In der Zeit von ca. 1890 bis etwa 1930, die hier mit Marianne Wünsch ‚Frühe Moderne‘ genannt werden soll, erscheinen in der deutschsprachigen Literatur (wie auch in der Literatur des restlichen Europas und Amerikas) auffallend viele Texte, die fantastische Strukturen aufweisen. Es handelt sich um eine Blütezeit der fantastischen Literatur.
[…]
Die deutsche fantastische Literatur der Frühen Moderne weist, wie jede Literatur, spezifische Strukturen und Merkmale auf, die sie charakterisieren und gegenüber anderen Literaturkomplexen abgrenzen – gegenüber nicht-fantastischer Literatur, aber auch gegenüber der fantastischen Literatur anderer Epochen, etwa der Romantik, oder anderer Kulturräume, etwa des englischsprachigen Raums. Ein solches spezifisches Merkmal ist im fantastischen Roman der Frühen Moderne unter anderem eben die Kennzeichnung bestimmter Figuren als elitäre Auserwählte in einem ganz bestimmten Sinne. Dieses Auserwähltheits-Motiv, auf das in der Literaturforschung unter anderem bereits von Marianne Wünsch, Mohhammad Qasim, Heidemarie Oehm und Margit Hamann hingewiesen wurde (von den letzten dreien ausschließlich mit Bezug auf das Werk Gustav Meyrinks), soll im Rahmen dieser Arbeit ausführlich untersucht werden.
[…]
Die Arbeit ist zweigeteilt: Im Analyseteil wird ein begrenzter Literaturkorpus, der hier pars pro toto stehen muss, textimmanent untersucht. Im anschließenden Teil ‚Kultureller Hintergrund‘ werden die herausgearbeiteten Strukturen und Merkmale der Texte in den Kontext der Kultur ihrer Entstehungszeit eingebettet.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
2. Analyseteil
2.1 Die Merkmale des auserwählten Helden
2.1.1 Begegnungen mit übernatürlichen Größen
2.1.2 Hohes bzw. niedriges gesellschaftliches Ansehen und soziales ‚Abweichlertum‘
2.1.3 Besonderheiten des Lebensweges
2.1.4 Erfolg beim anderen Geschlecht
2.1.5 Aussehen
2.1.6 Zeichen, Male und Prophezeiungen
2.2 Die metaphysische Entwicklung des auserwählten Helden
2.2.1 Metaphysische Prädisposition
2.2.2 Metaphysische Entwicklung
2.2.3 Metaphysisches Ziel
2.2.4 Die Selbsterlösung des auserwählten Helden
2.3 Der auserwählte Held über allem Menschlichen
2.4 Diesseitiger vs. jenseitiger Raum
2.4.1 Diesseitiger Raum
2.4.1.1 Ungleichheit, Hass, Gewalt, Leid
2.4.1.2 Ewige Wiederkunft des Gleichen
2.4.2 Jenseitige Räume
2.5 Das Überwesen Hermaphrodit – Überwindung der diesseitigen Erotik
2.6 Theodizee – die Metaphysik der Selbsterlösung und die Rechtfertigung des Leidens in der Welt
2.6.1 Jeder kann sich selbst erlösen
2.6.1.1 Wegbegleiter des auserwählten Helden
2.6.1.2 Das verborgene Potenzial eines jeden Menschen
2.6.2 Auserwähltes Individuum vs. Masse und historische Persönlichkeiten
2.6.3 Das auserwählte Individuum als sein persönlicher Messias
2.6.4 Versprechen an den Leser
2.7 Jenseits von Gut und Böse
2.8 Bewertung von diesseitiger Hilfeleistung
2.9 Himmelfahrt vs. Mehr an irdischem Leben
2.10 Meyrink – Relativierung des Heilsversprechens
3. Kultureller Hintergrund – das Übermenschkonzept in der Frühen Moderne
3.1 Ursprünge und Verbreitung
3.2 Nietzsche
3.3 Okkultismus
3.4 Die Bedeutung des Hermaphroditen in der Kultur der Frühen Moderne
3.5 Fazit
4. Literaturverzeichnis
4.1 Quellentexte
4.1.1 Literarische Texte
4.1.2 Andere
4.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
In der Zeit von ca. 1890 bis etwa 1930, die hier mit Marianne Wünsch ‚Frühe Moderne‘ genannt werden soll,[1] erscheinen in der deutschsprachigen Literatur (wie auch in der Literatur des restlichen Europas und Amerikas) auffallend viele Texte, die fantastische Strukturen aufweisen.[2] Es handelt sich um eine Blütezeit der fantastischen Literatur.[3]
Die Bezeichnung ‚fantastische Literatur‘ bedarf der Klärung: es liegen zahlreiche ältere und neuere Definitionen vor, wobei zu den heute gängigsten die von Roger Caillois (1966), Tzvetan Todorov (1970), Marianne Wünsch (1991) und Uwe Durst (2007) gehören. Die vorliegende Arbeit richtet sich nach der Definition von Wünsch. Dieser zufolge besteht das Kernmerkmal fantastischer Texte in der Darstellung eines Einbruchs von etwas − für die Figuren und den zeitgenössischen Leser − Unerklärlichem in eine zunächst mimetische Welt:
„[Phantastische Literatur ist; D. S.] in allgemeinster Bestimmung eine Form (insbesondere: Erzählform) nicht-mimetischer Literatur, die in eine ‚real mögliche Welt‘ eine andere, z. B. ‚mythische Welt‘ einbrechen läßt, die dem dominierenden kulturellen Wissen des jeweiligen Publikums als unmöglich gilt […]“[4]
Die deutsche fantastische Literatur der Frühen Moderne weist, wie jede Literatur, spezifische Strukturen und Merkmale auf, die sie charakterisieren und gegenüber anderen Literaturkomplexen abgrenzen – gegenüber nicht-fantastischer Literatur, aber auch gegenüber der fantastischen Literatur anderer Epochen, etwa der Romantik, oder anderer Kulturräume, etwa des englischsprachigen Raums. Ein solches spezifisches Merkmal ist im fantastischen Roman[5] der Frühen Moderne unter anderem eben die Kennzeichnung bestimmter Figuren als elitäre Auserwählte in einem ganz bestimmten Sinne. Dieses Auserwähltheits-Motiv[6], auf das in der Literaturforschung unter anderem bereits von Marianne Wünsch[7], Mohhammad Qasim[8], Heidemarie Oehm[9] und Margit Hamann[10] hingewiesen wurde (von den letzten dreien ausschließlich mit Bezug auf das Werk Gustav Meyrinks), soll im Rahmen dieser Arbeit ausführlich untersucht werden.
Die Arbeit ist zweigeteilt: Im Analyseteil wird ein begrenzter Literaturkorpus, der hier pars pro toto stehen muss, textimmanent untersucht. Die unterschiedlichen Aspekte des Auserwählheits-Motivs werden beleuchtet. Im anschließenden Teil ‚Kultureller Hintergrund‘ werden die herausgearbeiteten Strukturen und Merkmale der Texte in den Kontext der Kultur[11] ihrer Entstehungszeit eingebettet. Aus dem großen Fundus der fantastischen Romane der Frühen Moderne wurden für die Untersuchung exemplarisch vier Texte ausgewählt: Gustav Meyrinks erster fantastischer Roman ‚Der Golem‘[12] (1915), Meyrink letztes vollendetes fantastisches Werk ‚Der Engel vom westlichen Fenster‘[13] (1927), Paul Bussons ‚Die Wiedergeburt des Melchior Dronte‘[14] (1921) und Hermann Wiedmers ‚Die Verwandlung des Walter von Tillo‘[15] (1930).
Meyrink ist zweifellos einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste fantastische Autor der Frühen Moderne.[16] Seine Texte weisen eine hohe literarische Qualität auf, erfreuten sich in ihrer Entstehungszeit großer Bekanntheit (wenn auch nicht immer Beliebtheit)[17] und sind auch heute wieder in Versand und Handel gut erhältlich. Meyrink ist auch einer der am besten untersuchten fantastischen Autoren der Frühen Moderne. Insbesondere die Zahl der Untersuchungen zu GM ist riesig. In dieser Arbeit werden neben den bereits genannten vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Beiträge von Peter Cersowsky[18], Jan C. Meister[19], Thomas Wörtche[20] und Stefan Berg[21] berücksichtigt. Meyrinks GM von 1915 ist der richtungsweisende fantastische Text der Epoche. Nach anders aufgebauten Texten wie Alfred Kubins ‚Die andere Seite‘ (1909) oder Hanns Heinz Ewers ‚Alraune‘ (1911) konstituiert sich in GM, wie Marianne Wünsch aufzeigt, eine Handlungsstruktur und Figurencharakterisierung, welche auch in den meisten ihm nachfolgenden fantastischen Romanen der Epoche nachzuweisen ist.[22] Gleichzeitig läutet GM mit die Hoch-Phase der fantastischen Literatur in der Frühen Moderne ein, die Zeit von 1915 bis 1930, in der die meisten einschlägigen Texte erscheinen.[23]
Meyrinks EWF von 1927 stellt, wie Marianne Wünsch schreibt, die „Summe des Meyrinkschen Oevres“[24] dar. Das mehr als 500 Seiten starke Werk von großer Komplexität, Vielschichtigkeit sowie enormem Facettenreichtum ist darüber hinaus wohl auch als Quintessenz der fantastischen Literatur in der Frühen Moderne überhaupt zu betrachten. Zu EWF liegt erstaunlich wenig Sekundärliteratur vor. Neben Berücksichtigungen in hier bereits aufgeführten Arbeiten, vor allem bei Meister und Hamann, ist die bisher ausführlichste Untersuchung von Marianne Wünsch in ihrem Nachwort zur Auflage von 1975 vorgelegt worden.[25]
Die beiden weiteren hier untersuchten Romane, Paul Bussons WMD von 1922 und Hermann Wiedmers VWT von 1930, sind heute sehr viel weniger bekannt als die Texte Meyrinks und fast nur noch antiquarisch erhältlich.[26] Auch finden sie in der Forschung kaum Beachtung. Wiedmers Roman wird lediglich von Wünsch in ihrer umfangreichen Monographie zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne erwähnt, Bussons Text ebenfalls bei Wünsch und darüber hinaus in einigen wenigen Artikeln,[27] die sich dem Werk Bussons zumeist biographisch, nicht textimmanent-analytisch nähern und in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass zwischen Meyrinks Romanen einerseits und WMD und VWT andererseits ein qualitativer Unterschied besteht. Im Gegensatz zu den vielschichtigen Werken Meyrinks lassen sich der Text Bussons und der Wiedmers ohne weiteres in die Kategorie ‚Unterhaltungsliteratur‘[28] einordnen. Nichtsdestotrotz stellen sie faszinierende Lektüren und Zeitdokumente dar.
