In der folgenden Arbeit wird die Struktur und Semantisierung des literarischen Raumes erläutert. Hierbei stellt sich die Frage nach der Definition des literarischen Raumes und nach dessen Darstellung in literarischen Texten. Des Weiteren ist zu klären aus welchen Elementen er besteht, ob er eine Bedeutung hat und wodurch er diese erhält. Zur Beantwortung dieser Fragen wird im ersten Kapitel das Raummodell von Jurij M. Lotman vorgestellt, das theoretisch den literarischen Raum und seine Elemente beschreibt.
Im zweiten Kapitel wird Lotmans Modell auf Le Père Goriot von Honoré de Balzac angewandt. Dieser Roman erschien 1834/35 in La Revue de Paris und wurde 1835 als Band im Rahmen von Balzacs erzählerischem Werk, unter dem Gesamttitel La Comédie humai-ne veröffentlicht. Hierbei soll insbesondere die Semantisierung der Räume innerhalb von Paris untersucht werden. Zu beantworten ist die Frage der Rolle der Räume im Roman und deren semantische Bedeutung. Ferner soll im dritten Kapitel auf die Protagonisten in den verschiedenen Handlungsräumen und auf ihre Grenzüberschreitungen innerhalb dieser Räume eingegangen werden. Dem schließt sich eine kurze Darstellung der moralischen und der sozialen Semantisierung an. Im letzten Kapitel wird die Metaphorik in Le Père Goriot erörtert. Balzac bedient sich der Tiermetaphorik, um die sozialen Prozesse der Gesellschaft in Relation zu naturhaften Prozessen zu setzen, die sich z.B. in der Tierwelt ab-spielen. Die Tiermetaphorik soll hinsichtlich des sozialen und moralischen Verhaltens der Gesellschaft untersucht werden. Zunächst wird sich die Darstellung auf die Maison Vau-quer und auf deren Bewohner konzentrieren. Schließlich wird die metaphorische Beschrei-bung von Paris die Gesamtdarstellung beenden. Paris wird als ein Naturraum geschildert, in dem das Gesetz des Stärkeren herrscht. Wird sich demnach die angeblich zivilisierte Gesellschaft als korrupt, gewalttätig und egoistisch entpuppen?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Struktur literarischer Texte - das Modell von Jurij M. Lotman
2.1 Das Kunstwerk
2.2 Der Raum
2.3 Die Grenze und das Ereignis
2.4 Die Figuren
2.5 Sujethafte und sujetlose Texte
3. Die Semantisierung der Handlungsräume
3.1 Provinz vs. Paris
3.2 Haus Vauquer vs. Les Beaux Quartiers
4. Die Protagonisten im Hinblick auf die Handlungsräume
4.1 Rastignac
4.2 Le Père Goriot
5. Die soziale vs. die moralische Semantisierung
5.1 Erstes Indiz für die Dominanz der moralischen über die soziale Semantisierung des Raumes
5.2 Dominanz der moralischen über die soziale Semantisierung des Raumes in der Schlussszene
6. Die metaphorische Darstellung von Paris
6.1 Die Metaphorisierung der Pension Vauquer
6.2 Paris als „forêt du Nouveau-Monde“
6.3 Paris als „océan“ und „bourbier“
7. Schlusswort
Literaturverzeichnis
a Primärliteratur
b Sekundärliteratur
Anhang
1. Einleitung
In der folgenden Arbeit werden die Struktur und Semantisierung des literarischen Raumes erläutert. Hierbei stellt sich die Frage nach der Definition des literarischen Raumes und nach dessen Darstellung in literarischen Texten. Des Weiteren ist zu klären aus welchen Elementen er besteht, ob er eine Bedeutung hat und wodurch er diese erhält. Zur Beantwortung dieser Fragen wird im ersten Kapitel das Raummodell von Jurij M. Lotman vorgestellt, das theoretisch den literarischen Raum und seine Elemente beschreibt.[1]
