Dieses Essay befasst sich mit Richard Sennetts Bestseller "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus". Aufbauend auf einer Darlegung des Argumentationsganges und der Sennettschen Konzeption des Schlüsselbegriffs "Flexiblität" erfolgt eine Analyse der zentralen Diagnosen Sennetts für die Gelingensbedingungen menschlicher Existenz unter Bedingungen des neuen Kapitalismus. Die sprichwörtlich gewordenen Diagnosen Sennetts, "Drift" und "Unlesbarkeit", werden auf diese Weise erläutert. Vor diesem Hintergrund wird das originär soziologische Werk in den Kontext der modernen politischen Theorie gestellt, um zu klären, in welchem Zusammenhang die Befunde über die Kultur des neuen Kapitalismus mit der Legitimitätslage demokratischer Systeme stehen.
Inhaltsverzeichnis
1.) Einleitung
2.) Argumentationsgang und Grundbegriffe in „der flexible Mensch“
a. Der Argumentationsgang
b. Der Begriff „Flexibilität“
c. Flexibilität als Organisationsprinzip des neuen Kapitalismus
d. Konsequenzen für die Zeitstrukturierung
3.) Zu Sennetts Begriff der „Unlesbarkeit“
4.) Zu Sennetts Begriff „Drift“
5.) Der neue Kapitalismus und gemeinschaftliches Handeln
6.) „Der flexible Mensch“ im Kontext der modernen politischen Theorie
7.) Kritische Würdigung des „flexiblen Menschen“
Literaturverzeichnis
1.) Einleitung
Die Beschäftigung mit Richard Sennett’s Werk „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (im Original: „The Corrosion of Character“) war in den Kontext des Hauptseminars „moderne politische Theorie“ eingebettet. Thema dieses Seminars war die Untersuchung des Denkens zeitgenössischer Gesellschaftsphilosophen mit Bezügen zur politischen Wissenschaft, wobei auch die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Denkens berücksichtigt wurden.
Da es sich bei Richard Sennett um einen Soziologen und nicht um einen Politikwissenschaftler handelt, wird in dieser Hausarbeit zu klären sein, in wie weit die Beschäftigung mit seinen Überlegungen für ein politikwissenschaftliches Hauptseminar Gewinn bringend sein kann.
In seinem Essay analysiert und bewertet Sennett den Kapitalismus in seiner heutigen Form als Regime[1] und die ihm innewohnenden Voraussetzungen zur Entwicklung eines menschlichen Charakters und damit einer gelungenen menschlichen Existenz. Dieser Argumentationsgang soll nachvollzogen und auf seinen Gehalt für das Thema des Seminars hin überprüft werden.
Dazu wird es zunächst notwendig sein, die Grundbegriffe von Sennett’s Überlegungen herauszuarbeiten, die bereits in den Titeln sowohl der deutsch- als auch der englischsprachigen Ausgabe angedeutet werden, nämlich Flexibilität, Kapitalismus und Charakter. In diesem Zusammenhang soll auch auf die gewandelten Bedeutungen dieser Begriffe und die spezielle Fokussierung durch den Autor eingegangen werden. Auf dieser Basis sollen die zentralen Thesen und Aussagen nachvollzogen und auf ihre Verwandtschaft mit den Überlegungen anderer politischer Theoretiker hin überprüft werden. Aus diesen Überlegungen ist dann der speziell politikwissenschaftliche Gehalt des Werkes abzuleiten.
Das methodische Vorgehen Sennetts ist induktiv-phänomenologisch[2] ausgerichtet. Als teilnehmender Beobachter geht er bei seinen Überlegungen von den individuellen Erfahrungen seiner Interviewpartner aus und leitet hieraus seine allgemeineren theoretischen Überlegungen ab. In einigen Fällen greift er hierbei auch auf Interviewpartner zurück, die ihm vorher bereits schon einmal für seine wissenschaftlichen Überlegungen zur Verfügung gestanden hatten. In diesen Fällen bezieht er sich auf seine zusammen mit Jonathan Cobb im Jahre 1974 erstmals veröffentlichte Arbeit „The hidden Injuries of Class“, in dem sich die beiden Autoren mit der Frage beschäftigten, inwieweit die Bedingungen des Kapitalismus persönliche Arbeitserfahrungen prägen. Thematisch werden also Fragestellungen aus dieser früheren Veröffentlichung in „Der flexible Mensch“ wieder aufgenommen und vor dem Hintergrund einer radikal gewandelten Arbeitswelt neu beantwortet.[3]
Eine weitere Vorgehensweise Sennetts besteht darin, dass er versucht, Bedeutungsveränderungen in den relevanten Begriffen nachzuweisen, so zum Beispiel „Karriere“ und „Arbeit“ bzw. „Job“[4]. In Bezug auf Lösungsvorschläge zu dem von ihm erörterten Problemkomplex bleibt Sennett recht vage. Es scheint ihm in erster Linie darum zu gehen, die Diskussion um die Auswirkungen des Kapitalismus für die Menschen anzuregen.