Mit GM, EWF, WMD und VWT wird im Textkorpus dieser Arbeit ein ausdifferenziertes Spektrum an untersuchten Texten präsentiert, das nicht nur unterschiedliche Autoren umfasst, sondern auch die Hoch-Zeit der fantastischen Literatur in der Frühen Moderne ganz abdeckt und darüber hinaus die Tatsache berücksichtigt, dass fantastische Literatur schon immer in allen literarischen ‚Schichten‘ aufgetreten ist. Im Rahmen der Arbeit getätigte beziehungsweise wiedergegebene Aussagen, die sich nicht auf den zugrundeliegenden Textkorpus beschränken, sondern auf die fantastischen Romane der Frühen Moderne generell abzielen, beziehen sich immer auf den in der Zeit von 1915 bis 1930 etablierten Romantyp.
Die Handlung der vier hier untersuchten Texte entspinnt sich um einen in vielerlei Hinsicht elitären Helden, der im absoluten Fokus des jeweiligen Textes steht. Dies wird bereits an der Erzählsituation der Texte deutlich: In dreien der vier Romane – GM, EWF und WMD − liegt eine Ich-Erzählsituation[29] vor, die Diegese wird aus der Sicht der Helden dargestellt. Lediglich VWT ist ein über weite Strecken auktorialer[30] Roman, wobei sich der Fokus des Erzählers zumeist auf den Helden und dessen Wahrnehmung konzentriert.
Die Erzählsituation der drei zuerst genannten Ich-Romane ist komplex. In GM sind ein Rahmen- und ein Binnentext gegeben. Die Handlung des Romans entspinnt sich um den Helden des Binnentextes, Athanasius Pernath, in dessen ‚Ich‘ das anonyme erzählende Ich des Rahmens in einen Traum ‚hineinschlüpft‘ und aus dem es dann wieder ‚herausfällt‘. In EWF wechseln sich in der Ich-Form geschriebene Tagebuchpassagen der beiden Hauptfiguren, Baron Müller und sein aus dem 16. Jahrhundert stammender Vorfahr John Dee, ab, wobei diese beiden Figuren, wie sich im Laufe des Romans herausstellt, nicht klar voneinander zu trennen sind und zuletzt zu einem Individuum verschmelzen. In WMD berichtet das erzählende Ich Sennon Vorauf aus seinem früheren Leben als Melchior (von) Dronte ebenfalls in der Ich-Form.[31]
2. Analyseteil
2.1 Die Merkmale des auserwählten Helden
Wie Marianne Wünsch feststellt, ist die Hauptfigur des fantastischen Romans der Frühen Moderne so gut wie immer ein Mann.[32] Dieser Held verfügt, wie im Folgenden an den ausgesuchten vier Beispieltexten gezeigt wird, über eine ganze Reihe von Merkmalen, durch die er sich von den übrigen Figuren der jeweiligen Diegese − zum Teil in extremem Grad − abhebt.
2.1.1 Begegnungen mit übernatürlichen Größen
Nach Wünsch unterscheidet sich der hier untersuchte Romantyp gegenüber der nicht-fantastischen Literatur der Frühen Moderne vor allem dadurch, dass in ihm übernatürliche – fantastische[33] − Phänomene vorkommen. Diese gelten, wie sie herausarbeitet, in der dargestellten Welt jedoch nicht als selbstverständlich, sondern als etwas Außergewöhnliches.[34] Ein wesentliches Merkmal der ‚auserwählten‘ Helden der hier untersuchten Texte besteht darin, dass sie in engeren, intensiveren Kontakt mit außerordentlichen, übernatürlichen Größen treten als alle übrigen Figuren der jeweiligen Diegese, beziehungsweise sogar als einzige Figur solchen übernatürlichen Größen begegnen. Wünsch weist darauf hin, dass die Helden der fantastischen Romane der Frühen Moderne unter anderem dadurch als privilegiert gekennzeichnet sind, dass solche übernatürliche Wesenheiten aktiv und ungerufen auf sie zukommen,[35] was auch für die hier untersuchten Romane in vielen Fällen nachgewiesen werden kann.
Meyrinks übernatürliches Wesen Golem geht alle 33 Jahre im Prager Judenghetto um. In den Straßen wird es von zahlreichen Ghettobewohnern wahrgenommen, doch wie Wünsch aufzeigt, tritt es nur an den Protagonisten Athanasius Pernath aktiv heran, indem es ihn in seiner Wohnung aufsucht.[36] Weitere übernatürliche Wesenheiten, die Pernath aufsuchen, sind: eine Materialisation der in der Tarotkarte ‚Pagat‘ dargestellten Figur, welche Pernaths eigenes Gesicht trägt; ein Phantom mit unsichtbaren Antlitz, begleitet von fremdartigen Wesen in zeremoniellen Gewändern und ein gekrönter Doppelgänger in weißem Ornat.
Auch die beiden Hauptfiguren aus Meyrinks EWF, der britische Adelige des 16. Jahrhunderts John Dee und sein Urahn Baron Müller, begegnen zahlreichen übernatürlichen Wesenheiten. John Dee sieht und hört sein Spiegelbild sprechen; er steht in engem Kontakt zu dem bereits (verstorbenen) Räuber Bartlett Green, der ihn immer wieder aufsucht, und verbringt eine Nacht mit einem weiblichen Phantom, das zugleich die ‚böse‘ Göttin schwarze Isaïs und Königin Elizabeth I. verkörpert. Zudem beschwört er das titelgebende Phantom ‚Engel vom westlichen Fenster‘ herauf. In seiner Todesstunde erscheint Dee ein übernatürliches Wesen in weißem Gewand, das mit seinem früheren Assistenten namens Gardener identisch zu sein scheint und das ihn vor Green und der schwarzen Isaïs beschützt. Baron Müller wird ebenfalls von Bartlett Green aufgesucht. Er verkehrt regelmäßig mit Lipotin, einer alten Wesenheit, die nach eigener Aussage nie im menschlichen Sinne gelebt hat. Er wird von der (verstorbenen) Assja Chotokalungin, einer Inkarnation der schwarzen Isaïs, heimgesucht und begegnet ihrer ‚lemurenhaften‘ Dienerschaft. Er trifft auf die übernatürliche Manifestation Elizabeth I. von England, mit der er sich in einem mystischen Akt vereinigt, sowie auf Gardener und einen Zirkel von jenseitigen Wesenheiten, in den am Ende des Romans auch er selbst aufgenommen wird.
Melchior Dronte aus WMD von Paul Busson wird bereits im Kindesalter von einer übernatürlichen Wesenheit, dem ‚Ewil‘, aus Lebensgefahr errettet. Bei dem Ewil handelt es sich um ein übernatürliches Wesen in Gestalt eines türkischen Derwischs, das auch später in entscheidenden Momenten auf Drontes Lebensweg erscheint. Außer vom Ewil wird Dronte mehrmals von einer Wesenheit aufgesucht, die sich ‚Fangerle‘ nennt, einer als ‚böse‘ gekennzeichneten Figur nach dem christlichen Bild eines Teufels. Der Ewil und Fangerle werden von den allermeisten Figuren außer Dronte nicht wahrgenommen oder nicht als die außergewöhnlichen Gestalten erkannt, die sie sind.[37] Dronte begegnet außerdem noch einigen anderen übernatürlichen Wesen, so etwa dem Geist eines Verstorbenen. Sennon Vorauf, Drontes nächste Inkarnation, besitzt selbst übernatürliche Fähigkeiten, die denen des Ewil entsprechen.
Walter von Tillo, die Hauptfigur von Wiedmers VWT, stellt unter den Helden des fantastischen Romans der Frühen Moderne eine Besonderheit dar, denn er ist ein biologischer Zwitter – nicht nur Mann, sondern auch Frau. Er wächst als Junge auf, hat jedoch einen phantomhaften weiblichen Doppelgänger namens (Hermaphro-) Dita, der prinzipiell nur ihm erscheint.[38] In seiner Lebensmitte verschmilzt Walter mit Dita und trägt fortan all ihre spezifisch weiblichen Merkmale sowie ihren Namen. In VWT werden darüber hinaus zahlreiche Inkarnationen des Helden dargestellt, die seinem Leben als Walter von Tillo vorangehen. Auch in diesen Leben begegnet der Protagonist übernatürlichen oder potentiell übernatürlichen Wesenheiten. So wird er als Assyrer Nimgri kurz vor seinem Tod von einem Wesen aufgesucht, das behauptet, die Göttin Ischtar zu sein.[39]
2.1.2 Hohes bzw. niedriges gesellschaftliches Ansehen und soziales ‚Abweichlertum‘
Die Hauptfiguren der hier untersuchten Romane sind gelegentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie die spezifischen Anforderungen der gesellschaftlichen Gruppe[40], der sie angehören, nicht erfüllen und innerhalb dieser soziale ‚Abweichler‘ sind. Immer wieder kommt es sogar vor, dass diese Figuren − zumindest zeitweise − gesamtgesellschaftlich ein sehr geringes Ansehen genießen.[41] Geringes gesellschaftliches Ansehen ist in den einzelnen Texten mit unterschiedlichen Merkmalen korreliert, wobei am häufigsten auftreten: Zugehörigkeit zu einer sehr niedrigen gesellschaftlichen Gruppe, Armut, (scheinbare) geistige Störungen und Krankheit. Andererseits können die Protagonisten – zumindest zeitweise – auch als jemand charakterisiert sein, der in seiner Welt höchstes gesellschaftliches Ansehen genießt. Hohes gesellschaftliches Ansehen ist in den hier untersuchten Texten oft mit folgenden Merkmalen korreliert: Zugehörigkeit zu einer hochrangigen gesellschaftlichen Gruppe (in der Regel Adel), Reichtum, Intelligenz und Bildung sowie geistige Gesundheit. In einigen Texten werden darüber hinaus die Merkmale Empathie und Hilfsbereitschaft gesellschaftlich hoch bewertet. Oft wechselt der Protagonist eines Romans von einem Extrem ins andere − von sehr hoher zu sehr niedriger Anerkennung und andersherum − oder weist gleichzeitig solche Merkmale auf, die ihm hohe, und solche, die ihm geringe gesellschaftliche Anerkennung einbringen. In der Regel gilt jedoch, dass der auserwählte Held in vielen seiner Merkmale vom im Text dargestellten gesellschaftlichen Mittelmaß abweicht:
Die Hauptfigur aus Meyrinks GM, Athanasius Pernath lebt im Judenghetto von Prag, einem Raum, der durch Armut und soziale Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Unter den Ghettobewohnern nimmt er jedoch eine privilegierte Stellung ein, was unter anderem an seiner Titulierung als „Meister Pernath“[42] oder sogar „Herr von Pernath“[43] durch die anderen Ghettobewohner deutlich wird.[44] Gleichzeitig gilt Pernath als geistig gestört, weshalb er von seinen Freunden und Nachbarn trotz allen Respekts und aller Sympathie für nicht ganz voll genommen wird.[45]
John Dee aus EWF ist von altem und hohem englischen Adel. In jungen Jahren ist er ein gefeierter Gelehrter, bei dem angesehene Akademiker und gekrönte Häupter im Seminar sitzen. Darüber hinaus ist er ein Günstling Elizabeth I. Im Laufe seines Lebens wird er von der Königin jedoch fallengelassen. Er gerät in die schlechte Gesellschaft des Landstreichers Edward Kelley und wird zu einem umherziehenden, teilweise hochstapelnden Geisterbeschwörer, der am Rande der Lächerlichkeit operiert und mit großen finanziellen Schwierigkeiten hadert. Er stirbt verarmt und vereinsamt in den Ruinen seines Schlosses. Dees ebenfalls adeliger Nachkomme Baron Müller − dessen zeitliche Gegenwart wohl in die ungefähre Gegenwartszeit der ersten Textrezipienten, also in die erste Hälfte des 20. Jahrhundert fällt − lebt in einer deutschen Stadt und gilt dort, zumindest in bürgerlichen Kreisen, als exzentrischer Eigenbrötler.[46]
Melchior Dronte aus WMD, dessen Lebensgeschichte im 18. Jahrhundert situiert ist, genießt als Sohn eines deutschen Landadeligen im Kinder- und Jugendalter einen sehr hohen sozialen Status – beispielsweise wird in der Schule an seiner Stelle ein Prügeljunge bestraft. Insbesondere bei seinem Vater gilt Dronte jedoch als ‚schlechter‘ Vertreter seines Standes, da er das einfache Volk nicht ausreichend drangsaliert und seine persönliche Ehre über die guten Beziehungen zu anderen Adeligen stellt.[47] Aufgrund dieses ‚Abweichlertums‘ muss er die väterlichen Ländereien verlassen. Er wird zu einem Studenten, zu einem einfachen Soldaten der preußischen Armee, zu einem Deserteur und Landstreicher, zieht mit Zigeunern umher und sinkt dadurch innerhalb seiner Welt gesellschaftlich immer tiefer. Durch Glück kommt er wieder zu Geld und lebt fortan als Privatmann, der mittlerweile zwar wieder seinen Adelstitel trägt, sich jedoch außerhalb aller gesellschaftlichen Gruppen bewegt. Dies wird etwa dadurch illustriert, dass Dronte, welcher zu Zeiten der Französischen Revolution in Paris weilt, nicht zögert, sein Äußeres den neuen Konventionen anzupassen:
„Ich wählte mein unscheinbares Gewand, den braunen, bereits schadhaften Reiseanzug, einen vom Regen mitgenommenen einfachen Hut und einen derben Stock, um mich möglichst wenig von denen zu unterscheiden, die in den Straßen das große Wort führten. Das Haar trug ich nicht mehr frisiert und gepudert, sondern nach der neuesten Mode auf die Schultern fallend.“[48]
Andere adelige Figuren behalten in der Revolution hingegen ihre vornehme Tracht.[49]
Unabhängig von seiner sozialen Stellung genießt Dronte jedoch bei vielen der Figuren seiner Welt durchgehend ein hohes Ansehen und zwar auf Grund eines inneren Merkmals, das in WMD in Opposition zu weltlichem Ansehen gestellt ist: er verfügt über einen hohen Grad an Empathie und Hilfsbereitschaft, der von den übrigen Figuren der Diegese nicht geteilt, von den meisten jedoch sehr positiv bewertet wird: Bereits im Alter von fünf Jahren reagiert Dronte mit Schreien, als er sieht, dass sein Vater einen Diener mit einem Stock schlägt.[50] Während seiner Armeezeit hält er Kameraden davon ab, eine Prostituierte zu quälen.[51] Die Figuren, denen Dronte Gutes tut, reagieren mit großer Dankbarkeit und Hochachtung: „Gott segne Sie zu tausendmalen, Sie großer gütiger Mann!“[52] Aber auch Unbeteiligte sind beeindruckt: „Sie sind ein Edelmann im inneren Sinne des Wortes […]“[53] (Hervorhebung D. S.).
Sennon Vorauf, Melchior Drontes nächste Inkarnation, bewegt sich in einer Lebenswelt, die zeitlich − ähnlich wie die von Baron Müller aus EWF − am Beginn des 20. Jahrhunderts und räumlich in Deutschland angesiedelt ist. Er stellt unter den Hauptfiguren der hier untersuchten Texte eine Ausnahme dar, da er, gemessen an den Normen seiner Lebenswelt, in vielerlei Hinsicht als ‚durchschnittlich‘ charakterisiert ist. Anders als Melchior Dronte ist Vorauf nicht von Adel, sondern der Sohn „einfacher Leute“[54]. Sein Vater arbeitet als abhängig Beschäftigter in einem „großen optischen Unternehmen“[55] und ist damit ein Vertreter der unteren Mittelschicht. Vorauf selbst bricht seinen Bildungsweg nach der „Mittelschule“[56] ab und tritt auf Wunsch seiner Eltern in die Firma des Vaters ein. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss er, wie es für einfache junge Männer der im Text skizzierten Epoche üblich ist, als Fußsoldat an die Front. Vorauf ist jedoch nicht in jeder Hinsicht eine durchschnittliche Figur: Er weist einerseits solche Merkmale auf, die mit geringer gesellschaftlicher Anerkennung konnotiert sind und ihn zu einem sozialen Abweichler machen, andererseits auch solche, die ihm hohe gesellschaftliche Anerkennung einbringen. Er ist ein introvertierter und einzelgängerischer junger Mann, der gelegentlich durch unerklärliche Äußerungen und Reaktionen auffällt, weswegen er besonders unter seinen Altersgenossen gesellschaftlich in negativer Weise heraussticht.[57] In positiver Weise fällt Vorauf, wie vor ihm Dronte, dadurch auf, dass er ein sehr hohes Maß an „Güte und Hilfsbereitschaft“[58] aufweist. In seiner Empathiefähigkeit übertrifft er sogar Dronte, da er im Krieg nicht fähig ist, auf den Feind zu schießen, was Dronte noch getan hatte.[59] Wie in Drontes Fall werden diese inneren Merkmale des Helden von den Figuren in Voraufs Welt als große Besonderheit angesehen und sehr hoch geschätzt.[60]
Eine Hauptfigur des hier untersuchten Textkorpus, die durch den gesamten Romanverlauf seitens fast aller übrigen Figuren ihrer Diegese nahezu grenzenlose Verehrung genießt, ist Walter von Tillo aus Wiedmers VWT. Tillo ist geradezu ein Ausbund an gesellschaftlich hoch bewerteten Merkmalen: Er lebt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts[61] im Zentrum des traditionsreichen Städtchens Hoch burg (!) im Bereich des ‚Banns‘; eines Raums, der nur den altehrwürdigen Geschlechtern der Stadt vorbehalten ist.[62] Das Geschlecht der Tillos ist mit über 1000 Jahren Familiengeschichte das bei weitem älteste und angesehenste Hochburgs,[63] ihr Haus, ‚Bannhaus‘ genannt, das größte und traditionsreichste.[64] Zu ihrem hohen gesellschaftlichen Ansehen trägt bei, dass die Tillos von Adel sind. Sie sind die einzige erwähnte adelige Familie des Ortes, obwohl auch die übrigen Bannbewohner ihre Linie über Jahrhunderte zurückverfolgen können.[65] Darüber hinaus genießt die Familie von Tillo unter den Einwohnern Hochburgs große Anerkennung, da ihre Männer von jeher als ‚Dombaumeister‘ tätig sind. Sie haben das prachtvolle Münster Hochburgs errichtet, erweitert und halten es in Stand. Walter von Tillo genießt also bereits durch seinen Namen einen hohen gesellschaftlichen Status, den er durch persönliche Merkmale jedoch noch steigert: In der Schule ist er der beste in allen Fächern und der beliebteste Schüler. Nach einem Studium der Architektur wird ihm im Alter von 24 Jahren eine Professur angeboten.[66] Er beendet ein Turmbauprojekt am Münster, das mehr als 500 Jahre vor seiner Geburt abgebrochen wurde. Er schafft darin ein Meisterwerk der Architektur, das großes Aufsehen erregt.[67]
Walter wird von den allermeisten Figuren seiner Welt regelrecht vergöttert. So erklärt ihm sein früherer Schulfreund Adam Schöpfle: „Ich kann es dir nicht mit Worten sagen, fühle nur wie alle andern, ob Mädchen oder Jünglinge, Männer oder Frauen, daß du Vertrauen ausstrahlst, wie die Blumen den Duft – daß wir dich lieben und an dich glauben müssen wie an Gott und seine Güte […]“[68]. Adam, der nach den Gesetzen der dargestellten Welt einen gravierenden Regelverstoß begangen hat, möchte, trotz der religiösen Prägung der Gesellschaft, in der er sich bewegt, nicht etwa bei einem Priester, sondern bei Walter beichten.[69] Dieser wird wegen seines Einflusses auf die Menschen mehrmals als „Zauberer“[70] bezeichnet.