Im zweiten Kapitel wird Lotmans Modell auf Le Père Goriot von Honoré de Balzac[2] angewandt. Dieser Roman erschien 1834/35 in La Revue de Paris und wurde 1835 als Band im Rahmen von Balzacs erzählerischem Werk, unter dem Gesamttitel La Comédie humaine veröffentlicht. Hierbei soll insbesondere die Semantisierung der Räume innerhalb von Paris untersucht werden. Zu beantworten ist die Frage der Rolle der Räume im Roman und noch deren semantische Bedeutung. Ferner soll im dritten Kapitel auf die Protagonisten in den verschiedenen Handlungsräumen und auf ihre Grenzüberschreitungen innerhalb dieser Räume eingegangen werden. Dem schließt sich eine kurze Darstellung der moralischen und der sozialen Semantisierung an. Im letzten Kapitel wird die Metaphorik in Le Père Goriot erörtert. Balzac bedient sich der Tiermetaphorik, um die sozialen Prozesse der Gesellschaft in Relation zu naturhaften Prozessen zu setzen, die sich z.B. in der Tierwelt abspielen. Die Tiermetaphorik soll hinsichtlich des sozialen und moralischen Verhaltens der Gesellschaft untersucht werden. Zunächst wird sich die Darstellung auf die Maison Vauquer und auf deren Bewohner konzentrieren. Schließlich wird die metaphorische Beschreibung von Paris die Gesamtdarstellung beenden. Paris wird als ein Naturraum geschildert, in dem das Gesetz des Stärkeren herrscht. Wird sich demnach die angeblich zivilisierte Gesellschaft als korrupt, gewalttätig und egoistisch entpuppen?
2. Die Struktur literarischer Texte - das Modell von Jurij M. Lotman
Bevor im folgenden Abschnitt auf das Raummodell von Jurij M. Lotman eingegangen wird, soll zunächst der Begriff des „literarischen Raumes“ kurz erläutert werden:
Raum ist „ein Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen“.[3] Der literarische Raum fungiert als Bedeutungsträger und ist als „Bestandteil eines fiktionalen Wirklichkeitsmodells“[4] von dem wirklichen, außersprachlichen Raum, d.h. von der textexternen Wirklichkeit, zu unterscheiden. Demnach ist ein literarischer Text, der einen Raum darstellt, die modellhafte Abstraktion einer vorgegebenen Wirklichkeit. Der literarische Text ist als ein modellbildendes System zu verstehen, das die Relation des Textes zur realen, textexternen Wirklichkeit modelliert.
2.1 Das Kunstwerk
Lotmans Auffassung nach ist ein literarischer Text ein Kunstwerk, das selbst durch Anfang und Ende begrenzt ist und „ein endliches Modell der unendlichen Welt“[5] darstellt. Das Kunstwerk bildet ein Modell eines unbegrenzten Objektes (Wirklichkeit) mit Hilfe eines endlichen Textes.[6] Es handelt sich jedoch bei dem literarischen Text nicht um eine Kopie der Wirklichkeit. Dieser ist vielmehr eine Abbildung des Unendlichen im Endlichen, des Ganzen in einer Episode. Deshalb ist das Kunstwerk „eine Abbildung einer Realität auf eine andere, d.h. immer eine Übersetzung“.[7]
Die Abbildung äußert sich in jedem literarischen Text anhand zweier Aspekte. Ersteren bezeichnet Lotman als „Aspekt der Fabel“, unter dem man die Modellierung eines bestimmten speziellen Objektes versteht, d.h. die Abbildung irgendeiner Episode der Wirklichkeit.[8] Das Schicksal des Helden ist die Abbildung des Schicksals einzelner Menschen, die uns in der alltäglichen Welt begegnen. Bezogen auf den Roman Le Père Goriot bedeutet dies, dass z.B. die Person Rastignac als ein spezielles Beispiel für einen jungen Mann im 19. Jahrhundert geschildert wird. Beim zweiten spricht Lotman vom „mythologischen Aspekt“. Der Text modelliert ein universales Objekt, das ganze Universum.[9] Das Schicksal des Helden kann sich auf das Schicksal anderer Menschen der Epoche abbilden lassen. In Hinblick auf den Roman repräsentiert z.B. die Person Rastignac viele junge Männer, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Das Kunstwerk kann demzufolge als ein abgegrenzter, endlicher Raum betrachtet werden, der die äußere Welt abbildet. Was ist folglich unter dem künstlerischen Raum zu verstehen?
