kindes, das so anders als erwartet aussieht, große Hilflosigkeit ausbreitet.
„Während der Schwangerschaft habe ich mir so viel erträumt und vorgestellt: Wie er aussehen würde, wie ich ihn liebevoll in den Arm nehmen würde, wie schön und friedlich alles wäre.
Und dann war plötzlich alles anders: Gleich nach der Geburt wurde er weggebracht und um mich herum hörte ich nur Worte wie Sauerstoffmangel, frühkindlicher Hirnschaden, Behinderung. BEHINDERUNG. Immer wieder: Mein Kind ist behindert, wird nie gehen, laufen, reden, lesen, schreiben können. Ich war wie tot, alle meine Träume waren zerschlagen, alles war zerstört worden. […]“
(Kriegl 1993, 21)
Für die Eltern bricht in diesem Moment eine Welt zusammen. All ihre Hoffnungen und Wünsche, die sie mit der Geburt ihres Kindes verbunden hatten, brechen jäh zusammen und rufen tiefe Enttäuschung und Verzweiflung hervor. Die ganzen Pläne und Vorstellungen vom Leben mit dem Kind erscheinen im ersten Moment als zerstört. Die Phantasien der Eltern von Glück und Perfektion wird das behinderte Kind nie erfüllen können.
Die große Differenz zwischen den elterlichen Erwartungen und Vorstellungen und dem vermeintlichen Vermögen des Kindes führt nicht selten zu einer abweisenden Haltung der Eltern dem behinderten Kind gegenüber. In manchen Fällen geht es so weit, dass die Eltern und vor allem die Mutter sich den Tod des eigenen Kindes wünschen.
Der tiefe Widerspruch zwischen dem erwarteten „Wunschbild“ und dem erhaltenen „Enttäuschungsbild“ führt bei den Eltern in vielen Fällen zu Selbstzweifeln und schuldhaften Gefühlen, versagt zu haben. Da die Eltern die sich selbst gesetzten Erwartungen und den gesellschaftlichen Leistungsansprüchen nicht genügen können, kommen sie sich unzulänglich vor. Dieser Versagensdruck muss in der heutigen Zeit der pränatalen Diagnostik, die scheinbar Behinderung vermeidbar macht, nur noch größer werden (vgl. Götz 147).
2.6. Abschied vom Wunschkind:
Viele Eltern sprechen davon, dass beim Anblick oder der Nachricht der Behinderung ihres Kindes, dieses für sie gestorben sei.
Dazu schreibt eine betroffene Mutter:
„Hier lag ich zerbrochen, ohnmächtig, haltlos, ohne Schutz und Hoffnung und Mut. Und ohne Liebe. Denn das Kind, das ich stolz während der Monate in mir getragen hatte, war gestorben. Und mit ihm alle Vorstellungen von einem Leben mit ihm.“
(Götz 1997, 145)
Hierbei ist natürlich nicht das behinderte Kind gemeint, sondern das „Wunschkind“ aus der Phantasie, das mit so vielen Hoffnungen und Wünschen beladen war. All das was man mit dem Kind einst vor hatte wird erschüttert. Mit dem Phantasiekind gehen die mit ihm verbundenen Pläne und Lebensperspektiven auf einen Schlag verloren (vgl. ebd.).
Die meisten Eltern trauern in ihrer anfänglichen Ungewissheit und Auflehnung gegen das Unannehmbare noch länger ihren alten Bildern und Wünschen nach. Sie phantasieren den verlorenen Idealen nach und können sich nur schwer mit ihrem Kind identifizieren. Die Eltern sehen zu Beginn vornehmlich nur die Entstellungen, Schäden und Beeinträchtigungen des behinderten Kindes. Sie sehen nicht das Mädchen oder den Jungen vor sich, sondern nur das behinderte Neutrum (vgl. Götz 1997, 150). Erst wenn die Eltern sich von dem Kind ihrer Träume verabschiedet haben, können sie sich auf das Kind einstellen, das sie vor sich haben und sind offen für Neues.
