In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte sich in Europa eine zunehmend stärker
werdende Tendenz, die innereuropäischen Handelshemmnisse in vielen Bereichen des
Wirtschaftslebens abzubauen, um einerseits einen für alle EU- Länder zugänglicheren
gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen und andererseits den Handelsblöcken USA und Asien
wirksamer wirtschaftlich entgegentreten zu können.
Um die Öffnung des gemeinsamen Marktes durch eine wettbewerbsfördernde
Wirtschaftspolitik auch großen mitgliedsstaatlichen Kapitalgesellschaften zugute kommen zu
lassen, verabschiedete die EU am 08.10.2001 die Verordnung (EG) 2157/20011 zur
Schaffung der Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Diese Verordnung,
deren Erlass bereits seit 1959 immer wieder angeregt und diskutiert wurde2, soll es nunmehr
kapitalstarken und international ausgerichteten Gesellschaften ermöglichen, ihr
Wirtschaftspotential durch Konzentrations- und Fusionsmaßnahmen länderübergreifend
zusammenzufassen3. Die genaue und detaillierte Kodifizierung der notwendigen rechtlichen
Rahmenbedingungen, vergleichbar einem europäischen Aktienrecht, wurde allerdings im
Verhandlungszeitraum der letzten Jahrzehnte zunehmend abgelehnt, was ein gegenüber den
ersten Entwürfen zur SE-VO im Umfang erheblich geschmälertes Regelwerk zur
Konsequenz hatte. Viele Bereiche des Aktienrechts der SE blieben ungeregelt bzw. wurden
durch Verweise auf die in den jeweiligen Mitgliedsstaaten geltenden Rechtsnormen versucht
abzudecken. Inwieweit dies gelungen ist und in welchen Bereichen europäischer legislativer
Handlungsbedarf besteht, wird sich erst mit den ersten SE-Gründungen bis ins Detail zeigen.
Die vorliegende Arbeit versucht, einen Teilbereich der SE-VO daraufhin zu beleuchten, wie
und nach welchen Vorschriften bestimmte Unternehmensentwicklungen rechtlich zu
behandeln sind und in welchen Punkten gesetzgeberischer Ausfüllungsbedarf besteht.
Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist daher der kaum durch die SE-VO geregelte
Bereich der Beendigung und Umwandlung der SE. Entgegen früherer Entwürfe zur SE-VO
(etwa dem Verordnungsvorschlag von 1991, der ausführliche Vorschriften in den Art. 115 –
130 SE-VOV 1991 vorsah) enthält die aktuelle Fassung nur wenige Bestimmungen, wie in
den genannten Fällen zu verfahren ist;[...]
1 Abgedruckt im Abl.EU, L 294/1, 2001.
2 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 392, m. w. N.
3 Vgl. Abs. II der Einführung zur Verordnung, a.a.O.
Inhaltsverzeichnis
A. Abkürzungsverzeichnis
C. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Verweisung auf nationales Recht als Ausgangsproblem der Art. 63 ff SE-VO
III. Die Insolvenz der SE
a.) Bestimmung der maßgeblichen Rechtsvorschriften
b.) Die Voraussetzungen des Insolvenzverfahrens, Art. 63 SE-VO, §§ 17 ff InsO
c.) Rechtsfolgen
d.) Die zwingende flankierende Vorschrift des Art. 13 SE-VO
IV. Die Auflösung der SE
a.) Die ausdrücklichen Auflösungsgründe nach Art. 63f. SE-VO
b.) Weitere wichtige Auflösungsgründe
aa.) Beschluss der Hauptversammlung
bb.) Insolvenz als Auflösungsgrund, § 262 I Nr. 3 AktG
cc.) Zeitablauf, § 262 I Nr. 1 AktG
dd.) Nichtigkeitsklage, § 275 AktG; Verfügung des Registergerichts
wg. Satzungsfehlern, § 262 I Nr. 5 AktG, Löschung, § 141 a, 142, 144 FGG
c.) Liquidation der Gesellschaft
V. Die Rückumwandlung der SE
a.) Voraussetzungen und Einschränkungen nach Art. 66 SE-VO
b.) Spaltung einer SE in nationale Aktiengesellschaften
c.) Verschmelzung der SE mit einer Aktiengesellschaft nationalen Rechts
d.) Missbrauchsproblematik
VI. Anforderungen an ein Ausführungsgesetz
VII. Ergebnis
A. Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
C. Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
I. Einleitung
In den vergangenen Jahrzehnten entwickelte sich in Europa eine zunehmend stärker werdende Tendenz, die innereuropäischen Handelshemmnisse in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens abzubauen, um einerseits einen für alle EU- Länder zugänglicheren gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen und andererseits den Handelsblöcken USA und Asien wirksamer wirtschaftlich entgegentreten zu können.
