Betritt man den Hof des ehemaligen Burchardi-Klosters von Halberstadt (Sachsen-Anhalt), vernimmt man, je näher man dem ehemaligen Kirchengebäude kommt, ein Brummen. Auch nach Betreten des Gebäudes lässt sich die Herkunft des Tönens noch nicht orten. Bei Erreichen des Vierungsbereiches wird rechter Hand eine Orgelkonstruktion sichtbar, ca. drei Meter hoch, mit speziell angefertigten Pfeifen. Die Erkundung des Hörbaren beginnt. Das fortwährende Erklingen des/r gleichen Tones/Töne weckt die Neugier: Klingen die Töne überall gleich? Schon ein leichtes Bewegen des Kopfes zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Wie klingen sie im Kreuzgang? Kehrt man zum Vierungsbereich zurück, läuft man unweigerlich über Kies: Das Geräusch der eigenen Schritte kommt hinzu. Bleibt man stehen, vernimmt man Stimmen und Geräusche, die von außerhalb des Gebäudes nach innen dringen. Angrenzend zum Klostergelände befindet sich eine Steinmetzwerkstatt. Der Bereich der Orgelkonstruktion ist mit einer Kordel abgesperrt, aber trotzdem kann man sich nah genug zu den Orgelpfeifen hinüberbeugen und vernimmt das stetige Strömen der Luft durch die Pfeifen. Selten erlebt man das Entstehen eines Tones so direkt. Gegenüber der Orgelkonstruktion befindet sich das elektrische Gebläse zu ebener Erde. Hier kann man das Ohr direkt an die Konstruktion legen. Konzentriert man sich wieder auf die Töne, dringen Schritt für Schritt die zeitlichen Dimensionen des Projektes ins Bewusstsein: Eine Komposition, die bis ins Jahr 2640 erklingen soll.
In der Benennung „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ findet sich bereits eine ganze Reihe der Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit von Interesse sein werden: Ausgangspunkt des Projektes ist eine Komposition, die John Cage 1985 zunächst für Klavier verfasste und mit der Aufführungsvorschrift „as slow as possible“, so langsam wie möglich, versah. 1987 arbeitete er dieses Stück für Orgel um und widmete es dem Organisten Gerd Zacher. Das Stück besteht aus acht ca. gleich langen Teilen, von denen einer wiederholt werden kann. Der Interpret entscheidet selbst über das Tempo der Aufführung und darüber, welchen Teil er wiederholt.
1998, während der zweiten Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen, an der neben Musikwissenschaftlern und Komponisten auch Orgelbauer, Philosophen und Theologen teilnahmen, wurde u.a. die Frage diskutiert, was die Spielanweisung so langsam wie möglich für eine Orgel eigentlich bedeutet.[...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. John Cage: Zeitkonzepte seiner Musik
1.1. Philosophische Verortung: Amerikanischer Transzendentalismus und Zen- Buddhismus
1.2. Augenblick und Klang
1.3. Unbestimmtheit
1.4. Zufall
1.5. Stille, Dauer und Gleichzeitigkeit
1.6. Prozesshaftigkeit: Evolution und Dekomposition
1.7. Wiederholung als Variation
1.8. Verräumlichte Zeit
2. ORGAN²/ASLSP: Eine Komposition ̶ viele Komponisten
2.1. Zeitaspekte der Originalkomposition für Klavier und der Fassung für Orgel
2.2. Zeitebenen des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes Halberstadt
2.2.1. Die Spieldauer: 639 Jahre
2.2.1.1. Die historische Verankerung
2.2.1.2. Entschleunigung und Spiritualität
2.2.2. Chronos und Kairos: Aufhebung und Verdichtung von Zeiterfahrung
2.2.2.1. Zeitphilosophische Verortung
2.2.2.2. Das menschliche Erleben von Chronos und Kairos in der Musik
2.2.2.3. Der Klangwechsel als musikalisches Ereignis
2.2.3. Die Eigenexistenz des Klanges
2.2.4. Der Atem der Orgel: Möglichkeiten des Instruments
3. Räumliche Aspekte des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes Halberstadt
3.1. Der topische Raum: Der Klangraum, die Klangskulptur und die Klanginstallation
3.2. Der innermusikalische Raum: Eliminierung von Zeit durch totale räumliche Organisation
3.3. Der offene Raum
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis: Internetquellen und Diskographie