2.2 Der Raum
Lotman versteht unter dem künstlerischen Raum „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.).[10] Der Raum, in dem sich die Handlung abspielt, ist kein neutraler Schauplatz oder Hintergrund, sondern wird in literarischen Texten mit Bedeutung geprägt, d.h. der Raum ist bedeutungshaltig oder semantisiert. Die menschliche, visuelle Wahrnehmung ist grundsätzlich räumlich ausgerichtet, d.h. der Mensch versucht gedankliche Begriffe mit Hilfe räumlicher Relationen zu beschreiben. Deshalb können Begriffe, „die an sich nicht räumlicher Natur sind in räumlichen Modellen“[11] dargestellt werden: „hoch“ vs. „niedrig“, „rechts“ vs. „links“ können jeweils mit „gut“ vs. „böse“ belegt werden. Die Interpretationen hängen von dem Weltbild des jeweiligen Kulturmodells der Menschen ab. Deshalb ist z.B. „rechts“ auf der politischen Ebene mit „böse“ oder „schlecht“ belegt, während unser politisches Kulturmodell den Begriff links mit „gut“ kennzeichnet. In einem Text kann demnach die Welt der Armen oder Reichen durch bestimmte Begriffe räumlich dargestellt werden. Die Welt der Armen wird mit den Merkmalen: „Vorstädte“, „Slums“ „Dachstuben“ versehen, während die Welt der Reichen die Begriffe: „Hauptstraße“, „Paläste“ erhält.[12]
2.3 Die Grenze und das Ereignis
Der Handlungsraum eines Textes ist in zwei disjunkte, d.h. verschiedene Teilbereiche gegliedert, die durch eine Grenze voneinander getrennt sind. Die Grenze ist das wichtigste topologische Merkmal des Raumes, und ihre Überschreitung ist normalerweise nicht erlaubt.[13] Auch müssen die beiden Teilbereiche verschiedene Strukturen aufweisen, d.h. diese zwei Teilbereiche stehen in Opposition von Innenraum und Außenraum zueinander. Der Innenraum steht für das „Wir“ einer gegebenen kulturellen Formation, der Außenraum verkörpert das „Sie“ der anderen, in den Innenraum nicht Integrierten.[14]
Der Fall, in dem der Raum des Textes von einer Grenze in zwei Teile geteilt wird und jede Figur einem dieser Räume zugeordnet wird, ist der grundlegende und wichtigste.[15] So ist z.B. in mythologischen Texten die Welt in den Raum der Lebenden und in den Raum der Toten (Hades/Unterwelt) eingeteilt. Die Grenze zwischen beiden Räumen kann nur von einem Helden überschritten werden, z.B. Orpheus. Es treten jedoch auch komplizierte Fälle auf, so Lotman. Ein solcher kommt dann vor, wenn der Raum in mehr als zwei Teilräume aufgeteilt ist und die Figuren in mehreren Räumen agieren.[16] Hierbei handelt es sich um eine sogenannte Polyphonie der Räume, in der im Gegensatz zur vereinfachten Darstellung mehrere Kulturmodelle kombiniert werden können.[17] Lotman fügt noch hinzu, dass die Einteilung in zwei Räume und die deutliche Zuordnung der Figuren eine vereinfachte Darstellung ist.
Erlaubt ein literarischer Text die Überschreitung der Grenze durch einen Helden, dann ist der Text sujethaft bzw. enthält ein narratives Ereignis. „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“[18], d.h. überwindet eine Figur die Grenze, bricht sie mit den Normen des ihr zugewiesenen Handlungsraumes. Der ordre social wird missachtet. Das Ereignis kann demnach als ein revolutionäres Element charakterisiert werden, das sich den gültigen gesellschaftlichen Vorgaben widersetzt. Nach Lotman ist „das Ereignis die Verletzung irgendeines Verbots, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen.“[19] Folglich stellt das Sujet nach Lotman die kulturell vorgegebene Ordnung in Frage. Bewegt sich der Held innerhalb des ihm zugewiesenen Handlungsraumes, dann stellt dies kein Ereignis dar, und der Text bleibt sujetlos. Die Begriffe sujetlos und sujethaft werden später noch genauer dargestellt. Zunächst werden jedoch die Handlungsträger im literarischen Raum betrachtet.