Um die Öffnung des gemeinsamen Marktes durch eine wettbewerbsfördernde Wirtschaftspolitik auch großen mitgliedsstaatlichen Kapitalgesellschaften zugute kommen zu lassen, verabschiedete die EU am 08.10.2001 die Verordnung (EG) 2157/2001[1] zur Schaffung der Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Diese Verordnung, deren Erlass bereits seit 1959 immer wieder angeregt und diskutiert wurde[2], soll es nunmehr kapitalstarken und international ausgerichteten Gesellschaften ermöglichen, ihr Wirtschaftspotential durch Konzentrations- und Fusionsmaßnahmen länderübergreifend zusammenzufassen[3]. Die genaue und detaillierte Kodifizierung der notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen, vergleichbar einem europäischen Aktienrecht, wurde allerdings im Verhandlungszeitraum der letzten Jahrzehnte zunehmend abgelehnt, was ein gegenüber den ersten Entwürfen zur SE-VO im Umfang erheblich geschmälertes Regelwerk zur Konsequenz hatte. Viele Bereiche des Aktienrechts der SE blieben ungeregelt bzw. wurden durch Verweise auf die in den jeweiligen Mitgliedsstaaten geltenden Rechtsnormen versucht abzudecken. Inwieweit dies gelungen ist und in welchen Bereichen europäischer legislativer Handlungsbedarf besteht, wird sich erst mit den ersten SE-Gründungen bis ins Detail zeigen.
Die vorliegende Arbeit versucht, einen Teilbereich der SE-VO daraufhin zu beleuchten, wie und nach welchen Vorschriften bestimmte Unternehmensentwicklungen rechtlich zu behandeln sind und in welchen Punkten gesetzgeberischer Ausfüllungsbedarf besteht. Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist daher der kaum durch die SE-VO geregelte Bereich der Beendigung und Umwandlung der SE. Entgegen früherer Entwürfe zur SE-VO (etwa dem Verordnungsvorschlag von 1991, der ausführliche Vorschriften in den Art. 115 – 130 SE-VOV 1991 vorsah) enthält die aktuelle Fassung nur wenige Bestimmungen, wie in den genannten Fällen zu verfahren ist; vielmehr arbeitet die VO fast ausschließlich mit Verweisungen in das einzelstaatliche Recht.
Aus diesem Grund wird daher zunächst die Verweisungssystematik der SE-VO (insbesondere der Art. 63 ff.) dargestellt, um im Anschluss die verschiedenen Fälle zu untersuchen, die unter den Oberbegriff der „Beendigung“ zu subsumieren sind. Als Spezialfall hieraus wird auch die Rückumwandlung der SE in eine Aktiengesellschaft nationalen Rechts betrachtet, sowie Anforderungen an ein deutsches Ausführungsgesetz für bestimmte Teile der VO. Schließlich soll zusammenfassend die Praktikabilität der SE-VO in ihrer jetzigen Form erörtert werden.
II. Die Verweisung auf nationales Recht als Ausgangsproblem der Art. 63 ff SE-VO
Wie eingangs erwähnt, arbeitet die SE-VO mit einer ausgeprägten Verweisungstechnik, deren Zweck es ist, die Regelungsdichte zu Gunsten einer multinationalen Interessen gerecht werdenden Rechtsform gering zu halten. Dies verdeutlicht bereits, wie unterschiedlich die Vorstellungen in der EU hinsichtlich eines einheitlichen Regelwerks waren. Die Verweisungen innerhalb der VO, etwa die Generalverweisung des Art. 9 I c.) SE-VO[4] oder diejenige in Art. 63 in das Recht der Mitgliedsstaaten, führen zu einer Vielfältigkeit der auf die SE anwendbaren Rechtsnormen und somit zu einer Reihe unterschiedlicher denkbarer SE-Gesellschaften[5].
