Um City of Glass als (Anti-) Detektivroman untersuchen zu können, müssen zuerst die Merkmale dieses Genres, als dessen Begründer Edgar Allan Poe mit seinen geradezu prototypischen Dupin-Romanen gilt (vgl. Grella 89), vorgestellt werden. Die Wurzeln dieser Gattung liegen in der Romantik, wo erstmals Fragen der Subjektivität („ist etwas objektiv vorhanden, wenn jemand anders es auch sieht?“) und der Wahrheit in das Interesse der Literaten rückten. Die gothic novels sowie die sensational novels von Dickens und Collins können als Vorläufer des klassischen Detektivromans gesehen werden (vgl. Buchloh 8), dessen Handlung typischerweise eines (oder mehrere) der folgenden drei Themen in den Mittelpunkt stellt:
„a) die Frage nach dem Täter [...] (who?)
b) die Frage nach der Tatdurchführung [...] (how?)
c) die Frage nach den Tatmotiven [...] (why?)” (17f.).
Zudem zeigt die Tatsache, dass Figuren wie Sherlock Holmes oder Pater Brown größere Bekanntheit erlangten als ihre Erfinder, wie wichtig die Figur des Detektives für dieses Genre ist – deshalb sollen vornehmlich Austers Detektivfiguren in dieser Arbeit untersucht werden. „Only [the detective] is granted the power to arrive at the correct deduction from the most tenuous or ambigous evidence“ (Grella 86). Hier kann man verschiedene Typen unterscheiden. Da gibt es den Great Detective, den hochintelligenten Einzelgänger, „der in einsamer Tätigkeit die Rätsel löst” (Buchloh 19) und durch seine analytischen Fähigkeiten eine Art Übermensch darstellt, also Figuren wie Poes Auguste Dupin, Doyles Sherlock Holmes oder Christies Hercule Poirot. Sie interessieren sich nicht unbedingt für „die Wiederherstellung von gesellschaftlichem ‚law and order’ [...], ihnen geht es um die intellektuelle Herausforderung durch ein Problem” (20). Im Kontrast dazu steht der „Detektiv als Hersteller von Recht und Ordnung” (21), der in einer korrupten Welt idealisierte moralische Werte und einen Gerechtigkeitssinn vertritt, mit denen sich der Leser identifizieren kann (Beispiel: Raymond Chandlers Marlowe). Im Amerika der 30er Jahre war die sogenannte „hard-boiled detective story” mit diesem Typ Detektiv, der mit unerschrockener tough guy-Attitüde seine Fälle löst, sehr populär.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Entwicklung des Detektivromans
1.1 Der klassische Detektivroman
1.2 Anti-detective Novel oder Metaphysischer Detektivroman
2. Merkmale des Detektivromans in City of Glass
2.1 Aufbau und Plot
2.2 Die Detektive
2.2.1 Quinn und Stillman: Ritter der postmodernen Gestalt
2.2.2 Die Romanfigur Paul Auster
2.2.3 The question is the story itself - Der Leser
2.2.4 Der Ich-Erzähler
2.2.5 Der Autor
2.3 Täter und Opfer
3. Realität und Wahrheit in CoG
4. Schluß
1.1 Der klassische Detektivroman
„Mystery Story – A piece of fiction in which the evidence relating to a crime or occasionally to another mysterious event is so presented that the reader has an opportunity to solve the problem, the author’s solution being the final phase of the piece”
Definiton (mystery story = detective story im amerikanischen Sprachgebrauch) aus dem Webster Dictionary
Um City of Glass als (Anti-) Detektivroman untersuchen zu können, müssen zuerst die Merkmale dieses Genres, als dessen Begründer Edgar Allan Poe mit seinen geradezu prototypischen Dupin-Romanen gilt (vgl. Grella 89), vorgestellt werden. Die Wurzeln dieser Gattung liegen in der Romantik, wo erstmals Fragen der Subjektivität („ist etwas objektiv vorhanden, wenn jemand anders es auch sieht?“) und der Wahrheit in das Interesse der Literaten rückten. Die gothic novels sowie die sensational novels von Dickens und Collins können als Vorläufer des klassischen Detektivromans gesehen werden (vgl. Buchloh 8), dessen Handlung typischerweise eines (oder mehrere) der folgenden drei Themen in den Mittelpunkt stellt:
„a) die Frage nach dem Täter [...] (who?)
b) die Frage nach der Tatdurchführung [...] (how?)
c) die Frage nach den Tatmotiven [...] (why?)” (17f.).