2.4 Die Figuren
Lotman unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Figuren. Zum einen gibt es die unbeweglichen Figuren, für welche die Grenzüberschreitung verboten ist, zum anderen existieren die beweglichen Figuren, die das Recht haben die Grenze zu überschreiten.[20] Im Roman Le Père Goriot wird sich zeigen, dass die Person Rastignac eine bewegliche Figur ist. Rastignac wird Grenzen überschreiten und sich sozial von unten nach oben durchkämpfen. Es ist zu beachten, dass die Handlungsträger oder Figuren nicht immer einzelne Personen sein müssen. Sie können auch „Gruppen, Klassen, Völker“[21] sein.
Hat der Held die Grenze überwunden, tritt er in das „Gegenfeld“ ein.[22] Im Gegenfeld eröffnen sich dem Held zwei Möglichkeiten. Geht er im Gegenfeld auf, d.h. hat er sein angestrebtes Ziel erreicht, dann verwandelt er sich von einer beweglichen in eine unbewegliche Figur, und die Bewegung, d.h. die Handlung, kommt zum Stillstand. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Handlung weitergeht. Es kommt nicht zum Stillstand, sondern der Held bleibt eine bewegliche Figur und strebt eine weitere Grenzüberschreitung an. Wichtig hierbei ist, dass der Held nicht immer eine neue Grenze überschreiten muss. Er kann auch wieder in den Raum zurückgehen, aus dem er gekommen ist. Der Held kann folglich eine weitere Entwicklung oder eine Rückentwicklung vollziehen.
2.5 Sujethafte und sujetlose Texte
Wie im Abschnitt 2.3 schon erwähnt, differenziert Lotman zwischen den sujethaften und den sujetlosen Texten. Während bei den sujethaften Texten eine Grenzüberschreitung möglich ist, trifft dies für die sujetlosen Texte nicht zu. Die sujetlosen Texte haben klassifikatorischen Charakter, d.h. „sie bestätigen eine bestimmte Welt und deren Organisation“.[23] Diese Art von Texten ist „auf eine bestimmte Weise aufgebaut, und eine Verschiebung seiner Elemente, welche die festgesetzte Ordnung verletzen würde“[24], ist nicht erlaubt. Sehr deutlich wird dies am Beispiel eines Telefonbuches. Die darin enthaltene Ordnung nach Nachname, Vorname usw., beziehungsweise die alphabetische Reihenfolge, kann nicht ohne weiteres vertauscht werden. Ein weiteres Beispiel wäre ein Kalender. Auch dort kann keine willkürliche Abfolge stattfinden, denn die Kalenderblätter lassen sich nicht beliebig anordnen.
Die sujethaften Texte werden auf der Basis der sujetlosen Texte errichtet und sind deren Negation.[25] Wie bei den sujetlosen Texten wird auch hier das Verbot der Grenzüberschreitung beibehalten. Es wird jedoch eine weitere Figur eingeführt, die dieses Verbot missachten darf. Es handelt sich bei den sujethaften Texten um ein sekundäres System, das die zugrunde liegende sujetlose Struktur, d.h. das primäre System, überlagert.[26] Deutlich wird hierbei, dass beide Schichten in einem Konflikt zueinander stehen. Das, was das primäre System, also der sujetlose Text, als unmöglich definiert, nämlich die Überschreitung der Grenze, prägt wiederum die sujethaften Texte.[27] Demnach sind die sujethaften Texte eine Erweiterung der sujetlosen Texte, die von dem sekundären System dominiert werden.
3. Die Semantisierung der Handlungsräume
Nachdem die theoretische Grundlage zur Semantisierung des literarischen Raumes erläutert wurde, wird im folgenden Kapitel das Raummodell von Lotman auf den Roman Le Père Goriot angewandt, und darüber hinaus soll die Frage beantwortet werden, welche Rolle die Räume im Roman spielen bzw. welche Bedeutung ihnen zukommt. Dementsprechend sollen zwei Oppositionspaare näher untersucht werden, an denen man die Semantisierung der Räume sehr gut veranschaulichen kann. Die Opposition Provinz vs. Paris bildet zunächst den ersten Untersuchungsschwerpunkt.
3.1 Provinz vs. Paris
Die Stadt Paris symbolisiert die korrupte Metropole. Es herrscht keine Moral, sondern Bestechung und Betrug regieren das tägliche Leben.