Die Generalverweisung des Art. 9 I arbeitet hier mit einer Regelungspyramide, die zunächst die Bestimmungen der VO, sofern diese es zulässt, die Satzung der SE und schließlich für die ungeregelten Bereiche die Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten für anwendbar erklärt. Für den Hauptgegenstand dieser Arbeit, die Beendigung der SE, wurden in Art. 63 eigene Verweisungsregeln geschaffen, welche vorsehen, dass die Auflösung, Liquidation, Zahlungsunfähigkeit, Zahlungseinstellung, ähnliche Verfahren und auch die Beschlussfassung durch die Hauptversammlung mittels derjenigen Rechtsvorschriften abzuwickeln sind, die für eine Aktiengesellschaft maßgeblich wären, die nach dem Recht des Sitzstaates gegründet worden ist. Diese der Generalverweisung durch das gemeinschaftsrechtliche Spezialitätsprinzip vorgehende einfache Verweisung verlangt, dass nationales Recht anzuwenden ist; dies bedeutet bei genauer Betrachtung der Norm, dass dasjenige nationale Recht maßgeblich ist, in welchem die SE zur Zeit der Beendigung ihren Sitz hat. Art. 63 fingiert hier den Fall, dass die SE nach dem Recht des Sitzstaates gegründet worden ist. Die Fiktion, die nur scheinbar Elemente der „Gründungstheorie[6]“ berücksichtigt, stellt sicher, dass stets das Recht des Sitzstaates anzuwenden ist. Diese Regelung erscheint daher auch eine gewisse Tendenz[7] des europäischen Gesetzgebers in Richtung „Sitztheorie[8]“ zu signalisieren- wie es auch im europäischen Insolvenzrecht etwa der Fall ist, vgl. Art. 3 I EUInsVO[9]. Jedenfalls werden über genannte Bestimmung sowohl die Anhänger der Sitztheorie als auch die der Gründungstheorie zum gleichen Ergebnis gelangen.
Diese Bestimmungen, die nicht nur das anzuwendende Recht bestimmen, sondern zudem festlegen, welches mitgliedsstaatliche Recht einschlägig ist, sind als Sachnormverweisungen zu klassifizieren, denen sowohl die Funktion von speziellem EG-Rangkollisionsrecht als auch internationalprivatrechtliche Funktion zukommt[10].
Es bleibt schließlich die Frage, inwieweit das Satzungsrecht der Aktiengesellschaften zur Anwendung gelangt und ob dies in ähnlichem Umfang wie etwa im deutschen Aktienrecht Gültigkeit besitzt. Grundsätzlich könnte man die Antwort hierauf in Art. 9 lit. c (iii) suchen, was jedoch voraussetzte, dass es sich um einen nicht von der VO geregelten Teilbereich handelt. Dies hätte die Folge, dass die Anwendbarkeit des Satzungsstatuts zu bejahen wäre[11].
Die Beendigung der SE ist als solche zwar in Art. 63 namentlich benannt, jedoch fehlt es an einzelnen Vorschriften, die eine „Regelung“ oder „teilweise Regelung“ im Sinne des Art. 9 darstellten. Da an dieser Stelle für die Beendigung der SE auf das nationale Aktienrecht verwiesen wird, läge es nahe, das Satzungsrecht in allen denjenigen Fällen für gültig anzuerkennen, in denen dies auch das nationale Aktienrecht vorsieht. Vergleicht man jedoch die Verweisung des Art. 63 in systematischer Hinsicht mit derjenigen des Art. 9, so kann man feststellen, dass erstere Vorschrift mit derjenigen des Art. 9 I c (iii) identisch ist. Man wird somit davon ausgehen müssen, dass Alternative (iii), die die Anwendbarkeit des Satzungsrechts nach Maßgabe des nationalen Rechts vorsieht, nicht von der einfachen Verweisung des Art. 63 umfasst wird und daher Satzungsrecht für die in Art. 63 aufgezählten Fälle unanwendbar ist.
III. Die Insolvenz der SE
Die Insolvenz von Aktiengesellschaften wird auch im europäischen, grenzübergreifenden Markt eine wichtige Rolle spielen. Daher gilt es zu untersuchen, wie die Insolvenz einer SE nach der SE-VO, insbesondere in Bezug auf die sonstigen europäischen Insolvenzgrundsätze, etwa die EUInsVO[12], rechtlich zu handhaben ist. Aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung sei die Insolvenz den übrigen Auflösungsgründen der SE-VO vorangestellt.