Walter verfügt, ähnlich wie Melchior Dronte und Sennon Vorauf aus WMD, über stark ausgeprägte Empathie und Hilfsbereitschaft. So setzt er sich für seine ehemalige Schulfreundin und Adams Schwester Martha Schöpfle ein, die wegen einer unehelichen Schwangerschaft bei ihrem Vater in Ungnade gefallen ist.[71] Walters Mitleid und Einsatz sind innerhalb seiner Welt ähnlich wie in WMD keine selbstverständlichen Merkmale. Martha wird wegen ihres Fehltritts von allen übrigen Figuren der Diegese verdammt, wie etwa ein Gespräch zwischen Walter und seinem Vater zeigt: „‚Niemand hat der braven Martha zugetraut, daß sie sich so vergessen würde.‘ ‚Und nun ist sie dem Bannfluch verfallen? […]‘ Der erfahrene Mann zuckte mit den Achseln. ‚Was willst du! Wenn sie wenigstens noch den Verführer heiraten könnte!‘“[72] Wie in WMD stößt auch hier die Menschenliebe des Protagonisten auf Dankbarkeit und Verehrung: „Du hast Martha und dem Kinde das Leben und meinem Vater und mir den Frieden gerettet – dafür müßten wir dir täglich und stündlich danken!“[73]
Seine zweite Lebenshälfte verbringt der Zwitter Walter als Frau[74] und genießt auch als Dita von Tillo ein sehr hohes gesellschaftliches Ansehen. Darüber hinaus sind in VWT sechs vorhergehende Inkarnationen der Hauptfigur Walter/Dita dargestellt, von denen fünf in ihrer Welt gesellschaftlich auffallend hoch- beziehungsweise niedrig gestellt sind oder zwischen diesen beiden Polen wechseln: Gibo, ein Höhlenmensch, ist der Sohn eines hoch angesehenen und gefürchteten Zauberers, dessen Amt er als Erwachsener übernimmt.[75] Miba, eine nordafrikanische Tempelsklavin, steht in der Hierarchie des Tempels zunächst ganz unten und muss die niedrigsten Arbeiten verrichten.[76] Außerhalb der Kultstätte wird ihr als einer Tempelbewohnerin trotz ihrer niederen Stellung mit einer gewissen Ehrfurcht begegnet: „[S]o brachten ihnen die Stadtbewohner eine aus Verachtung und Angst gemischte Scheu entgegen. Etwas von der Macht und dem Glanz des Heiligtumes trugen auch sie mit sich.“[77] Schlagartig steigt sie dann – wörtlich − von ganz unten nach ganz oben auf und darf an der Spitze der Opferpyramide leben und dienen, wo sie Privilegien genießt.[78] Trotz allem flieht Miba aus dem Tempel und lebt fortan bei ihrem Vater, einem frühägyptischen Priester, bei dem sie zu großen Ehren kommt − unter anderem errichtet er für sie eine prachtvolle Grabstätte.[79] Im Alter sinkt sie in der sozialen Hierarchie erneut ganz nach unten, wird ausgebeutet und zuletzt gesteinigt.[80] Der Mesopotamier Nimgri ist ein gefeierter Kriegsheld, der in der Gunst der Königstochter Istubâra steht,[81] wird jedoch zu einem geächteten Mörder und Brandstifter.[82] Meryta ist eine ägyptische Pharaonin (!).[83] Die nächste Inkarnation des Protagonisten, Tamra, wird fast 2000 Jahre vor Walters Lebenszeit in Indien geboren. Ähnlich wie Walter ist Tamra ein Zwitter, anders als jener anatomisch jedoch zum Geschlechtsakt nicht fähig. Tamra lebt zunächst als Findling bei einem Stamm, dessen Mitglieder ihn wegen seiner Doppelgeschlechtlichkeit und seiner abweichenden Hautfarbe ächten.[84] Dann wird er zur besten aller Tempeltänzerinnen der Göttin Rambhâ.[85] Zeitweise lebt Tamra als Tochter eines reisenden Händlers, bei dem er/sie Bildung genießt und von Luxus und Ansehen umgeben ist.[86] Zwischen diesen ‚Leben‘ wandert Tamra als geschlechtsloses Wesen außerhalb aller sozialen Strukturen: „Ich bin Es – das Wesen ohne Namen – die dritte Menschenform.“[87] [88]
Die gesellschaftliche Position der Protagonisten in der Diegese deckt sich nicht immer mit der ihr übergeordneten Bewertung durch den Text. Diese fällt immer überaus positiv aus, ungeachtet dessen, ob der Held in seiner Welt gesellschaftlich hoch oder niedrig gestellt ist. Positiv bewertet wird insbesondere die Nicht-Zugehörigkeit des Helden zum vom Text gesetzten Durchschnitt, zur ‚grauen Masse‘, und das eben auch dann, wenn dieser sich unter halb des Durchschnitts bewegt oder ein sozialer Abweichler ist. So sind etwa in GM geistige Störungen ein Merkmal, das niedriges gesellschaftliches Ansehen nach sich zieht, in gewisser Ausprägung übergeordnet jedoch ganz im Gegenteil sehr positiv bewertet wird. Die hochrangige Figur Schemajah Hillel erklärt Pernath: „Es gibt nur ein wahres Wachsein und das ist das, dem du dich gerade näherst. Sprich den Menschen davon und sie werden sagen, du seist krank, denn sie können dich nicht verstehen.“[89] Auch die atypische Hilfsbereitschaft der Helden aus der WMD und der VWT ist, wie an späterer Stelle noch deutlich werden wird, in den jeweiligen Texten übergeordnet als sehr positives Merkmal gekennzeichnet.
2.1.3 Besonderheiten des Lebensweges
Wie Marianne Wünsch schreibt, ist das Dasein der Helden in der Ausgangssituation der fantastischen Romane der Frühen Moderne zunächst nicht durch gravierende Normverstöße gekennzeichnet.[90] Dies ändert sich nach Wünsch in dem Moment, in dem das Übernatürliche in das Leben der Figuren eintritt.[91] Dies trifft auch auf die hier untersuchten Texte zu. Obwohl die Protagonisten häufig bereits zu Beginn des Textes am Rand der Gesellschaft situiert sind − dem untersten oder dem obersten –, verläuft ihr Leben zunächst sehr ruhig und ‚unspektakulär‘. Nach der ersten Begegnung mit übernatürlichen Phänomenen beziehungsweise Wesenheiten machen sie sich, dem von Wünsch herausgearbeiteten Schema entsprechend (auf das an späterer Stelle noch einmal eingegangen wird), zu einer – wirklichen oder metaphorischen – Abenteuerreise auf, die weit fort von der im Text geltenden Norm führt.[92]
Als Beispiel für einen von der Norm abweichenden Lebensweg sei hier zunächst derjenige von Athanasius Pernath aus GM genannt: Pernath wird durch seine erste Begegnung mit dem Golem, der ihm das geheimnisvolle Buch Ibbur überreicht, für einen sogenannten ‚Weg des Lebens‘ initiiert.[93] Im Text liegt darüber hinaus ein ‚Weg des Todes‘ vor.[94] Sowohl der ‚Weg des Lebens‘ als auch der ‚Weg des Todes‘ können nur von Wenigen beschritten werden und unterscheiden sich gravierend von dem Lebensverlauf gewöhnlicher Menschen: „Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm.“[95] Nach der Initiation durch das Buch Ibbur wird Pernath vor die aktive Wahl zwischen dem Lebens- und dem Todespfad gestellt: Eine übernatürliche Wesenheit bietet ihm in einem Ritual Körner an, die er annehmen oder ablehnen kann[96] und die, wie sich später herausstellt, für den Weg des Todes stehen. Pernath schlägt dem Wesen die Körner aus der Hand[97] − dort, wo es nur zwei Optionen gibt, wählt er eine dritte. Er folgt einem ganz eigenen Kurs zwischen den beiden genannten Positionen, der jedoch nicht dem Lebensweg gewöhnlicher Menschen entspricht; die hochrangige Figur Amadeus Laponder erklärt ihm im Nachhinein:
„Wenn Sie sie abgelehnt hätten, wären Sie wohl auch den ‚Weg des Lebens‘ gegangen, aber die Körner, die magische Kräfte bedeuten, wären nicht zurückgeblieben […] sie sind hier geblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange gehütet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Kräfte, die in Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden.“[98] Und kommentiert: „Ich hätte nie gedacht, daß es einen dritten ‚Weg‘ geben könnte“[99]
Hieran wird deutlich, dass der Lebensweg des auserwählten Helden vollkommen individuell ist.[100] Die außergewöhnlichen, abenteuerlichen Erlebnisse Pernaths seit dem Zeitpunkt seiner Initiation seien an dieser Stelle nur kurz genannt: er macht weitere übernatürliche Begegnungen, wird in eine Kriminalgeschichte verwickelt und verbringt einige Zeit im Gefängnis.
Der Lebensweg des auserwählten Helden verläuft jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Besonders deutlich wird dies im hier untersuchten Textkorpus an dem Lebenslauf Melchior Drontes: Selbst wenn man von seinen häufigen Begegnungen mit übernatürlichen Wesenheiten absieht, bleibt Drontes Leben überaus ungewöhnlich. Für den einzigen Sohn eines adeligen Gutsbesitzers ist seitens seines sozialen Umfeldes zunächst vorgesehen, die Ländereien und die gesellschaftliche Stellung seines Vaters zu übernehmen. Wegen seiner abweichenden Eigenschaften wird er jedoch verstoßen und zunächst zu einem Studenten gemacht. Dies ist innerhalb der Diegese noch eine akzeptable Alternative für einen Jüngling seines Standes; so sind auch andere Studenten von Adel und der alte Dronte räumt seinem Sohn die Möglichkeit ein, nach der Studienzeit auf das heimatliche Gut zurückzukehren.[101] Nachdem er einen Duellmord begeht, wird Dronte auf der Flucht vor der Justiz dann aber zu einem einfachen Soldaten und legt sogar seinen Standestitel ab,[102] was für den Lebenslauf eines Adeligen nicht mehr selbstverständlich ist. Dronte desertiert und sinkt sozial noch tiefer, indem er zum Bettler wird und die Gesellschaftsstrukturen zeitweise sogar vollständig verlässt, indem er sich Zigeunern anschließt. Schließlich stößt er durch reinen Zufall auf einen verborgenen Goldschatz, durch den er sich erneut sozial etablieren kann. Er findet und verliert seine Frau Zephyrine unter abenteuerlichen Umständen und gelangt auf ein Schloss, von dem sich überraschend herausstellt, dass es einem alten Freund seines Vaters gehört und dass Dronte selbst dort in einem vergangenen Leben über vermeintliche Hexen zu Gericht gesessen hat. Schließlich wird er in den Wirren der Französischen Revolution in Paris guillotiniert. Im Verlauf seines Lebens begegnet Dronte nicht weniger als vier identisch aussehenden Frauenfiguren: Aglaja, Zephyrine, Prinzessin Lambelle sowie − auf einem Porträt, im Traum und in Geistergestalt − der bereits verstorbenen Heva Weinschrötterin, was im Text damit erklärt wird, dass alle Vier Inkarnationen von Drontes Idealpartnerin darstellen.
Wie Wünsch feststellt, besteht ein Zeichen der Privilegiertheit des auserwählten Helden des fantastischen Romans der Frühen Moderne darin, dass sich die dargestellte Welt in ihren Ereignissen[103] vollkommen nach ihm und seinem ‚Heilsweg‘ ausrichtet:[104] Dronte begegnet beispielsweise eines Tages einem Pfarrer, der „vor vielen Jahren, mit ziemlich viel Fleiß die arabische Sprache erlernt“[105] hat. Dies geschah augenscheinlich einzig deswegen, damit er Dronte eine auf Arabisch ausgesprochene Nachricht des Ewils übermitteln kann, denn dies ist die einzige Gelegenheit, bei der der Pfarrer sein Können je anwendet: „Und so bin ich froh, daß ich einmal in diesem Leben unerwarteter- und sonderbarerweise meine Kenntnisse des Arabischen gebrauchen und nützen konnte!“[106] Auch dem Magister Hemmetschnur, eine weitere Nebenfigur aus WMD, war es anscheinend deswegen gegeben, die türkische Sprache zu lernen[107] und darüber hinaus viele Jahre unter Misshandlung auf dem Schloss Krottenriede zu verbringen,[108] um dort Dronte schließlich einen vom Ewil auf Türkisch geäußerten Satz ins Deutsche übersetzen zu können. So deutet der mittlerweile vom Ewil über seine Auserwähltheit aufgeklärte Held Hemmetschnurs Schicksal wie folgt: „Bis jetzt mußten Sie bleiben, das erkenne ich wohl. Aber da es um meinetwillen war, daß Sie hier sich marterten, ist es auch meine Pflicht, Ihnen behilflich zu sein!“[109]
Über die gegebenen Beispiele hinaus weisen die Lebenswege aller Hauptfiguren der hier behandelten Romane solche Besonderheiten auf, im begrenzten Umfang dieser Arbeit ist es jedoch nicht möglich, diesen Themenbereich ausführlicher zu behandeln.