Zudem zeigt die Tatsache, dass Figuren wie Sherlock Holmes oder Pater Brown größere Bekanntheit erlangten als ihre Erfinder, wie wichtig die Figur des Detektives für dieses Genre ist – deshalb sollen vornehmlich Austers Detektivfiguren in dieser Arbeit untersucht werden. „Only [the detective] is granted the power to arrive at the correct deduction from the most tenuous or ambigous evidence“ (Grella 86). Hier kann man verschiedene Typen unterscheiden. Da gibt es den Great Detective, den hochintelligenten Einzelgänger, „der in einsamer Tätigkeit die Rätsel löst” (Buchloh 19) und durch seine analytischen Fähigkeiten eine Art Übermensch darstellt, also Figuren wie Poes Auguste Dupin, Doyles Sherlock Holmes oder Christies Hercule Poirot. Sie interessieren sich nicht unbedingt für „die Wiederherstellung von gesellschaftlichem ‚law and order’ [...], ihnen geht es um die intellektuelle Herausforderung durch ein Problem” (20). Im Kontrast dazu steht der „Detektiv als Hersteller von Recht und Ordnung” (21), der in einer korrupten Welt idealisierte moralische Werte und einen Gerechtigkeitssinn vertritt, mit denen sich der Leser identifizieren kann (Beispiel: Raymond Chandlers Marlowe). Im Amerika der 30er Jahre war die sogenannte „hard-boiled detective story” mit diesem Typ Detektiv, der mit unerschrockener tough guy -Attitüde seine Fälle löst, sehr populär. Der „Durchschnittsmensch als Detektiv” (23) schließlich wird ohne eigenes Verschulden in den Fall hineingezogen, ist meist selbst einer der Verdächtigen und muss deshalb auf eigene Faust den wahren Täter finden. Ein weiterer Typ, der vornehmlich in der englischen Kriminalliteratur eine Rolle spielt, ist der Polizei- bzw. Scotland Yard-Beamte als Detektiv. Gemeinsam ist ihnen allen, dass die Detektive eine Art stabile Konstante darstellen, die eine klar umrissene konsistente eigene Identität haben und nicht ihre Rolle oder gar die Begrenztheit ihrer subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit hinterfragen. Sie ensprechen Daniel Quinns Definition „The detective is the one who looks, who listens, who moves through this morass of objects and events in search of the thought, the idea that will pull all of these things together and make sense of them” (Auster 12), schließlich ist Quinn selbst Leser und Autor typischer klassischer mystery novels. Seit langem besteht die Diskussion, ob der Detektivroman als Trivialliterratur[1] oder als literaturwissenschaftlich bedeutsames Genre bezeichnet werden kann. Auch Quinn, dessen „taste in other books was rigorous, demanding to the point of narrow-mindedness“ (11), „knew that most of them were poorly written“ (11), trotzdem „verschlingt“ er gelegentlich einen Krimi nach dem anderen, erlaubt sich also ein postmodernes Nebeneinander von „hoher“ und „niedriger“ Kultur bei der Auswahl seiner Lektüre. Trotz der Massentauglichkeit und trotz des Unterhaltungscharakters des Detektivromans wurden in der akademischen Forschung inzwischen einige Kriminalautoren in den Kanon hochwertiger Literatur aufgenommen. Werke wie Pyrhönens „Murder from an academic angle: An introduction to the study of the detective narrative“ (1994) zeigen das steigende Interesse der Literaturwissenschaft an diesem Genre.
Detektivromane wurden als ein Spiel zwischen dem Leser und dem Detektiv gesehen, als eine Art Wettbewerb, in dem der Leser versuchte, als erster oder zumindest gleichzeitig durch epistemologisch-deduktive Kombination der Hinweise den Fall zu lösen. Aus diesem Spielcharakter erklärt sich auch, dass etwa von den Krimiautoren Knox und Van Dine Regeln aufgestellt wurden, wie ein guter (i.e. dem Leser gegenüber „fairer”) Detektivroman beschaffen sein sollte. Aus heutiger Sicht erscheint ein solches Regelwerk-Korsett für ein ganzes Literaturgenre eher unfreiwillig komisch. Um nun den Kontrast zu Austers Herangehensweise aufzuzeigen, finden sich in dieser Arbeit Auszüge solcher Vorschriften an den Kapitelanfängen.
1.2 Anti-detective Novel oder Metaphysischer Detektivroman
Die postmoderne, parodisierende Variante des Detektivromans, zu deren Schlüsselautoren u.a. Borges, Nabokov, Robbe-Grillet, Sciascia, Pynchon, Abe, Auster und Eco zählen (vgl. Pyrhönen 41; Rowen 224), wird zumeist als anti-detective-novel oder als Metaphysischer Detektivroman bezeichnet. Bewußt wird mit den Erwartungen des Lesers gespielt, Konventionen werden gebrochen.
