Untersucht man das Phänomen der Masse bei Elias Canetti, stößt man unausweichlich auf die
Frage, inwiefern sich Canetti mit seinen Ausführungen von Gustave Le Bons “Psychologie
der Massen”,1895, beziehungsweise Sigmund Freuds “Massenpsychologie und Ich-Analyse”,
1921, unterscheidet.
Canetti ignoriere Le Bon und Freud, sagen die einen, und führen als Beweis das Nicht-
Vorhandensein derer beiden oben genannten Werke in Canettis Literaturverzeichnis an. (Peter
Voß und Marcel Reich-Ranicki, 2001)
Canetti zeige seinem Lieblingsfeind Freud die Zähne, behaupten die anderen. (Richard
Kämmerlings, 1999)
Dass ein Autor, der sich mit Masse und Massen beschäftigt, zweifellos auch mit Le Bons
„Psychologie der Massen“ und Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ in Berührung
kommt, steht eigentlich außer Frage. Inwieweit aber das Werk Canettis den
„Massen-Klassikern“ die Zähne zeigt, wird sich zeigen.
„Antwort ist Unfreiheit und darum falsch“, so ein Zitat von Canetti. „Alles soll neu sein, frei,
einmalig, selbst gedacht, frisch gedacht, Ordnung störend“, schreibt Hermann Kurzke in der
FAZ über den Schriftsteller. Beschäftigt man sich eingehender mit „Masse und Macht“, wird
schnell deutlich, dass sich Canetti dennoch auf Le Bon und Freud bezieht, eine Antwort gibt,
sie keinesfalls ignoriert. Dabei geht er zweifellos eigene Wege, überschreitet arbeitsteilige
Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur.
Der Reiz des Vergleiches von „Psychologie der Massen“, „Massenpsychologie und
Ich-Analyse“ sowie „Masse und Macht“ entsteht nicht zuletzt dadurch, dass zwischen
Canettis und Freuds Werken ein Weltkrieg und den Werken Canettis und Le Bons sogar zwei
Weltkriege stattfanden, ohne Frage Ereignisse, die auf massenphänomenale Untersuchungen
großen Einfluss ausübten.
Interessant dabei ist, dass Canetti in seinem gesamten Kapitel „Masse“ größtenteils an den
Weltkriegen „vorbeischreibt“, vielleicht, um sich selbst vor Freud keinen Vorteil zu
verschaffen und einen Vergleich zu ermöglichen. „Es sollen die Beispiele aus jüngster Zeit
hier nicht gehäuft werden. Sie sind noch in frischer Erinnerung aller“(S. 61, Masse und
Macht), so Canetti selbst dazu.
Das oben erwähnte Kapitel „Masse“ ist in 24 Unterkapitel eingeteilt, die folgend, einzeln und
in Canettis gewählter Reihenfolge, behandelt werden sollen. Dabei wird erst der Inhalt
wiedergegeben und anschließend Stellung genommen beziehungsweise ein Vergleich zu
Le Bon und Freud hergestellt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- ,,Umschlagen der Berührungsfurcht"
- ,,Offene und geschlossene Masse"
- „Die Entladung“
- ,,Zerstörungssucht"
- ,,Der Ausbruch"
- ,,Verfolgungsgefühl❝
- ,,Zähmung der Massen in den Weltreligionen"
- „Panik“
- „Die Masse als Ring"
- „Die Eigenschaften der Masse"
- ,,Rhythmus"
- ,,Stockung"
- ,,Langsamkeit oder die Ferne des Ziels"
- „Die unsichtbaren Massen"
- „Einteilung nach dem tragenden Affekt"
- ,,Hetzmassen“
- Fluchtmassen"
- ,,Verbotsmassen"
- ,,Umkehrungsmassen"
- ,,Festmassen"
- „Die Doppelmasse: Männer und Frauen. Die Lebenden und die Toten“
- „Die Doppelmasse: Der Krieg"
- ,,Massenkristalle"
- ,,Massensymbole"
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Das Buch „Masse und Macht“ von Elias Canetti befasst sich mit dem Phänomen der Masse, ihrer Entstehung und ihren Eigenschaften. Es verfolgt das Ziel, eine umfassende Theorie der Masse zu entwickeln, die verschiedene Aspekte der Massenbildung und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft beleuchtet.
- Umschlagen der Berührungsfurcht
- Entladung als Prozess der Massenbildung
- Offene und geschlossene Massen
- Eigenschaften der Masse: Rhythmus, Stockung, Langsamkeit
- Verschiedene Arten von Massen: Hetz-, Flucht-, Verbots-, Umkehrungs- und Festmassen
Zusammenfassung der Kapitel
Das Kapitel „Umschlagen der Berührungsfurcht“ stellt die zentrale These von Canettis Theorie vor: die Überwindung der Berührungsfurcht als Auslöser für die Massenbildung. Der Mensch, der normalerweise Berührungen meidet, fühlt sich in der Masse befreit von dieser Angst und erlebt eine Erleichterung durch die Nähe zu anderen.
Im Kapitel „Offene und geschlossene Masse“ differenziert Canetti zwischen zwei Arten von Massen: der spontanen, offenen Masse und der stabilen, geschlossenen Masse. Die offene Masse wächst unaufhaltsam und zerfällt ebenso schnell, während die geschlossene Masse eine feste Grenze hat und somit dauerhafter ist.
Das Kapitel „Die Entladung“ beschreibt den Prozess der Entladung, bei dem die Menschen in der Masse ihre Unterschiede verlieren und eine Gleichheit erfahren. Diese Gleichheit führt zu einer Freiheit von sozialen Hierarchien und Normen, die in der Entladung nicht mehr gelten.
Das Kapitel „Zerstörungssucht“ thematisiert den Drang zur Zerstörung, der in der Masse entstehen kann. Canetti sieht in der Zerstörung eine Art Entladung von Aggression und Frustration, die in der Masse verstärkt werden kann.
Schlüsselwörter
Das Buch „Masse und Macht“ von Elias Canetti befasst sich mit zentralen Themen wie Massenpsychologie, Berührungsfurcht, Entladung, offene und geschlossene Massen, Zerstörungssucht, Rhythmus und Stockung.
- Citation du texte
- Diplom-Sozialwissenschaftler Fabian Böer (Auteur), 2002, Masse und Macht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23405