Anhang
Einleitung
“Also, als Wagnerianer würde man sagen: Das ist ein Gesamtkunstwerk!”[1]
Betritt man den Hof des ehemaligen Burchardi-Klosters von Halberstadt (Sachsen-Anhalt), vernimmt man, je näher man dem ehemaligen Kirchengebäude kommt, ein Brummen. Auch nach Betreten des Gebäudes lässt sich die Herkunft des Tönens noch nicht orten. Bei Erreichen des Vierungsbereiches wird rechter Hand eine Orgelkonstruktion sichtbar, ca. drei Meter hoch, mit speziell angefertigten Pfeifen. Die Erkundung des Hörbaren beginnt. Das fortwährende Erklingen des/r gleichen Tones/Töne weckt die Neugier: Klingen die Töne überall gleich? Schon ein leichtes Bewegen des Kopfes zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Wie klingen sie im Kreuzgang? Kehrt man zum Vierungsbereich zurück, läuft man unweigerlich über Kies: Das Geräusch der eigenen Schritte kommt hinzu. Bleibt man stehen, vernimmt man Stimmen und Geräusche, die von außerhalb des Gebäudes nach innen dringen. Angrenzend zum Klostergelände befindet sich eine Steinmetzwerkstatt. Der Bereich der Orgelkonstruktion ist mit einer Kordel abgesperrt, aber trotzdem kann man sich nah genug zu den Orgelpfeifen hinüberbeugen und vernimmt das stetige Strömen der Luft durch die Pfeifen. Selten erlebt man das Entstehen eines Tones so direkt. Gegenüber der Orgelkonstruktion befindet sich das elektrische Gebläse zu ebener Erde. Hier kann man das Ohr direkt an die Konstruktion legen. Konzentriert man sich wieder auf die Töne, dringen Schritt für Schritt die zeitlichen Dimensionen des Projektes ins Bewusstsein: Eine Komposition, die bis ins Jahr 2640 erklingen soll.
In der Benennung „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ findet sich bereits eine ganze Reihe der Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit von Interesse sein werden: Ausgangspunkt des Projektes ist eine Komposition, die John Cage 1985 zunächst für Klavier verfasste und mit der Aufführungsvorschrift „as slow as possible“, so langsam wie möglich, versah. 1987 arbeitete er dieses Stück für Orgel um und widmete es dem Organisten Gerd Zacher. Das Stück besteht aus acht ca. gleich langen Teilen, von denen einer wiederholt werden kann. Der Interpret entscheidet selbst über das Tempo der Aufführung und darüber, welchen Teil er wiederholt.[2]
1998, während der zweiten Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen, an der neben Musikwissenschaftlern und Komponisten auch Orgelbauer, Philosophen und Theologen teilnahmen, wurde u.a. die Frage diskutiert, was die Spielanweisung so langsam wie möglich für eine Orgel eigentlich bedeutet. Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn und Hans-Ola Ericsson, die Cage noch persönlich gekannt hatten, entwickelten gemeinsam mit dem Organisten Christoph Bossert, dem zeitgenössischen Komponisten Jakob Ullmann und der Musikwissenschaftlerin Karin Gastell die Idee einer Realisierung der Cageschen Komposition „ORGAN²/ASLSP“, die sich an der Lebensdauer einer Orgel orientiert.[3] Bezugnehmend auf die lange Orgelgeschichte der Stadt Halberstadt, die 1361 mit dem Bau der ersten Blockwerksorgel begann, setzte die Projektgruppe um das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt mit dem Jahr 2000 eine Zeitachse[4]: Zurückgerechnet waren seit dem Bau der ersten Orgel 639 Jahre vergangen. Die Idee entstand, die Komposition so zu dehnen, dass sie weitere 639 Jahre erklingt. Auf einer Orgel ist das möglich, so lang die Pfeifen mit Luft versorgt werden. 2001 startete das Projekt zunächst nur mit einem Blasebalg. Wie es die Komposition vorsieht, begann das Stück mit einer Pause, und gemäß der zeitlichen Dehnung, die das Projekt vorsieht, dauerte diese in der Burchardi-Kirche siebzehn Monate. 2003 ertönten dann die ersten drei Pfeifen, die in eine Konstruktion gesteckt wurden: ein eingestrichenes gis, ein h und ein zweigestrichenes gis.