Diese Hausarbeit stützt sich in erster Linie auf das Buch „Der flexible Mensch“ selbst. Sekundärliteratur ist in Form eines Essays von Lars Immerthal vorhanden. Aufgrund der Zeitnähe der Veröffentlichung ist bisher insgesamt wenig Sekundärliteratur erschienen. Dafür kann allerdings auf Interviews mit dem Autor und auf Zeitschriftenartikel zurückgegriffen werden.
2.) Argumentationsgang und Grundbegriffe in „Der flexible Mensch“
a. Der Argumentationsgang
Die Aufgabe, der sich Sennett stellt, ist die Untersuchung von persönlichen Arbeitserfahrungen[5] in einer Umgebung, die von ihm als „neuer Kapitalismus“ beschrieben wird.[6] Er richtet bei seiner Analyse des Kapitalismus in seiner heutigen Form den Focus auf einen Teilbereich dieses Problemkomplexes: auf die strukturellen Wandlungserscheinungen hinsichtlich der Zeit- und Arbeitsorganisation sowie die Regeln und Mechanismen, die diesem Wandel zugrunde liegen.[7]
Die Fragestellungen, die ihn bei seiner Untersuchung leiten, drückt er selbst wie folgt aus:
Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?[8]
Aus diesen Fragestellungen lässt sich bereits ableiten, dass Sennett Aussagen darüber beabsichtigt, welche Auswirkungen unsere derzeitige Wirtschaftsordnung auf die Entwicklung eines dem Menschen angemessenen Charakters hat und ob dies in Zusammenhang steht mit der Lebensfähigkeit des kapitalistischen Regimes an sich.
Bei der Frage nach der Entwicklung eines dem Menschen angemessenen Charakters ist zunächst näher zu beleuchten, worum es sich hierbei handelt und wodurch dieser konstituiert wird. Sennett zufolge ist dies „der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen.“[9] Anders gesagt stellt der Charakter eines Menschen eine Werthaltung dar, die etwas darüber aussagt, in wie weit unsere Lebensführung von einem Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber anderen getragen ist. Die Entwicklung eines solchen Charakters braucht also ein Klima, eine Umgebung, in der eine Lebensführung möglich ist, die die Übernahme von Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen beziehungsweise ein Leben in Bezügen zu seinen Mitmenschen möglich macht. Damit deutet Sennett bereits an, dass er unter der „Corrosion of Character“, dem Zerfall oder der Untergrabung des Charakters, einen Vorgang versteht, der mit der Fähigkeit zum Leben in Bezügen zu seinen Mitmenschen in engem Zusammenhang steht.
Als wichtiges Merkmal des Charakters bezeichnet Sennett die „Konzentration auf den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung.“[10] Die Charakterentwicklung stellt den Versuch dar, eine Auswahl aus Sinneseindrücken zu treffen, mit denen jeder einzelne konfrontiert wird, und diese aufrecht zu erhalten. Es handelt sich hierbei also um einen Vorgang, der Bedingungen benötigt, die Nachhaltigkeit und Langfristigkeit ermöglichen.[11] Dieser Vorstellung ähnlich sah der Wirtschaftstheoretiker Adam Smith „die Geschichte und ihre sich wandelnden sozialen Bedingungen“[12] als Prägefaktoren menschlichen Charakters an. Aus dieser Auffassung des Charakters heraus entwickelt Sennett die These, „dass der flexible Kapitalismus und die neuen Arbeitsformen den Charakter der Leute zunehmende beeinflussen werden.“[13]
An genau diesem Punkt diagnostiziert Sennett ein Spannungsverhältnis zwischen Charakter und den Bedingungen des flexiblen Kapitalismus. Um dieses Spannungsfeld zu erörtern, soll zunächst näher beleuchtet werden, welcher Vorstellungsinhalt sich hinter dem Begriff des flexiblen Kapitalismus verbirgt.