2.1.4 Erfolg beim anderen Geschlecht
Ein weiteres Merkmal, das die auserwählten Helden der hier untersuchten Romane vor ihren Mitmenschen auszeichnet, besteht darin, dass sie von auffallend vielen, auffallend attraktiven weiblichen Figuren ihrer Welt als Erotik- beziehungsweise Lebenspartner in Betracht gezogen werden.[110] Im hier behandelten Textkorpus wird begehrt: Pernath von Angelina, Rosina und Mirjam; John Dee von Elizabeth I von England (!) sowie von der jungen Jane Forman; Baron Müller von Assja Chotokalungin, Johanna Fromm und ebenfalls von – der nunmehr jenseitigen – Königin Elizabeth; Melchior Dronte von Lorle alias Lorette, Aglaja und Zephyrine. Der zweigeschlechtliche Walter von Tillo wird sowohl von allen Frauen als auch von allen Männern, denen er begegnet, in extremem Grade begehrt.[111] In seinem Leben als Dita übt der Protagonist von VWT zumindest auf alle männlichen Figuren der erzählten Welt weiterhin eine große Anziehungskraft aus.
Für die auserwählten Helden der hier untersuchten Romane gilt, dass sie, wo sie nicht scheitern, die am höchsten bewertete weibliche Figur der Diegese gewinnen, ihre ebenfalls als auserwählt gekennzeichnete Ziel-Frau: Pernath lebt am Ende von GM in jenseitiger Ehe mit Mirjam;[112] Baron Müller ‚verschmilzt‘ mit Elizabeth;[113] der Held von WMD sieht einer Vereinigung mit seiner rothaarigen Ziel-Frau, der er in verschiedenen Inkarnationen immer wieder begegnet, zumindest entgegen:
„Ach, ich sah, daß es ihr nicht anders erging als mir, daß sie zutiefst fühlte, daß wir noch immer aneinander vorüberfliehen mußten, ohne uns eines am anderen festhalten zu können, daß es uns noch nicht gestattet war, uns zu einem seligen Wesen, zu dem aus der Seele von Mann und Weib bestehenden Göttlichen zu ergänzen.“[114]
Walter von Tillo vereinigt sich mit seinem übernatürlichen weiblichen Alter-Ego Dita, also mit sich selbst[115] – er stellt zugleich den begehrtesten Mann und die begehrteste Frau der Diegese dar.
2.1.5 Aussehen
Im hier untersuchten Textkorpus kommt der besondere Status der auserwählten Helden auch in ihrem Aussehen zum Ausdruck. Athanasius Pernath trägt die erhabenen Züge eines „altfranzösische[n] Edelmann[s]“[116]. Auch Melchior Dronte, der als „schöner Melchior“[117] bezeichnet wird, scheint ein gutaussehender Mann zu sein. Sennon Vorauf sieht dem Ewil ähnlich, sein Gesicht ist von edler Schönheit.[118] Walter/Dita von Tillo entspricht einem feingliedrigen, ‚gotischen‘ Typ, ist silberblond, hat schöne, changierende Augen und eine schöne Stimme.[119] Auch drei der sechs vorhergehenden Inkarnationen des Helden zeichnen sich unter den sie umgebenden Figuren durch auffallend helle Haare beziehungsweise Haut und feine Züge aus − Ehi,[120] Miba[121] und Tamra[122]. Dem meist edlen Aussehen der positiv bewerteten Heldenfiguren stehen oft die Hässlichkeit[123] und Missbildung oder Entstellung[124] der wenig positiv bewerteten Figuren oppositionell gegenüber. Eine Ausnahme hierzu stellt der Typus der verführerischen, verderblichen Frau dar,[125] dessen Gefährlichkeit für den Helden in den allermeisten Fällen auch in ihrer äußerlichen, scheinbaren Harmlosigkeit begründet liegt.
2.1.6 Zeichen, Male und Prophezeiungen
Marianne Wünsch weist darauf hin, dass die Protagonisten der fantastischen Romane der Frühen Moderne oft bereits durch ein außerordentliches, übernatürliches Ereignis in ihrer Kindheit als auserwählt gekennzeichnet sind,[126] was, wie gleich gezeigt werden wird, auch auf zwei der vier hier untersuchten Texte zutrifft. Darüber hinaus sind die Helden des hier zugrundeliegenden Textkorpus häufig durch körperliche Male oder auch durch Prophezeiungen, die nicht zwangsläufig bereits in ihrer Jugend auftreten, als privilegiert markiert:
Anthanasius[127] Pernath trägt seit dem ‚Körner-Ritual‘, bei dem er zwischen dem Pfad des Lebens und dem des Todes wählen musste und sich für einen dritten Weg entschieden hat, einen okkulten Schriftzug auf der Brust[128], den nur wenige Figuren sehen können, der ihn bei diesen jedoch als auserwählt ausweist.[129] Auch die Tatsache, dass sich der Held nicht an seine erste Lebenshälfte erinnern kann – ‚zwei Leben‘ in einem lebt − wird ihm von der hochrangigen Figur Amadeus Laponder als Zeichen der Auserwähltheit ausgelegt:
„Sie haben mir erzählt, daß Sie durch den hypnotischen Eingriff eines Arztes in Ihr Bewußtsein lange die Erinnerung an ihre Jugendzeit vergessen hatten. Es ist das Kennzeichen – das Stigma – aller derer, die von der ‚Schlange des geistigen Reiches‘ gebissen sind. Es scheint fast, als müßten in uns zwei Leben aufeinandergepropft werden, wie ein Edelreis auf den wilden Baum […]“[130]
Als Pernath an einem nebligen Abend ziellos durch Prag streift, trifft er auf ein seltsam anmutendes Haus. Mit diesem, so erfährt er später, sind eine Volkserzählung und eine Prophezeiung verbunden:
„Es geht nämlich eine alte Sage, daß dort oben in der Alchimistengasse [sic] ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch da bloß ‚Sonntagskindern‘. Man nennt es die ‚Mauer zur letzten Laterne‘. Wer bei Tag hinaufgeht, sieht dort einen großen grauen Stein […] Unter dem Stein, heißt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von dem Orden ‚Asiatischer Brüder‘, die angeblich Prag gegründet haben, als Grundstein für dieses Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage ein Mensch bewohnen wird – besser gesagt ein Hermaphrodit – ein Geschöpf, das sich aus Mann und Weib zusammensetzt […]“[131]
Pernath ist also ein ‚Sonntagskind‘. Dass er derjenige ist, auf den sich die Prophezeiung bezieht, wird bereits an dieser Stelle aus der Textlogik erkennbar[132] und wird sich am Ende des Textes bewahrheiten.
Bussons Melchior Dronte begegnet im Alter von fünf Jahren der übernatürlichen Wesenheit Ewil, die ihn vor einer einstürzenden Zimmerdecke rettet. Er trägt von dem Einsturz lediglich eine markante Narbe davon, die ihn im weiteren Verlauf seines Lebens unter Eingeweihten als einen Auserwählten kennzeichnet. Dies illustriert etwa das Verhalten eines alten, als ,weise‘ gekennzeichneten Türken, dem Dronte als erwachsener Mann begegnet:
„Dabei hefteten sich seine [des Türken; D. S.] Augen mit einem sonderbaren Ausdruck auf die kleine rote Narbe, die ich dem zerbrochenen Glassturz verdankte, als ich, ein Kind noch, dem einstürzenden Plafond meines Zimmers entkam, und sagte mit einem sonderbaren Ausdruck der Ehrerbietung: ‚Du, Herr, der du das Zeichen des Ewil trägst, stellst Fragen an mich?‘“[133]
Das Stirnzeichen setzt den Helden mit der hochrangigen jenseitigen Gestalt Ewil gleich. In der nächsten Inkarnation des Helden als Sennon Vorauf ist ihm dieses Mal sogar angeboren.[134]
Wiedmers Walter von Tillo wird nach einer ungewöhnlich langen Zeit von 10 Monaten im Mutterleib[135] in der Walpurgisnacht geboren, was im Text durch Hervorhebung als ein besonderes Datum gekennzeichnet ist.[136] Tillo ist ein biologischer Zwitter[137] und durch diese seltene, massive Abweichung von Beginn an „gezeichnet“[138]. Mit seiner Geburt erfüllt er den ersten Teil einer fünfhundert Jahre alten Prophezeiung eines Ahnen, in der es altertümelnd heißt:
„Unserer Art entsprießt im Meie eine Rîs, Herre und Meit, das steiget leitlich im Meistergewand uf Unserer Lieben Frouwen Bau und schauet des Berchfrist Zinnenboden, und steiget herab im gebrîseten sîdîn Frouwenrock, Gebende und Gesmîde…“[139]
Auch der Rest der Vorhersage wird im Verlauf des Romans an ihm wahr werden.[140]
Meyrinks EWF strotzt geradezu vor Prophezeiungen. Baron Müller, eine der beiden Hauptfiguren, hört als Kind seinen Großvater von einem Familientraum erzählen, der nur die Würdigen überkommt.[141] Verläuft dieser in einer ganz bestimmten Art und Weise, so lautet eine Prophezeiung, sei das „Ende aller Tage des Blutes“[142] – ein Ende der irdischen Linie des Geschlechts und der Kampf des letzten Erben um den Aufstieg in höhere Sphären − nahe. Als Erwachsener erscheint Müller im Schlaf dieser Traum.[143] Im Verlauf der Handlung stößt er auf eine weitere Prophezeiung, eine Vision John Dees, die dieser in seinem Tagebuch beschrieb. Sie sagt aus, dass nicht Dee selbst, wohl aber einer seiner fernen Nachkommen ein großes Familienschicksal erfüllen wird:
„Nun ich näher trat zu dem Baume, sah ich in seinen höchsten Wipfeln wie eine Krone plötzlich ein doppeltes Gesicht […] Und über diesem Doppelhaupt schwebte in goldenem Licht eine Krone unter einem Kristall von unaussprechlichem Glanze […] doch unbarmherzig durchschaute ich alsbald den Betrug und erkannte klar, daß nicht ich aus jenem Doppelhaupt blicke, sondern ein Ferner, ein aus dem Quell zu meinen Füßen gestiegener, ein in dieser meiner Zeit mir Unerreichbarer, ein – Anderer! − − − Und ein wütender Schmerz fiel mich an, daß nicht ich, sondern ein Anderer aus meinem Blute und Samen, ein ganz Später: der Erbe der Krone und der mit meiner Elizabeth vereinigte sein sollte.“[144]
Müller identifiziert sich – richtigerweise – mit diesem Erben. Das Familienschicksal, das es letztendlich für ihn zu erfüllen gilt, besteht in einem im Jenseits vollzogenen „höchsten Königtum“[145], das eine untrennbare Vereinigung mit der auserwählten Frau Elizabeth I beinhaltet.[146] Eine Legende über das Geschlecht der Dees offenbart Müller die Ursprünge dieses Schicksals und erklärt, warum die hohe Krone nicht seinem Urahn John Dee gebührt:
„Dieses köstliche Erz zierte vor Zeiten den unbesieglichen Speer des alten Helden und Fürsten von Wales: Hoël – ‚Dhat‘ genannt, was so viel heißt, wie: ‚Der Gute‘ […] die neue Waffe […] [machte] seinen Besitzer unsterblich und gefeit auf alle Zeiten und würdig zum höchsten Königtum […] Einer von den Dhats – oder Dees, wie sie später genannt waren – hat aber den köstlichen Dolch verloren auf schmähliche Art […] und ist ihm dabei mit dem Dolch auch die Kraft und das Erbe und der Segen des Blutes abhanden gekommen und ein Fluch auf den Speer gefallen […]“[147]
Dee ist derjenige, der den Familiendolch verlor. Zu Beginn des Romans sieht er sich noch durch Prophezeiungen und Zeichen als ein Auserwählter markiert. Sein Auserwähltsein fühlt er von Kindheit an, ohne sich jedoch darüber klar zu werden, worauf dieses beruht:
„Denke ich zurück, so ist mir, als habe solche Weissagung mir von der Stunde meiner Geburt an im Blute gelegen. Ich meine, so damals, wie heute: schon meine Kindheit war erfüllt von dem heimlichen Wissen um meine königliche Bestimmung; und vielleicht ist es diese blinde, mir gleichsam mit dem Blute überlieferte Überzeugung gewesen, die mich nie auf den Gedanken fallen ließ, die Ansprüche näher zu prüfen, auf die sie sich gründete.“[148]
In jungen Jahren trifft Dee auf Bartlett Green, der über großes Eingeweihtenwissen verfügt und ihm ein geheimes Zeichen der Auserwählten an seinem Schlüsselbein offenbart.[149]
Trotz dieses hilfreichen Fingerzeigs gehört Green zu einer großen Gruppe Dee feindlich gesinnter übernatürlicher Wesen, die ihm als nur scheinbare Berater und Helfer[150] erscheinen und ihn in die Irre leiten.[151] Durch Green schlecht beraten begeht Dee einen Fehler: er führt ein schwarzmagisches Ritual durch, bei dem ihm die zur Erlangung der Krone unentbehrliche Speerspitze seines Ahnen Hoël Dhat abhandenkommt. Diese wird erst von Baron Müller in ihrem Wert erkannt und wiedererlangt werden. Bei John Dee handelt es sich um eine zu Beginn als auserwählt gekennzeichnete Figur, die scheitert. Dies deutet darauf hin, dass der auserwählte Held trotz angeborener Markiertheit und trotz Prophezeiungen eine Eigenleistung erbringen muss, um seine edle Bestimmung zu erfüllen.