Les particularités de cette scène pleine d’observations et de couleurs locales ne peuvent être appréciées qu’entre les buttes de Montmartre et les hauteurs de Montrouge, dans cette illustre vallée de plâtras incessamment près de tomber et de ruisseaux noirs de boue ; vallée remplie de souffrances réelles, de joies souvent fausses, et si terriblement agitée qu’il faut je ne sais quoi d’exorbitant pour y produire une sensation de quelque durée.[28]
Paris wird als ein Ort der moralischen Verderbnis und als ein Ort des Bösen charakterisiert. Es wird zum Tal der Tränen stilisiert.[29] Jeder, der aus der Provinz kommt, kann in Paris Karriere machen, wenn er über die dazu nötigen finanziellen Mittel verfügt. Jedoch muss der „unschuldige“ Provinzler, d.h. der von Korruption verschont Gebliebene, sich der Gesellschaft der Großstadt anpassen. Tut er dies, dann rennt er in seine moralische Verderbnis. Verfällt er der korrupten Gesellschaft nicht, bleibt er vom moralischen Abstieg verschont, muss aber mit dem Verstoß aus der Pariser Gesellschaft rechnen. Das im Zeichen der Korruption stehende Paris bildet nun eine Opposition zur noch moralisch relativ integren, idyllischen Provinz, die von der gesellschaftlichen Entwicklung noch verhältnismäßig rein und unberührt geblieben ist.[30] So erinnert sich Rastignac an seine Familie in der Provinz. Die Briefe seiner Mutter und seiner Schwester erreichen ihn „wie von einem fernen Ort der Reinheit“[31], des Glücks und der Unschuld. „Innocente pour elle [femme] et prévoyante pour moi, elle [femme] est comme l’ange du ciel qui pardonne les fautes de la terre sans les comprendre“.[32] Die Provinz ist Zuflucht „de la vie heureuse que mène le vrai gentilhomme de son château.“[33] Doch Reinheit und Unschuld sind von der herrschenden Gesellschaft in Paris längst durch Korruption und Betrug ersetzt worden. „La corruption est en force, le talent est rare. Ainsi, la corruption est l’arme de la médiocrité qui abonde […].“[34] Die Opposition Stadt vs. Land spielt jedoch nur am Rande eine Rolle, so Warning. Vielmehr erhalten die Oppositionen innerhalb von Paris eine wichtige Bedeutung, also das Haus und vor allem das Interieur.[35] Zwar wird die Geschichte des aus der Provinz kommenden Studenten Rastignac beschrieben, was jedoch nicht mehr der Anfangs- und Endpunkt der eigentlichen Handlung ist. Ebenso haben die Straßen in Paris an Bedeutung verloren. Sie werden zu Orten der anonymen Menge.[36] Die wesentlichen Begegnungen ereigne sich nicht mehr auf der Straße, sondern werden in die Wohnräume der Häuser verlegt. Dementsprechend finden die entscheidenden Begegnungen der Handlung u.a. im Hause Vauquer, im Hause Restaud und im Hause Nucingen statt.
3.2 Haus Vauquer vs. Les Beaux Quartiers
Das Haus Vauquer, das als Pension von der Witwe Madame Vauquer geführt wird, liegt in der Rue Neuve-Saint-Geneviève im Faubourg Saint Marceau.
La maison où s’exploite la pension bourgeoise appartient à madame Vauquer. Elle est située dans le bas de la rue Neuve-Sainte-Geneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse vers la rue de l’Arbalète par une pente si brusque et si rude que les chevaux la montent ou la descendent rarement.[37]
Die Rue Neuve-Sainte-Geneviève ist stark abschüssig und an ihrem untersten Ende liegt die Maison Vauquer. Aufgrund der Abschüssigkeit ist das Viertel unbekannt und wird nicht oft frequentiert. Selbst Zugpferde meiden diese steile Straße und auch den Menschen ist das Viertel weniger vertraut. „Nul quartier de Paris n’est plus horrible, ni, disons-le, plus inconnu.“[38] Deshalb bewohnen gescheiterte Existenzen, die aufgrund unterschiedlichster Einzelschicksale keinen Platz in der Pariser Gesellschaft einnehmen, diesen Ort. Die Pension Vauquer ist demnach, auch räumlich gesehen, nicht gut situiert. Daraus ergibt sich eine erste räumliche Semantisierung, nämlich dergestalt, dass die Lage (am untersten Ende der Straße) etwas über die Pension selbst aussagt. Der Begriff „unten“ ist hier mit Armut, Chancenlosigkeit und Resignation semantisch belegt. Die Lage der Pension Vauquer kann bildlich auch mit einer Rutschbahn assoziiert werden, auf der alle gescheiterten Figuren dem sozialen Abstieg entgegen „rutschen“ und bei Madame Vauquer eine neue Bleibe finden.