a.) Bestimmung der maßgeblichen Rechtsvorschriften
Zentrale Norm und zugleich einzige Bestimmung bezüglich der SE-Insolvenz in der SE-VO ist Art. 63, der auf dasjenige einzelstaatliches Recht verweist, in dem die SE ihren satzungsmäßigen Sitz hat. Daneben ist allerdings zudem die EUInsVO zu nennen, die spezielle Regelungen für Insolvenzen international tätiger Unternehmen bereithält. Nach Art. 3 der EUInsVO ist für die Insolvenz das Gericht desjenigen Mitgliedsstaates zuständig, in dem der Schuldner seinen Interessenmittelpunkt hat, wobei für juristische Personen widerleglich vermutet wird, dass dieser am Ort des satzungsmäßigen Sitzes liegt. Es stellt sich daher für den theoretisch denkbaren Fall, dass eine juristische Person unter Widerlegung der Vermutung in Art. 3 EUInsVO das Insolvenzverfahren in einem anderen Staat als dem Sitzstaat eröffnen lassen möchte, die Frage, inwieweit Art. 3 EUInsVO neben Art. 63 SE-VO Anwendung findet. Die Vorschrift der SE-VO und der EUInsVO nebeneinander anzuwenden wäre nur dann möglich, wenn das Merkmal des „Interessenmittelpunkts“ mit dem des „Verwaltungssitzes“ inhaltlich identisch wäre, da ein Auseinanderfallen von satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz für die SE nicht vorgesehen ist (vgl. Art. 7 SE-VO). Für eine derartige Gleichsetzung fehlen jedoch schlichtweg die entsprechenden Anhaltspunkte im Gesetz. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, bezüglich der SE die Regelung des Art. 63 als der EUInsVO vorgehendes lex specialis zu verstehen. Weiterhin bedeutet dies, dass eine Beurteilung des fraglichen Sachverhaltes sowohl in Hinsicht auf verfahrensrechtliche als auch materielle Vorschriften nicht nach der EUInsVO erfolgt[13] ; auch die Frage, ob überhaupt ein insolvenzrechtlicher Sachverhalt gegeben ist, bestimmt sich ausschließlich nach den Regelungen des Sitzstaates- die u. U. schwierige Frage der so genannten „Qualifikation“ unter Heranziehung der von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Definitionen stellt sich hier nicht[14]. Die Bestimmung hat nach dem Wortlaut der SE-VO stets nach dem Recht des Sitzstaates zu erfolgen. Die Konsequenz dieser Überlegung ist, dass in allen denkbaren Fällen das nationale Recht des Sitzstaates anzuwenden ist, für Deutschland folglich die InsO. Auch die in Europa unterschiedlich beantwortete Frage der Erstreckung eines inländischen Insolvenzverfahrens auf ausländisches Schuldnervermögen muss sich nicht einheitlich des Universalitäts- oder des Territorialitätsprinzips bedienen, (für Dtld. vgl. Art. 102 EGInsO), sondern kann durch die jeweiligen nationalen Regelungen beantwortet werden; insbesondere ist es nicht erforderlich, die Bestimmung des anzuwendenden Rechts dem IPR bzw. dem IIR des Mitgliedsstaates zu überlassen[15].
Die Verweisungssystematik des für die Insolvenz der SE anwendbaren Rechts geht jedoch noch weiter: Die InsO, auf die im Rahmen der SE-VO für Deutschland verwiesen wird, bestimmt eine entsprechende Anwendung der ZPO (§ 4 InsO) in Bezug auf das Insolvenzrecht. Die Anwendung auch der ZPO ist jedoch nur notwendige Konsequenz, da ein eigenes Verfahrensrecht nicht in der SE-VO angesprochen wird, und die prozessualen Mittel der ZPO die InsO letztlich ergänzen und funktionsfähig machen[16]. Dies macht darüber hinaus deshalb Sinn, weil die SE ohnehin für ihr Handeln in einem Mitgliedsstaat dem jeweiligen nationalen Privatrecht unterliegt. Es wäre zudem unzweckmäßig, hinsichtlich materieller und prozessualer Vorschriften auf unterschiedliches nationales Recht zurückzugreifen. Insoweit ist auch auf die allgemeinen Grundsätze und Vorschriften der ZPO zurückzugreifen.