2.2 Die metaphysische Entwicklung des auserwählten Helden
Wie von Marianne Wünsch aufgezeigt und hier bereits thematisiert, entspinnt sich die Handlung der fantastischen Romane der Frühen Moderne um eine Kette von abenteuerlichen Ereignissen im Leben des Helden, die mit dem Einbruch des Übernatürlichen in dieses Leben einsetzt. Dabei durchläuft der Held eine Entwicklung über mehrere Etappen, die bei erfolgreichem Verlauf in einem Dasein auf einer höheren, metaphysischen Existenzebene mündet. ‚Metaphysisch‘ sollen hier all jene Textelemente heißen, die textimmanent mit etwas als göttlich beziehungsweise transzendent Gesetztem korreliert sind oder nach einem solchen hinstreben. Das Metaphysische ist in den hier untersuchten Texten eng mit dem Übernatürlichen verbunden.[152] Die skizzierte, erstmals von Wünsch herausgearbeitete Handlungsstruktur ist für den fantastischen Roman der Frühen Moderne mit GM beginnend ganz charakteristisch.[153] Wünsch hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Weg-Ziel-Modell“[154] eingeführt. Nachfolgend wird die metaphysische Entwicklung der Helden im hier untersuchten Romankorpus näher beleuchtet.
2.2.1 Metaphysische Prädisposition
Marianne Wünsch zufolge besitzen die Heldenfiguren der fantastischen Romane des in dieser Arbeit untersuchten Typs immer ein sehr großes metaphysisches Potential,[155] das ihnen zunächst jedoch nicht bewusst[156] ist.[157] Dieses Unwissen des Protagonisten wird im hier untersuchten Textkorpus besonders gut an einem Gespräch zwischen Athanasius Pernath und Amadeus Laponder deutlich:
„‚Weshalb fragen Sie mich vorhin so ängstlich nach meinen Erlebnissen, wo Sie doch so viel, viel höher stehen als ich?‘, fing ich [Pernath; D. S.] endlich wieder an. ‚Sie irren‘, sagte Laponder, ‚ich stehe weit unter Ihnen. – Ich fragte Sie, weil ich fühlte, daß Sie den Schlüssel besitzen, der mir noch fehlte.‘ ‚Ich? Einen Schlüssel. O Gott!‘“[158]
Pernath, der von der in metaphysischen Dingen kundigen Figur Laponder auf sein verborgenes Potential angesprochen wird, reagiert mit großem Erstaunen.
Die metaphysische Prädisposition der auserwählten Helden der hier untersuchten Texte ist in erster Linie daran zu erkennen, dass sie sich durch eine − oft sehr frühe − Sehnsucht nach Gott beziehungsweise nach metaphysischer Erkenntnis auszeichnen: Pernath erinnert sich daran, dass ihn in seiner Kindheit ein „unsagbarer Wunsch nach dem Wunderbaren“[159] plagte. Walter von Tillo lehnt zwar die Glaubenssätze der christlichen Kirche ab und hadert mit Gott, verliert jedoch nie seinen Glauben an diesen: „Noch aus der Schmähung hörte der Kaplan die verzehrende Sehnsucht [Walters; D. S.] nach Gott und die Angst ihn zu verlieren.“[160] Auch alle früheren Inkarnationen Walters sehnen sich nach etwas Göttlichem.[161] Melchior Dronte und John Dee sind gläubige Christen.[162]
2.2.2 Metaphysische Entwicklung
Im Rahmen ihrer Entwicklung, die sie zu einem metaphysisch höheren Dasein reif macht, werden die Helden des hier analysierten Textkorpus in mehrerlei Hinsicht in ihren Merkmalen transformiert: Zum einen müssen sie die Affekte und Begierden des irdischen Lebens − vor allem den Sexualtrieb − überwinden[163] beziehungsweise davon geläutert werden. Athanasius Pernaths geistiger Führer Schemajah Hillel liefert hierzu ein Gleichnis:
„[D]as Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend […] Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindungen, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden gibt er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung […] Wohl dem Menschen, […] der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen.“[164]
Zum anderen müssen sie Wissen über sich selbst – über ihre unbewussten (metaphysischen) Personenanteile[165] − sowie über die metaphysische Struktur ihrer Welt erlangen. Oft müssen sie sich darüber hinaus im Verlauf ihrer Entwicklung in irgendeiner Form bewähren, eine aktive Leistung erbringen, durch die sie sich des hehren Ziels für würdig erweisen.
[...]
[1] Vgl. Marianne Wünsch: Das Modell der ‚Wiedergeburt‘ zu ‚neuem Leben‘ in erzählender Literatur 1890-1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Hg. von Karl Richter u. a. Stuttgart 1983, S. 380. Im Folgenden wird hier wie bei Wünsch im Zusammenhang mit der Zeit der Frühen Moderne auch der Begriff ‚Epoche‘ verwendet.
[2] Hier nur eine kleine Auswahl an deutschsprachigen fantastischen Romanen der Zeit: Alfred Kubin ‚Die andere Seite‘ (1909), Karl Hans Strobl ‚Eleagabal Kuperus‘ (1910), Hanns Heinz Ewers ‚Alraune‘ (1911), Gustav Meyrink ‚Der Golem‘ (1915), ‚Das grüne Gesicht‘ (1916), ‚Walpurgisnacht‘ (1917), ‚Der weiße Dominikaner‘ (1921), ‚Der Engel vom westlichen Fenster‘ (1927), Paul Busson ‚Die Wiedergeburt des Melchior Dronte‘ (1922), ‚Die Feuerbutze‘ (1923), Werner Bergengruen ‚Das Gesetz des Atum‘ (1923), Hermann Wiedmer ‚Die Verwandlung des Walters von Tillo‘ (1930).
[3] Vgl. Marianne Wünsch: Wege der ‚Person‘ und ihrer ‚Selbstfindung‘ in der fantastischen Literatur nach 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne (PINK/ Passauer Interdisziplinäre Kolloquien; 1). Hg. von Manfred Pfisterer. Passau 1989, S. 168; Jan M. Fischer: Deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus. In: Phantastische Bibliothek. Bd. 17: Phaïcon 3. Almanach der phantastischen Literatur. Hg. von Rein A. Zondergeld. Frankfurt a. M. 1978. Kennzeichnend für den deutschsprachigen Raum ist, dass hier fantastische Literatur seit der Romantik so gut wie gar nicht mehr vorkam, was dieses Neuaufleben umso markanter macht; vgl. etwa Fischer, S. 94.
[4] Marianne Wünsch: Phantastische Literatur [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricker u. a. Bd. 3. Berlin u. a. 2003, S. 71. Über diesen Definitionskern hinaus hat Wünsch weitere Bedingungen für das Vorliegen fantastischer Literatur formuliert; vgl. Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. 2. Aufl. München 1998. Im Allgemein rekurriert die Arbeit häufig auf die ausführlichen Untersuchungen Wünschs zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne.
[5] Diese Untersuchung begrenzt sich ausschließlich auf Romane und schließt kleinere Textformen nicht ein.
[6] Begriff nach Sabine Doering; vgl. dies.: Motiv [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf u. a. 3. Aufl. Weimar 2007, S. 514.
[7] Vgl. Wünsch: Das Modell der ‚Wiedergeburt‘; dies.: Wege der ‚Person‘; dies.: Fantastische Literatur.
[8] Vgl. Mohammad Qasim: Gustav Meyrink. Eine monographische Untersuchung (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 95). Hg. von Ulrich Müller u. a. Stuttgart 1981.
[9] Vgl. Heidemarie Oehm: Der Golem (1915) von Gustav Meyrink. In: Spiegel im dunklen Wort. Analysen zur Prosa des frühen 20. Jahrhunderts. Hg. von Winfried Freud u. a. Frankfurt a. M. 1983, S. 177-203.
[10] Vgl. Margit Hamann: Merkmale, Status und Funktion von Helfer- und Verführer-Figuren in auserwählten Romanen Gustav Meyrinks. Magisterarbeit. Kiel 1998.