Einen Gegensatz zur tief gelegenen Maison Vauquer bilden die Beaux Quartiers. Diese bestehen aus dem Faubourg Saint-Germain und aus der mit ihm rivalisierenden Chaussée-d’Antin. Den Faubourg Saint-Germain bewohnen die großen Adelsfamilien. In der Chaussée d’Antin residieren das Finanzbürgertum und die Aristokratie. Im Vergleich zur semantisch mit unten belegten Maison Vauquer erscheinen die Beaux Quartiers automatisch als hoch und als lokales Äquivalent der „sommités du monde aristocratique“, der „déités parisiennes“.[39] Der Begriff „hoch“ steht hier für Reichtum und Erfolg. So kommt auch der junge Jurastudent Rastignac aus der Provinz in die Großstadt Paris, um sein Studium zu absolvieren und Karriere zu machen. Dort angekommen wendet er sich an seine Tante Madame de Marcillac, die ihn mit Madame de Beauséant bekannt macht. So lernt Rastignac nicht nur die Aristokratie und die Adelsfamilien kennen, sondern auch die Viertel, in denen sie verkehren.
Il venait de reconnaître en madame la vicomtesse de Beauséant l’une des reines de la mode à Paris, et dont la maison passait pour être la plus agréable du faubourg Saint-Germain.[40]
[...]
[1] Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte, übers. v. R.-D. Keil, München ³1989.
[2] Balzac, Honoré de, Le Père Goriot, hrsg. v. Claude Aziza, Paris 1998, Pocket Classique.
[3] Nünning, Ansgar (Hg.), „Raum“, in: Metzler Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart/Weimar ²2001, S. 536.
[4] Nünning, a.a.O., S. 537.
[5] Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 301.
[6] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 303.
[7] Lotman, a.a.O., S. 301.
[8] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 303.
[9] Vgl. ebda.
[10] A.D. Aleksandrov, „Abstraktnye prostranstva“, in: Matematika, eë soderžanie, metody i značenie, Bd. III, M., 1956, S. 151. Zitiert nach Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 312.
[11] Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 313.
[12] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 337.
[13] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 327.
[14] Warning, Rainer, „Der Chronotopos Paris bei den ,Realisten’“, in: Ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 282.
[15] Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 328.
[16] Vgl. ebda.
[17] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 328-329.
[18] Lotman, a.a.O., S. 332.
[19] Lotman, a.a.O., S. 336.
[20] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 346.
[21] Ebda.
[22] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 342.
[23] Lotman, a.a.O., S. 336.
[24] Lotman, a.a.O., S. 337.
[25] Vgl. Lotman, a.a.O., S 338.
[26] Vgl. Lotman, a.a.O., S. 339.
[27] Vgl. ebda.
[28] Balzac, Le Père Goriot, S. 21-22.
[29] Vgl. Warning, Rainer, „Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie humaine“, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/ Stierle, Karlheinz/ Warning, Rainer (Hg.), Honoré de Balzac, München 1980, S. 17.
[30] Vgl. Warning, a.a.O., S. 19.
[31] Ebda.
[32] Balzac, Le Père Goriot, S. 119.
[33] Balzac, a.a.O., S. 246.
[34] Balzac, a.a.O., S. 130.
[35] Vgl. Warning, „Der Chronotopos Paris“, S. 279.
[36] Vgl. ebda.
[37] Balzac, Le Père Goriot, S. 22.
[38] Balzac, a.a.O., S. 23.
[39] Balzac, a.a.O., S. 53.
[40] Ebda.
- Quote paper
- Anne Sophie Günzel (Author), 2003, Die Semantisierung der Großstadt in Honoré de Balzacs "Le Père Goriot", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23531
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