Für die Zukunft interessant erscheint hingegen die Konstellation, in der eine global tätige SE, die Geschäftsbeziehungen zu nicht unionsangehörigen Drittländern unterhält, insolvent wird. Da die SE-VO beispielsweise für Länder wie die Vereinigten Staaten oder die asiatischen Länder keine Wirkung entfaltet, bleibt zunächst offen, wie die Insolvenz einer SE zu handhaben ist, deren Betriebsvermögen in diesen Ländern liegt und europäische Gläubiger auf ein dortiges Vermögen zugreifen wollen. Die Lösung dieses u. U. vorhandenen Kollisionsproblems verschiedener Rechtsordnungen kann jedoch durchaus nach den bisherigen anerkannten Regeln des internationalen Insolvenzrechts erfolgen, insbesondere unter Berücksichtigung des lex fori concursus - Grundsatzes. Dieser Grundsatz ist eine allseitige Kollisionsregel und besagt, dass ein in einem anderen Staat eröffnetes Insolvenzverfahren hinsichtlich seiner formellen und materiellen Wirkungen dem Recht des Eröffnungsstaates untersteht; dies gilt auch insoweit, als sich die Wirkungen auf ein Nichteröffnungsland erstrecken[17]. Innerhalb der Europäischen Union wird der Grundsatz letztlich durch die SE-VO für Europäische Aktiengesellschaften kodifiziert- außerhalb gilt er somit weiterhin in ungeschriebener Form. Die Anwendung dieses Grundsatzes setzt allerdings stets die Anerkennung des ausländischen Insolvenzverfahrens durch das betroffene Land voraus. Insbesondere werden Absprachen hinsichtlich Anerkennung und Abwicklung von grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren zwischen EU- Mitgliedsstaaten und Drittländern nicht durch die EUInsVO überlagert[18], anders als dies für innergemeinschaftliche Absprachen der Fall ist.
Für die Vereinigten Staaten als wichtigen Handelspartner der EU sind bestimmte diesbezügliche Grundsätze im US-amerikanischen Bankruptcy Act[19] (oder auch Bankruptcy Code = BC) von 1978 festgeschrieben, wonach ein ausländischer Insolvenzverwalter auf verschiedenen Wegen auf in den USA vorhandenes Schuldnervermögen zugreifen kann. Wesentliche Voraussetzung ist hier, dass der Verwalter im Eröffnungsstaat wirksam bestellt ist, zur „Vertretung“ der Masse befugt ist und der Schuldner im Eröffnungsstaat seinen Wohnsitz, seine Hauptniederlassung oder einen erheblichen Teil seines Vermögens hat[20]. Die Voraussetzungen werden, sofern der Verwalter ordnungsgemäß bestellt wurde, für die SE regelmäßig vorliegen, da der satzungsmäßige Sitz in einem EU- Mitgliedsstaat zu liegen hat (Art. 7 SE-VO). Folglich bleibt es im Grundsatz dennoch möglich, dass über das außerhalb der EU liegende Vermögen einer SE ein paralleles Insolvenzverfahren eröffnet wird. Für diesen Fall ist man auch weiterhin auf die Kooperation der jeweils beauftragten Insolvenzverwalter angewiesen, da ansonsten getrennte, auf das Inlandsvermögen beschränkte Partikularverfahren durchgeführt werden müssen[21].
b.) Die Voraussetzungen des Insolvenzverfahrens, Art. 63 SE-VO, §§ 17 ff InsO
Die SE-VO spricht ihrerseits nicht von „Insolvenz“, sondern bestimmt die anzuwendenden Rechtsvorschriften für „Auflösung, Liquidation, Zahlungsunfähigkeit, Zahlungseinstellung und ähnliche Verfahren“. Diese Terminologiewahl erscheint auf den ersten Blick undurchsichtig, da dem europäischen Gesetzgeber der Begriff der Insolvenz keineswegs fremd ist, vgl. etwa Art. 3 EUInsVO sowie auch dort Anhang A.
Die SE-VO spricht insoweit nicht vom Oberbegriff der Insolvenz, sondern von – nach deutschem Recht - einzelnen Insolvenzgründen, die als „Verfahren“ bezeichnet werden. Vergleicht man die Terminologie mit derjenigen des deutschen Insolvenzrechts, so findet man den Begriff der Zahlungsunfähigkeit in der amtlichen Überschrift des § 17 InsO wieder.
Die in Art. 63 genannte, aber darüber hinaus nicht konkretisierte „Zahlungseinstellung “ wird zwar nicht ausdrücklich, aber sinngemäß in § 18 I, II InsO genannt, in dem die drohende Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzgrund gegeben ist, wenn der Schuldner „voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen“.