[11] Begriff nach Andreas Reckwitz: „Der mehrdeutige Begriff ‚K.‘ […] bezeichnet die ideelle Dimension sozialer Praxis, die die Merkmale der Welt und des Handelns definiert und klassifiziert. K. schafft ein sprachspezifisches, sozial verbindliches Verständnis der Wirklichkeit und macht damit bestimmtes Handeln möglich. K. unterscheiden sich entsprechend in ihrem Wirklichkeitsverständnis, in dem, was sie für wahr halten und wie sie in diesem Verständnis ihre soziale Praxis organisieren […]“; Andreas Reckwitz: Kultur [Art.] In: Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hg. von Sina Farzin u. a. Stuttgart 2008, S. 162 f.
[12] Vorliegende Ausgabe: Gustav Meyrink: Der Golem. München 2009. Im Folgenden abgekürzt mit GM.
[13] Vorliegende Ausgabe: ders.: Der Engel vom Westlichen Fenster. München 1975. Im Folgenden abgekürzt mit EWF.
[14] Vorliegende Ausgabe: Paul Busson: Der Seelenwanderer. Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (Originaltitel: Die Wiedergeburt des Melchior Dronte). Altenstadt 1996. Im Folgenden abgekürzt mit WMD.
[15] Vorliegende Ausgabe: Hermann Wiedmer: Die Verwandlung des Walter von Tillo. München 1930. Im Folgenden abgekürzt mit VWT.
[16] Vgl. etwa Wünsch: Fantastische Literatur, S. 81 f.
[17] Zur Rezeptionsgeschichte von Meyrinks Werken vgl. Qasim, S. 1 ff.
[18] Peter Cersowsky: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kafka. Kubin. Meyrink. 2. Aufl. München 1989.
[19] Jan C. Meister: Hypostasierung – die Logik mythischen Denkens im Werk Gustav Meyrinks nach 1917. Eine Studie zur erkenntnistheoretischen Problematik eines phantastischen Oeuvres. Frankfurt a. M. 1987.
[20] Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meintingen 1987.
[21] Stefan Berg: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstruktur in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1991.
[22] Vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 227 ff. Wobei diese charakteristischen Textstrukturen, wie Wünsch schreibt, in Ansätzen bereits in früheren Texten wie Karl Hans Strobls ‚Eleagabal Kuperus‘ (1910) auszumachen sind; vgl. ebd., S. 228.
[23] Die meisten fantastischen Texte der Frühen Moderne erscheinen nach 1914 und vor allem in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg; vgl. ebd., S. 69 f.
[24] Vgl. Marianne Wünsch: Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit. Zur Logik einer fantastischen Welt. In: EWF, S. 532.
[25] Vgl. Wünsch: Suche nach der verlorenen Wirklichkeit.
[26] Bussons WMD ist darüber hinaus in der hier zitierten Ausgabe im Internet-Esoterikverlag Grasmück erhältlich.
[27] Vgl. etwa Harro H. Kühnelt: Paul Busson. Ein vergessener österreichischer Schriftsteller (9. Juli 1873 Innsbruck – 8. Juli 1924 Wien). In: Festschrift für Erich Egg zum 70. Geburtstag. Hg. von Gert Ammann. Innsbruck 1990, S. 135-146; Franz Rottensteiner: Die ‚Seelenwanderungen‘ des Paul Busson. In: Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen. Hg. von Wolfgang Müller-Funk u. a. Tübingen 2008, S. 219-233.
[28] Günther Mahal, Nikolas Immer: Unterhaltungsliteratur [Art.] In: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf u. a. 3. Aufl. Weimar 2007, S. 794 f.
[29] Begriff nach Franz K. Stanzel; vgl. ders.: Theorie des Erzählens. 3. Aufl. Göttingen 1985, vor allem Kap. 3.1.
[30] Begriff nach Franz K. Stanzel; vgl. ebd.
[31] Wer dieses Ich ist, das da spricht, ist in den Texten oft schwer zu fassen. Diese der Übersicht halber einleitend dargestellten komplexen Erzählsituationen hängen mit einer ganz bestimmten Charakterisierung des Subjekts in der (fantastischen) Literatur der Frühen Moderne zusammen, das als ständig gefährdete und im Auseinanderfallen begriffene Größe dargestellt wird; vgl. etwa Wünsch: Wege der ‚Person‘, S. 178 f. Auf diesen Aspekt kann im weiteren Verlauf nur am Rande eingegangen werden.
[32] Vgl. ebd., S. 169.
[33] Begriff nach Marianne Wünsch; vgl. dies.: Fantastische Literatur, S. 63 f.
[34] Vgl. ebd.
[35] Vgl. Wünsch: Wege der ‚Person‘, S. 173.
[36] Vgl. GM, S. 19 ff.; vgl. hierzu auch Wünsch: Fantastische Literatur, S. 240.
[37] Eine Ausnahme stellt etwa ein alter Totengräber dar, dem der Fangerle bekannt ist; vgl. WMD, S. 102.
[38] Vereinzelt haben andere Figuren schemenhafte und für sie verwirrende Begegnungen mit der geisterhaften Dita; vgl. etwa VWT, S. 445.
[39] Vgl. ebd., S. 351 f.
[40] Der Terminus ‚gesellschaftliche Gruppe‘ bezeichnet hier jede in den behandelten Texten dargestellte, aufgrund ihrer Größe oder ihres Einflusses für die im jeweiligen Text skizzierte Gesellschaft relevante Gruppe von Figuren, die gemeinsame Merkmale aufweisen und in diesen zu den Figuren einer oder mehrerer anderer solcher Gruppen in Opposition stehen. In GM können beispielsweise folgende gesellschaftlichen Gruppen unterschieden werden: Adel, Bewohner des Judenghettos, Bürgertum, Verbrecher und Prostituierte. In WMD unter anderem diese: Adel, Nicht-Adel, Studenten, Soldaten. Die gesellschaftlichen Gruppen überlagern einander teilweise: In GM sind Figuren der Gruppe Verbrecher und Prostituierte oft auch als Ghettobewohner gekennzeichnet, nicht alle Ghettobewohner jedoch als Verbrecher oder Prostituierte. In WMD umfasst die Gruppe ‚Nicht-Adel‘ die Gruppe Soldaten als Untergruppe, der Gruppe Studenten können sowohl Vertreter der Gruppe Adel als auch der Gruppe Nicht-Adel angehören. Auf Begriffe wie ‚Stand‘, ‚Klasse‘, ‚Schicht‘, ‚Milieu‘ oder ‚soziale Gruppe‘ wird hier bewusst verzichtet. Einerseits träfe jeder dieser Termini höchstens auf einen Teil der behandelten gesellschaftlichen Gruppen zu. Andererseits handelt es sich bei den Figuren der Texte um keine realen Menschen; sie bewegen sich nicht in realen Gesellschaften, sondern in mehr oder minder mimetischen, mehr oder minder scharf umrissenen Nachbildungen solcher. Deswegen ist die Zuhilfenahme feststehender soziologische Begriffe in diesem Zusammenhang nicht adäquat. Werden in der vorliegenden Arbeit gelegentlich Begriffe wie ‚Gesellschaft‘ oder ‚sozial‘ verwendet, so sind sie in ihrer allgemeinsten, bei soziologischen Laien gebräuchlichen Bedeutung zu verstehen.
[41] Das gelegentliche Abweichlertum der Protagonisten bereits in der Ausgangssituation des Textes erwähnt auch Marianne Wünsch, vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 231.
[42] GM, S. 17.
[43] Ebd., S. 184.
[44] Margit Hamann weist darauf hin, dass Meyrinks Figuren nie ‚wirklich‘ der Unterschicht, sondern meist mindestens dem gehobenen Bürgertum, wenn nicht gar dem Adel angehören; vgl. Hamann, S. 54 f. Dieses Merkmal gilt prinzipiell für alle Helden des fantastischen Romans der Frühen Moderne. Weitere ‚elitäre‘ Angehörige der Unterschicht im hier vorliegenden Textkorpus sind die ‚gefallenen‘ Adeligen John Dee und Melchior Dronte.
[45] Vgl. GM, S. 52.
[46] Vgl. EWF, S. 520 ff.
[47] Vgl. WMD, S. 12; S. 41.
[48] Ebd., S. 236.
[49] Vgl. etwa ebd., S. 250.
[50] Vgl. ebd., S. 12.
[51] Vgl. ebd., S. 65.
[52] Ebd., S. 201.
[53] Ebd., S. 210.
[54] Ebd., S. 270.
[55] Ebd., S. 271.
[56] Ebd., S. 277.
[57] Erklärt wird dieses Abweichlertum im Text damit, dass Vorauf sich seit der Kindheit an sein früheres Leben als Melchior Dronte erinnern kann, was seine Aufmerksamkeit von der Gegenwart abzieht; vgl. WMD, S. 278.
[58] Ebd., S. 285.
[59] Vgl. ebd., S. 288; S. 73.
[60] Vgl. etwa ebd., S. 284 f.
[61] Die letzten großen Arbeiten am Münster haben im 13. Jahrhundert, 570 Jahre vor Walters Gegenwartszeit, stattgefunden; vgl. VWT, S. 50.
[62] Vgl. ebd., S. 32.
[63] Vgl. ebd., S. 265.
[64] Vgl. ebd., S. 37.
[65] Vgl. etwa ebd., S. 48; 117 f.
[66] Vgl. ebd., S. 116.
[67] Vgl. ebd. S, 435.
[68] Ebd., S. 243.
[69] Vgl. ebd., S. 227 f.
[70] Vgl. etwa ebd., S. 234.
[71] Vgl. ebd., S. 222.
[72] Ebd., S. 126. Wie Dronte/Vorauf und Walter tendiert auch Athanasius Pernath aus GM – zumindest seinen Freunden gegenüber − zur Wohltätigkeit (vgl. GM, S. 126 f.; S. 147 f.), was bei einem Teil der Figuren der Diegese Achtung evoziert; vgl. etwa ebd., S. 215; S. 217. Allerdings ist Wohltätigkeit innerhalb der dargestellten Welt von GM nicht als Ausnahmemerkmal gekennzeichnet: Schemajah Hillel ist – zumindest dem Hörensagen nach – ein großer Wohltäter (vgl. ebd., S. 124); Charousek wird bei seiner medizinischen Ausbildung von Gönnern unterstützt (vgl. ebd., S. 123); der Trödler Wassertrum schenkt dem bitterarmen Charousek − und sei es nur, weil dieser sein illegitimer Sohn ist – Geld (vgl. ebd., S. 116 f.); außerdem beschenkt er das Mädchen Mirjam mit einem Brillanten (vgl. ebd., S. 162 f.); der Jurist Dr. Hulbert finanziert die Ausbildung eines jungen Mannes (vgl. ebd., S. 61 f.). Wie an späterer Stelle noch ausführlicher thematisiert wird, ist aktive Hilfeleistung gegenüber anderen und besonders Wohltätigkeit in Meyrinks Texten prinzipiell als problematisches Phänomen gekennzeichnet.
[73] VWT, S. 243 f.