Mit der Entscheidung, die Aufführung der Cageschen Komposition nach Halberstadt und in ein ehemaliges Kirchengebäude zu holen, sind Fragen entstanden, die bis heute diskutiert werden. Sie hängen mit der Bindung der Komposition bzw. ihrer Aufführung an einen Ort der Kirchengeschichte und mit der Bindung an eine christlich fundierte Zeitachse zusammen, die die Basis für die Berechnung der Dehnung des Stückes bildet. Diese Fragen werden in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit diskutiert.
Die konkrete ästhetische Situation[5] in der Burchardi-Kirche konfrontiert mit einem Zeitmaß, das das an der Länge eines Lebens orientierte menschliche Maß übersteigt. Die Orgel wurde eigens für diesen Ort gebaut und trägt Züge sowohl einer Klanginstallation als auch einer Klangskulptur.[6] Die Offenheit der Situation weist einige für die zeitgenössische Musik des 20. Jahrhunderts wesentliche Merkmale auf. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit sollen dabei vor allem die für das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt typische Verzeitlichung des Raumes und die Verräumlichung der Zeit stehen.
Was hat all dies mit Richard Wagner und dem Gesamtkunstwerk zu tun? Wagners Parsifal wurde 1882 uraufgeführt. Das oft aus dem Libretto benutzte Zitat „ Zum Raum wird hier die Zeit “ illustriert aber nicht Wagners quasi religiöses Anliegen, sondern seine Bestrebungen, in seinem eigenen Theater eine Einheit von Musik, Drama und Theater zu erschaffen, und zwar nicht durch bloße Addition, sondern durch Synthese der Künste. Das so entstehende Gesamtkunstwerk sollte die bestehenden Theaterverhältnisse revolutionieren. Sein Theater in Bayreuth wurde nach seinen eigenen Vorstellungen gebaut und führt den Orchesterklang durch eine spezielle Abdeckung weg vom Publikum hin zur Bühne: Das Publikum soll Musik und Darstellung synthetisiert erleben.[7]
In völlig anderem Zusammenhang taucht das Zitat „ Zum Raum wird hier die Zeit “ dann in den Künsten des 20. Jahrhunderts wieder auf.
Simultaneität wird „zum gemeinsamen Erlebnis der Generationen um 1910“[8]. In der Musik wird sie in dieser Zeit für den Umgang mit Tonalität und Rhythmus gebräuchlich.[9] Damit drückt sich in den Künsten aus, was für das Alltagserleben inzwischen typisch geworden ist: In den wachsenden Städten addieren sich die Sinneseindrücke nicht nur, sie werden gleichzeitig wahrgenommen und synthetisiert.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändert sich das menschliche Zeiterleben. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Raum und Zeit (Quantentheorie, Relativitätstheorie) und den Menschen (Psychoanalyse), aber auch die Erfahrung des I. Weltkriegs führen zu einem Bewusstseinswandel.[10] Jean Gebser spricht von einer „integralen Bewusstseins-struktur“[11], die durch den „Einbruch der Zeit“[12] entsteht und eine aperspektivische Weltsicht begründet.[13] Zum einen wird die Vielfalt von Zeit wahrgenommen, zum anderen „die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“[14]. Das Symbol hierfür ist die Kugel, wie sie später auch in B.A. Zimmermanns „Kugelgestalt der Zeit“ auftaucht.[15] Musik und bildende Kunst vollziehen zu Beginn des neuen Jahrhunderts gleichermaßen einen fundamentalen Wandel weg vom „System der temperierten Tonalität“ und dem „System der perspektiven Raumeinheit und Abbildlichkeit“.[16] Charles Ives beschäftigt sich als einer der ersten Komponisten des 20. Jahrhunderts mit Polymetrik und Polyrhythmik, mit Asymmetrie, Sukzession und Simultaneität[17] und inspiriert später den jungen Cage, rhythmische Entitäten vollständig aus jedem polyphonen Zusammenhang heraus zu lösen. Cage hierzu: „I, personally, see, as a general tendency, an interest away from harmony (verticality: Richard Wagner) and towards counterpoint, or better linearity (horizontality: Bach, Toch, Honegger, Brant, Riegger) […] Harmony puts an emphasis about a given moment which counterpoint transfers to an emphasis upon movement.”[18]