In der SE-VO nicht genannt wird der in § 19 InsO für juristische Personen kodifizierte Insolvenzgrund der Überschuldung; gleichwohl wird in Art. 63 von „ähnlichen Verfahren“ gesprochen. Es bleibt somit zu hinterfragen, ob die Überschuldung als solche ein der SE-VO entsprechender Insolvenzgrund ist oder ob die Regelung als abschließend zu verstehen ist. Die offene Formulierung „und ähnliche Verfahren“ legt nahe, dass der Tatbestand noch weiteren, ähnlichen Sachverhalten zugänglich sein soll. Folgt man der – unpräzisen- Terminologie der SE-VO in diesem Punkt, wäre auch die Überschuldung ein „Verfahren“ im Sinne des Art. 63. Auch die Frage nach Sinn und Zweck der Vorschrift in Art. 63 kommt zu einem gleichwertigen Ergebnis: Hintergrund der Norm ist es, diejenigen Sachverhalte durch nationales Recht zu regeln, bei denen bestimmte, an der SE in irgendeiner Form beteiligte Gruppen besonders schutzwürdig erscheinen. Für den Fall der Insolvenz sind dies in erster Linie die Gläubiger des insolventen bzw. kurz vor der Insolvenz stehenden Unternehmens. Sie haben stets ein berechtigtes Interesse daran, bei Überschuldung des Unternehmens eine für sie opportune Abwicklung der Vertragsverhältnisse durchzusetzen- im Idealfall der Erhalt des Schuldners durch Unternehmensfortführung. Um den Gläubigern somit die Möglichkeit zu geben, wenigstens einen Teil ihres Kapitals von der insolventen SE zurück zu erhalten und Ketteninsolvenzen zu vermeiden, ist es notwendig, den Tatbestand der Überschuldung in den Anwendungsbereich des Art. 63 SE-VO aufzunehmen.
Gleiches gilt letztlich auch für den Fall der Insolvenzanfechtung, da auch hier Regelungsbedarf für die europäische Ebene besteht. Die in den §§ 129 ff. InsO geregelte Anfechtung von Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen wurden und die die Insolvenzgläubiger benachteiligen, muss, um einen lückenlosen Gläubigerschutz zu gewährleisten, von Art. 63 gleichfalls erfasst sein.
Inwieweit dies rechtstatsächlich – evtl. unter Einbeziehung weiterer, dem deutschen Recht möglicherweise nicht bekannten Fallgruppen- Anwendung findet, wird letztenendes von der europäischen Rechtsprechung abschließend zu klären sein.
[...]
[1] Abgedruckt im Abl.EU, L 294/1, 2001.
[2] Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 392, m. w. N.
[3] Vgl. Abs. II der Einführung zur Verordnung, a.a.O.
[4] Die Artikel der SE-VO werden im Folgenden ohne den Zusatz SE-VO verwendet.
[5] Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 393; Hirte in: NZG 2002, 1f.
[6] Ausführlich dargestellt bei Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 161f.
[7] Hier unabhängig von der Zuzugs- bzw. Wegzugsfrage, sondern lediglich auf die Insolvenz bezogen.
[8] Schwarz, a.a.O.
[9] Abgedruckt im Abl.EU. L 160.
[10] Wagner in: NZG 2002, S. 985 [987]. Zur Entstehung von Gemeinschaftsprivatrecht ausführlich: Grote, Das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 37.
[11] Für die grundsätzliche Anwendbarkeit des Satzungsrechts: Wagner in: NZG 2002, 985 [989].
[12] Abl.EU 2000, L 160.
[13] Zur Qualifikation verfahrensrechtlicher und materieller Vorschriften: MüKo-Reinhart, InsO, Bd. 3, vor Art. 102 EGInsO, Rn. 31f.
[14] Zu den entwickelten Grundsätzen siehe MüKo- Reinhart, InsO, Art. 102 EGInsO, Rn. 18.
[15] So argumentiert angesichts des Wortlauts der SE-VO auch Wagner in: NZG 2002, 985 [989].
[16] Zum Umfang der Verweisung: Braun, InsO- Kießner, § 4 Rn. 2.
[17] Gottwald, Insolvenzrechtshandbuch, 2001, § 129 Rn. 1 ff.
[18] Becker in: ZEP 2002, S. 293.
[19] Hierzu ausführlich: Habscheid, Grenzüberschreitendes Insolvenzrecht der USA und der BRD, 1998, S. 51ff.
[20] Gottwald, Insolvenzrechtshandbuch, 2001, § 128 Rn. 127, m.w.N.
[21] MüKo-Reinhart, InsO, Bd. 3, vor Art. 102 EGInsO, Rn. 57.
- Quote paper
- Jörg Böhmer (Author), 2004, Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) - Auflösung, Insolvenz und Rückumwandlung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23475
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