[74] Das einzige Merkmal, welches das fast grenzenlose gesellschaftliche Ansehen Walters trübt, ist eine monatlich wiederkehrende, für die übrigen Figuren der Diegese geheimnisvolle Krankheit, die ihm die Aura eines Stigmatisierten und zu frühem Tode Verdammten verleiht; vgl. ebd., S. 196. Dieser Krankheit liegt die Tatsache zugrunde, dass Walter als biologischer Zwitter dem weiblichen Zyklus unterliegt, was den meisten anderen Figuren jedoch nicht bekannt ist.
[75] Vgl. ebd., S, 295 ff.
[76] Vgl. ebd., S. 308.
[77] Ebd., S. 310 f.
[78] Vgl. ebd., S. 324 f.
[79] Vgl. ebd., S. 325.
[80] Vgl. ebd., S. 326 f.
[81] Vgl. ebd., S. 336.
[82] Vgl. ebd., S. 349.
[83] Vgl. ebd., S. 352 ff.
[84] Vgl. ebd., S. 388 f.
[85] Vgl. ebd., S. 394.
[86] Vgl. ebd., S. 406.
[87] Ebd., S. 400.
[88] Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Stellung der als auserwählt gekennzeichneten Helden ist interessant, dass viele von ihnen im weitesten Sinne Künstler sind und auch als solche innerhalb ihrer Diegese eine Sonderstellung einnehmen − in manchen Fällen im positiven, in anderen im negativen Sinne: Athanasius Pernath aus GM ist Gemmenschneider und hat somit einen künstlerischen Beruf. Für seine Arbeit erfährt er (zeitweise) Anerkennung, so erzählt ihm die Nebenfigur Angelina: „[Ü]brigens, wissen Sie, daß ich gestern bei meinem Juwelier war und er gesagt hat: Sie sind der größte Künstler, der feinste Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der größten, die je gelebt haben?!“; GM, S. 167. Wie bereits thematisiert, wird Pernath von den meisten Figuren als ‚Meister Pernath‘ bezeichnet, was Ausdruck einer gewissen Achtung ist. Es erscheint naheliegend, dass er damit als Meister seines Fachs anerkannt wird, wobei diese Anrede im Text nicht näher begründet wird, was ihr eine gewisse Offenheit verleiht. Baron Müller aus EWF ist Literat, doch sein Schaffen stößt in der Welt, in der er lebt, auf Unverständnis; in der Zeitung seiner Stadt ist im Bezug auf sein Schreiben von „einer ernsthaften Kunstkritik nicht standhaltenden schriftstellerischen Bemühungen“ (EWF, S. 520) die Rede. Die Tillo-Baumeister aus VWT gelten in ihrem handwerklichen Fach als Künstler, was ihr Ansehen innerhalb der Gesellschaft steigert: „Wir sind gute Handwerker, wohl, wohl, aber ihr Tillos – ihr seid halt Künstler.“; VWT, S. 47.
[89] GM, S. 71.
[90] Vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 231.
[91] Vgl. ebd., S. 231 f.
[92] Vgl. etwa Wünsch: Wege der ‚Person‘, S. 170 ff.
[93] Vgl. GM, S. 72.
[94] Vgl. ebd. Zwei Figuren, die diesen zu gehen scheinen, sind die ebenfalls als auserwählt gekennzeichneten Innocenz Charousek und Amadeus Laponder, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher eingegangen wird.
[95] GM, S. 72. Worin genau die spezifischen Merkmale der beiden Wege bestehen, bliebt dunkel.
[96] Vgl. ebd., S. 139 f.
[97] Vgl. ebd., S. 142.
[98] Ebd., S. 232 f.
[99] Ebd., S. 232.
[100] Vgl. etwa Wünsch: Fantastische Literatur, S. 233.
[101] Vgl. WMD, S. 41.
[102] Vgl. ebd., S. 59.
[103] Begriff nach Jurij M. Lottman; vgl. ders.: Die Struktur literarischer Texte. 4. Aufl. Freiburg am Neckar 1993, S. 332 f.
[104] Vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 235.
[105] WMD, S. 153.
[106] Ebd., S. 155.
[107] Vgl. ebd., S. 201.
[108] Vgl. etwa ebd., S. 179.
[109] Ebd., S. 201. Gleichzeitig finden sich im Text, wie noch näher beleuchtet werden wird, Hinweise darauf, dass Hemmetschnur auf Krottenriede für Vergehen aus einem früheren Leben büßt; vgl. WMD, S. 203.
[110] Je nach Charakterisierung der jeweiligen weiblichen Figur. Zur Relation des Helden zu weiblichen Figuren vgl. etwa Wünsch: Fantastische Literatur, S. 235 f.
[111] Vgl. VWT, S. 122. Zu Walters Verehrerinnen und Verehrern gehören auch solche Figuren, deren Begehren für ihn innerhalb der Diegese einen gravierenden Regelverstoß darstellt, zum Beispiel eine mehr als doppelt so alte verheiratete Frau und Mutter (vgl. ebd., S. 80 ff.) sowie ein Priester (vgl. ebd., S. 209). Darüber hinaus gilt das Verlangen aller männlichen Figuren nach Walter als schwerer Regelverstoß, da Homosexualität innerhalb der Diegese als unmögliche Praxis gilt (vgl. ebd., S. 209 f.).
[112] Vgl. GM, S. 262 f.
[113] Vgl. EWF, S. 516 f.
[114] WMD, S. 279.
[115] Vgl. VWT, S. 430 ff.
[116] GM, S. 52.
[117] WMD, S. 220.
[118] Vgl. ebd., S. 286 f.
[119] Vgl. VWT, S. 121; S. 455f.
[120] Vgl. ebd., S. 297.
[121] Vgl. ebd., S. 311.
[122] Vgl. ebd., S. 388.
[123] Z. B. der Domherr Ambross Vorauf aus VWT; vgl. VWT, S. 116.
[124] Z. B. hat Aaron Wassertrum aus GM eine Hasenscharte (vgl. GM, S. 12), Bartlett Green aus EWF hat Lepra (vgl. EWF, S. 92), Edward Kelley aus eben diesem Roman hat abgeschnittene Ohren (vgl. ebd., S. 214), Doktor Postremo aus WMD ist bucklig (vgl. WMD, S. 125 f.).
[125] Beispielfiguren sind: Assja Chotokalungin aus EWF, Lorle/Lorette aus WMD und Anne Heilmann aus VWT. Die anfängliche Schönheit solcher Figuren wird an fortgeschrittener Stelle der Textes oft durch Entstellung konterkariert. So tragen Lorette und Anne nach einigen Jahren sichtbare Spuren der Syphilis; vgl. WMD, S. 220f.; VWT, S. 467.
[126] Vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 231.
[127] Pernath ist, worauf in der Forschungsliteratur häufig hingewiesen wird, bereits durch seinen Vornamen als Auserwählter gekennzeichnet: „Athanasius: männl. Vorn. griechischen Ursprungs (zu griech. A-thánatos ‚unsterblich‘) […]“; vgl. Rosa und Volker Kohlheim: Duden. Lexikon der Vornamen. 5. Aufl. Mannheim 2007, S. 61.
[128] Vgl. GM, S. 143.
[129] Vgl. ebd., S. 218; S. 231 f.
[130] Ebd., S. 235.
[131] Ebd., S. 178.
[132] Das Hermaphroditen-Motiv begleitet Pernath durch den gesamten Text, vgl. etwa ebd., S. 21; S. 112; S. 166.
[133] WMD, S. 120. Den Türken wird in WMD ein okkultes Wissen zugesprochen, wie es andere Figuren nicht besitzen. Wie bereits erwähnt, hat der Ewil das Aussehen eines türkischen Derwisches; am Ende des Romans werden Halweti-Derwische dargestellt, die um den Ewil und seine Verbindung zu Sennon Vorauf wissen, dieses Geheimnis jedoch nicht mit nicht-türkischen Figuren teilen wollen (vgl. ebd., S. 289 f.); auch einfache Türken erkennen diese Verbindung (vgl. ebd., S. 291).
[134] Vgl. ebd., S. 276.
[135] Vgl. VWT, S. 40.
[136] Vgl. ebd., S. 9.
[137] Er stellt ein so vollkommenes Beispiel von voll ausgeprägtem Hermaphroditismus dar, wie ihn die Wissenschaft bisher nicht kannte; vgl. ebd., S. 91.
[138] Ebd., S. 11.
[139] Ebd., S. 10.
[140] Walter von Tillo trägt ähnlich wie Melchior Dronte eine charakteristische Narbe. Er zieht sie sich zu, als er mit 15 Jahren seinem Freund Kiesel das Leben rettet. Dieses Mal dient im späteren Verlauf der Handlung jedoch anders als in WMD nicht als Zeichen seiner Auserwähltheit, sondern als Identifikationsmerkmal; vgl. ebd., S. 464. In seinem vorhergehenden Leben trug der Protagonist von VWT als Säugling das Zeichen einer hohen indischen Priesterkaste auf der Stirn (vgl. ebd., S. 390), das als Fingerzeig auf seinen Auserwähltenstatus gedeutet werden kann.
[141] Vgl. EWF, S. 11.
[142] Ebd., S. 17.
[143] Vgl. ebd., S. 10f; S. 16.
[144] Ebd., S. 207.
[145] Ebd., S. 384.
[146] Vgl. etwa ebd., S. 207.
[147] Ebd., S. 384 f.
[148] Ebd., S. 134.
[149] Vgl. ebd., S. 59.
[150] Zu Verführerfiguren im Werk Gustav Meyrinks vgl. Hamann, S. 82 ff.
[151] Zu ‚Irrwegen‘ im fantastischen Roman der Frühen Moderne, vgl. Wünsch: Wege der ‚Person‘, S. 170 f.
[152] Beide Phänomene sind einem hier noch darzustellenden jenseitigen Raum zugehörig.
[153] Wünsch nennt neben den hier aufgeführten Hauptmerkmalen auch weitere Charakteristika der Struktur, welche im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht relevant werden. Vgl. etwa Wünsch: Wege der ‚Person‘, S. 168 ff.
[154] Ebd., S. 171.
[155] Wünsch schreibt von „Vorbestimmtheit zur okkulter Macht“; ebd., S. 232.
[156] Begriff auch bei Wünsch nach Michael Titzmann; vgl. ders.: Das Konzept der ‚Person‘ und ihrer ‚Identität‘ in der deutschen Literatur um 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hg. von Manfred Pfister. Passau 1989, S. 36.
[157] Vgl. Wünsch: Fantastische Literatur, S. 232.
[158] GM, S. 237. Vgl. auch WMD, S. 120.
[159] GM, S. 112.
[160] VWT, S. 102.
[161] Vgl. ebd., S. 477.
[162] Vgl. EWF, S. 211; WMD, S. 35; S. 160. Dieses Christentum integrieren sie problemlos in das Weltbild, das sich ihnen aufgrund zahlreicher Begegnungen mit übernatürlichen Größen und metaphysischer Erkenntnisse erschließt.
[163] Zu Meyrinks Werk vgl. in diesem Zusammenhang etwa Qasim, S. 140.
[164] GM, S. 70.
[165] Begriff ‚Person‘ nach Michael Titzmann, vgl. Titzmann, S. 36.
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