b. Der Begriff „Flexibilität“
Der Begriff der Flexibilität beinhaltete in seiner ursprünglichen Verwendung zwei Eigenschaften. Bezogen auf einen Gegenstand wurde damit die Fähigkeit eines Stoffes bezeichnet, sowohl seine ursprüngliche Form zu verlassen, als auch, in diesen Ausgangszustand wieder zurückzukehren.[14] Will man mit Sennett diese Fähigkeit auf einen Menschen übertragen, so bedeutete das die Fähigkeit zur Anpassung an wechselnde Umstände, „ohne von ihnen gebrochen zu werden.“[15] Im Gegensatz hierzu macht Sennett in der heutigen Verwendung des Begriffes „Flexibilität“ eine Verkürzung aus. In seiner ursprünglichen Bedeutung enthielt „Flexibilität“ bezogen auf den Menschen sowohl einen Anspruch, den der Beweglichkeit, als auch ein Zugeständnis, nämlich das der Rückkehr in die ursprüngliche Form, oder besser gesagt, in die ursprüngliche Seelenlage. Das Zugeständnis der Rückkehr in die seelische Ausgangslage sieht Sennett allerdings in der heutigen Verwendung als vernachlässigt an.[16]
Die ursprüngliche Idee der Flexibilität hinsichtlich der Organisation von Arbeitsabläufen war eine positive: die Übel der Fließbandarbeit, der Routine und Standardisierung, nämlich Abstumpfung, Erniedrigung und Entfremdung[17], sollten durch neue Verfahren, die dem menschlichen Wesen angemessener wären, ersetzt werden.[18] Um das Hauptübel der Routine, nämlich die Abstumpfung, zu beseitigen, galt es demnach, neue Verfahren zu finden, bei denen es den Menschen möglich war, ihre Arbeit auf motiviertere Art und Weise zu verrichten. Die ursprüngliche Idee bei der Entwicklung flexibler Abläufe muss es also gewesen sein, den arbeitenden Menschen durch größere Handlungsspielräume zu besserer Leistung zu motivieren und ihm gleichzeitig ein erfüllteres Arbeitsleben zu ermöglichen oder anderes gesagt, mehr Freiheit zu geben. Sennetts Untersuchungen des Phänomens „Flexibilität“ sind also von der Frage geleitet, ob dieser Anspruch von den flexiblen Regimes der heutigen Zeit tatsächlich erfüllt wird oder ob nicht eher ein Übel lediglich durch ein anderes ersetzt wird.[19]
c. Flexibilität als Organisationsprinzip des neuen Kapitalismus
Wo alte Strukturen abgeschafft werden, müssen neue eingeführt werden. Dies gilt für die Arbeitsorganisation selbst ebenso wie für die Strukturen, mit denen die Arbeitsabläufe überwacht werden. In diesen neuen Strukturen diagnostiziert Sennett Elemente, die die ursprüngliche Idee des Zugewinns an Freiheit konterkarieren. Sennett zufolge beinhaltet der Begriff „Flexibilität“ in seiner heutigen Verwendung implizit die Macht- und Kontrollstrukturen ebenso wie die Beschreibung der Arbeitsabläufe selbst. Das immanente Machtsystem besteht demzufolge aus drei Elementen: „dem diskontinuierlichen Umbau von Institutionen, der flexiblen Spezialisierung der Produktion und der Konzentration der Macht ohne Zentralisierung.“[20]
Kontinuität oder Diskontinuität hinsichtlich des Umbaus von Institutionen beziehen sich dabei auf die Art und Weise, wie sich Wandel im Laufe der Zeit vollzieht. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Wandels besteht laut Sennett darin, ob es in zeitlicher Hinsicht eine Verbindung zwischen den Erscheinungen gibt, ob der Wandel widerruflich ist, oder ob ein Wandel dergestalt vollzogen wird, dass eine Rückkehr in die ursprüngliche Situation unmöglich ist. Sennett ist hinsichtlich des Umbaus und Wandels von Institutionen[21] unter dem Regime des flexiblen Kapitalismus der Ansicht, dass es sich hierbei um diskontinuierlichen Wandel handelt.[22]
[...]
[1] Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Ungekürzte Lizenzausgabe Berlin 2002, S. 11.
[2] Vgl. Breier, Karl-Heinz: Richard Sennett. Vita, Werk und Rezeption. Manuskript 2003, S. 1.
[3] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 11.
[4] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 11.
[5] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 13.
[6] Vgl. http://www.zeit.de/archiv/1998/49/199849.sennett-intervie.xml, Stand 15.3.2004, 15. 30 Uhr
[7] Vgl. Immerthal, Lars: Im Auge des Sturms. Ein Essay über den „flexiblen Menschen“. In: Berliner Debatte Initial 12 (2001), S. 160-174, hier S. 160.
[8] Sennett, Der flexible Mensch, S. 12.
[9] Sennett, Der flexible Mensch, S. 11.
[10] Sennett, Der flexible Mensch, S. 11.
[11] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 12.
[12] Sennett, Der flexible Mensch, S. 48.
[13] http://www.brueckenbauer.ch/INHALT/9917/17senett.htm, Stand 15.3.2004, 15.30 Uhr.
[14] Ein Beispiel für das methodische Vorgehen Sennetts, vom ursprünglichen Bedeutungsinhalt eines Wortes auszugehen, vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 57.
[15] Ebda.
[16] Vgl. ebda.
[17] Entfremdung ist hier im Sinne von „mangelnde Möglichkeit zur Identifikation mit der eigenen Arbeit“ gemeint.
[18] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 39ff.
[19] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 56.
[20] Sennett, Der flexible Mensch, S. 59.
[21] Unter dem Begriff der Institution sollen hier sowohl Einrichtungen wie Wohlfahrtsverbände, Öffentliche Anstalten und staatliche Einrichtungen als auch Einrichtungen, die das Handeln der Menschen lenken und beeinflussen, Gesetze, Firmenstatuten und Arbeitsanweisungen in Firmen verstanden werden.
[22] Vgl. Sennett, Der flexible Mensch, S. 59.
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