3. Diagnosemitteilung an die Eltern:
3.1. Trennung von Mutter und Kind:
Um noch einmal auf die Geburt des Kindes zurückzukommen, muss an dieser Stelle auch auf die frühe Trennung der Mutter von ihrem Kind eingegangen werden. Der Säugling muss in den meisten Fällen direkt nach der Entbindung in die Kinderklinik gebracht werden, ohne dass die Mutter ihr Kind richtig wahrnehmen oder in die Arme schließen kann. Auf Rückfragen hören die Eltern dann beschwichtigende Antworten, wie „wird schon werden“ oder „reine Routineuntersuchung“.
Dies sind Antworten, die die Eltern beruhigen und die Angst vor einer möglichen Schädigung ihres Kindes ein wenig dämpfen sollen.
Meiner Meinung nach sind solche beschönigenden, ausweichenden Antworten hier völlig fehl am Platz. Die Eltern haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihrem Kind los ist. Das Klinikpersonal steht meist ebenso hilflos der Situation gegenüber wie die Eltern, deshalb währe es wichtig, das Personal auch daraufhin zu schulen, so dass sie den Zustand des Kindes einfühlsam, schonend und mit dem nötigen Respekt den Eltern mitteilen können.
Wie wichtig richtige Informationen über das eigene Kind sind, zeigt diese Aussage einer Mutter:
„[…] Man ließ mich nach der Geburt allein, lediglich eine Ordensschwester erklärte mir im Vorbeigehen, das Kind sei gesund, aber aufgrund der Frühgeburt in die nahegelegene Kinderklinik verlegt worden. Das war alles – mit der Angst war ich allein, der Arzt kam erst am Abend, nachdem mein Mann bei mir gewesen war, erklärte, alles in allem hätten wir beide noch Glück gehabt, es sei wie im Mittelalter gewesen. Eine weitere Schwangerschaft werde er nicht betreuen, das Risiko für mich sei einfach untragbar. Keiner erklärte aber warum und was eigentlich geschehen war.
Mein Mann hatte mir ein Bild unseres Kindes – im Inkubator liegend – mitgebracht. Bei der Betrachtung des Fotos verstärkte sich mein Gefühl und mein Wissen um die Schädigung des Kindes.“
(Zeile 1988, 108/109)
Oft dauert es Tage bis die Mutter ihr behindertes Kind das erste Mal sehen darf. Dadurch besteht die Gefahr, dass das Kind für die Mutter etwas Unwirkliches bekommt.
„So weit weg bleibt mein Kind ein Phantom, ein Gedanke für mich. Ich weiß ja noch nicht einmal richtig, wie er aussieht, zu kurz war die Zeit, die er in meinem Arm bleiben durfte. […]“
(Dreyer 1988, 12, zitiert in: Lambeck 1992, 34)
3.2. Diagnosezeitpunkt:
Bei der Mitteilung der Diagnose ist nach Lambeck der frühestmögliche Zeitpunkt der Beste um der Ausbildung haarsträubender Phantasien über das Kind bei den Eltern vorzubeugen. Außerdem kann ein etwaiger unnötiger Trauerprozess vermieden werden, der entsteht, wenn die Eltern unrealistischer Weise den Tod ihres Kindes erwarten.
Deshalb ist es sehr wichtig, in einem frühen Erstgespräch die erste Diagnose den Eltern mitzuteilen, damit sie sich realistisch auf die neue Situation einstellen können. Differentialdiagnostische Ergebnisse können den Eltern auch noch in späteren Gesprächen übermittelt werden (vgl. Lambeck 1992, 36).
[...]
- Quote paper
- Daniel Reichelt (Author), 2003, Familien mit einem Kind mit Behinderung. Zur Situation der Mütter, Väter und Geschwister, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24072
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