A metaphysical detective story is a text that parodies or subverts traditional detective-story conventions – such as narrative closure and the detective’s role as surrogate reader – with the intention, or at least the effect, of asking questions about mysteries of being and knowing which transcend the mere machinations of the mystery plot. Metaphysical detective stories often emphasize this transcendence, moreover, by becoming self-reflexive. (Merivale 2)
Die eindeutige Interpretierbarkeit von Zeichen, ohne die die klassische deduktive Detektivgeschichte ihrer Grundlage beraubt ist, wird in Frage gestellt, es stellt sich eine „erosion of basic novelistic signs, such as continuity, causality, and closure” (Malmgren 121) ein. Eine metaphysische Herangehensweise erlaubt keine simple Zusammensetzung der Hinweise zu einem perfekt passenden, schön geordneten Wahrheits-Mosaik, das keine Fragen mehr offen läßt. Pynchons The Crying of Lot 49 verdeutlicht diese Merkmale, indem bis zum Ende nicht klar ist, ob die zahlreichen Signifikanten, auf die Protagonistin Oedipa Maas stößt, tatsächlich auf das hinweisen, was sie hineinzuinterpretieren versucht. Zudem endet der Roman gerade vor dem Moment, in dem der von der Ambiguität der Zeichen gemarterte Leser möglicherweise Klarheit bzw. die Aufklärung der Rätsel erhofft. Bei Pynchon gibt es nicht eine allgemeingültige Wahrheit, eine für alle Personen gleich beschaffene Realität, vielmehr wird die Realität als solche und die Möglichkeit ihrer Wahrnehmung in Frage gestellt. Kein Triumph der Gerechtigkeit wird hergestellt, ständig führen Hinweise ins Leere, und wir haben es nicht mit einer selbstsicheren, konstanten Detektivfigur zu tun – vielmehr denkt Oedipa zuletzt darüber nach, ob sie einem paranoiden Wahnsinn verfallen ist (vgl. Pynchon 118). In der Anti-Detektivgeschichte besteht die Möglichkeit, dass ein Fall keine eindeutige Lösung hat. Auch die Rollenverteilung verschwimmt: „The metaphysical detective story [...] blurs the distinction between roles (detective, murderer, and victim), collapsing them into two or even one” (Pyrhönen 42). Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Merivale für
the characteristic themes of the metaphysical detective story: (1) the defeated sleuth, whether he be an armchair detective or a private eye; (2) the world, city, or text as labyrinth; (3) the purloined letter, embedded text, mise en abyme, textual constraint, or text as object; (4) the ambiguity, ubiquity, eerie meaningfulness, or sheer meaninglessness of clues and evidence; (5) the missing person, the “man of the crowd”, the double, and the lost, stolen, or exchanged identity; and (6) the absence, falseness, circularity, or self-defeating nature of any kind of closure to the investigation. (Merivale 8)
Es muss also untersucht werden, ob und in welchem Umfang sich diese Aspekte in City of Glass wiederfinden.
2. Merkmale des Detektivromans in City of Glass
2.1 Aufbau und Plot
„There simply must be a corpse in a detective novel” (Van Dine 190)
„Der Mord als das die Handlung auslösende Moment geschieht gleich am Anfang oder noch vor dem Einsetzen der Erzählung“ (Leonhardt 127)
Im ersten Kapitel bereits wird dem aufmerksamen Leser scheinbar vorgegeben, wie er City of Glass lesen soll: „Since everything seen or said, even the slightest, most trivial thing, can bear a connection to the outcome of the story, nothing must be overlooked. Everything becomes essence“ (Auster 12). Diese Konventionen scheinen auch hier anwendbar zu sein, denn auf den ersten Blick handelt es sich tatsächlich um einen typischen Detektivroman: Es gibt einen Detektiv (Quinn), einen Auftrag (Personenschutz), einen Täter (Stillman sen.)und ein Opfer (Stillman jun.). Typische Genre-Elemente treten auf; die traditionsreiche, wohlhabende Familie, in der Ungeheuerliches geschieht; außerdem „the loyal retainer, the voluptuous, ambigously available wife“ (Rowen 226). Auch der Detektiv verhält sich – dank seiner Kenntnisse aus Kriminalromanen – gegenüber seinen Auftraggebern anfangs ganz so, wie man es von einem souveränen hard-boiled detective à la Marlowe erwartet. Die Art, wie Quinn den Wegen des Verdächtigen folgt, jedes Detail notiert und jeden Schritt nachzeichnet, ist ebenfalls typisch für den klassischen Detektivroman. Es fehlt nur die Tat, und hier beginnen die Schwierigkeiten, da die Bedrohung für Stillman jun. durch seinen Vater, die der Leser für den zentralen Kriminalfall in City of Glass hält, sich in keiner Weise auch nur annähernd bestätigt[2]. Ab dem Moment, in dem ein Doppelgänger Stillmans auftaucht und somit der gesamte Auftrag bzw. die Möglichkeit, eine eindeutige Lösung des Falles zu erreichen, in Frage gestellt wird, ist klar, dass
[...]
[1] An jedem Bahnhofskiosk sind in Massenware hergestellte Krimis oft in Groschenheftchen erhältlich, und selbst heute angesehene Autoren wie Raymond Chandler oder Dashiel Hammett veröffentlichten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Werke in sogenannten pulp magazines.
[2] Der einzige Hinweis auf Stillman senior‘s Mordgelüste ist ein Brief, der angeblich bei der Polizei aufbewahrt wird, aber nie gezeigt wird (vgl. Auster 46-7). Es könnte sich also um eine Lüge Virginias handeln, zumal das angeblich in dem Brief geäußerte Rachemotiv schwer nachvollziehbar ist und die Dummheit, einen solchen Brief kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis zu verschicken, zu keiner der verschiedenen Stillman sen.-Identitäten, die Quinn kennenlernt, passt.
- Arbeit zitieren
- Stephan Orth (Autor:in), 2003, Paul Austers "City of Glass" als Detektivroman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23779
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