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts taucht der Begriff des Gesamtkunstwerks im Kontext avantgardistischer Bewegungen auf, die eine Synthese von Kunst und Leben anstreben. Diesen sozialen Impetus hatte er durchaus schon bei Wagner, der davon ausging, „dass Veränderungen im Bereich der Kunst nur auf der Grundlage gesellschaftlicher Veränderungen möglich sind“[19], geht nun aber weit darüber hinaus, indem die Grenzen zwischen Kunst und Leben vollständig niedergerissen werden sollen. Diese Vorstellung entsteht vor dem Hintergrund einer Moderne, die nicht nur traditionelle Vergemeinschaftungsformen zerstört hat, sondern den einzelnen zunehmend in das Korsett einer durchrationalisierten Gesellschaft zwängt. „Der Traum vom Gesamtkunstwerk ist die Antwort auf den Rationalismus der Aufklärung, auf die Ordnung der Enzyklopädie, die Alphabetisierung des Geistes, die Atomisierung des Wissens. […] Der Traum vom Gesamtkunstwerk ist die Antwort auf eine erschütterte […] Welt, deren Gott tot ist, aber noch nicht begraben. […] Er träumt vom Unwiederbringlichen […] von […] der Einheit von Kunst und Leben.“[20]
Die nordamerikanische Antwort auf diese Zeitdiagnose besitzt dabei durchaus eine eigene, von der europäischen abweichende Dynamik und wendet sich den eigenen Wurzeln, dem Transzendentalismus zu. Der amerikanische Transzendentalismus[21] wendet sich gegen die romantische europäische Auffassung von „ästhetischer und formaler Geschlossenheit als Kriterium von Kunst“ und rückt „die Einheit aller Erfahrung in den Mittelpunkt seiner Philosophie“.[22] Cage sieht sich diesem Denken tief verbunden. Er ist nicht auf der Suche nach dem synästhetischen künstlerischen Erlebnis, sondern nach dem reinen, sich selbst erzeugenden Klang und steht damit in der Tradition des Denkens von Henry D. Thoreau, „der eine »reine« Erscheinung als Ausdruck für die Identität von Kunst und Leben sucht“.[23]
Nach dem Abebben avantgardistischer Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts taucht der Terminus Gesamtkunstwerk erst wieder im Kontext technischer Innovationen seit ca. den 80er Jahren auf: „Ein Drang zum Gesamtkunstwerk ist bei jüngeren Künstlern, begünstigt durch die Einbeziehung technischer Medien und durch die Entgrenzung der Künste verstärkt zu spüren. […] Dabei „macht doch nicht allein die simple Verbindung verschiedener Kunstgattungen das Gesamtkunstwerk aus, sondern auch sein sozialer und philosophischer Anspruch, das Kunstwerk der Zukunft zu sein, den Menschen durch die Kunst zu befreien.“[24]
Im ausgehenden 20. Jahrhundert schließlich „treten […] Kunstformen auf, die an Körpern und Räumen Erfahrungen mit zeitlicher Ausdehnung sichtbar machen, bemüht um eine Sinnkonstruktion, in der die auch in unserem Alltagsleben oft nicht streng geschiedenen Anschauungsformen von Raum und Zeit einander wechselseitig bedingen.“[25]
Cage selbst hat sich vermutlich nie zum Konzept des Gesamtkunstwerks geäußert. Die Assoziation, beim John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt von Halberstadt würde es sich um ein solches handeln[26], entsteht nicht durch die ursprüngliche Komposition, sondern durch den Ort und das spezielles Konzept der Aufführung.
Das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt steht sowohl historisch in der Tradition des Gesamtkunstwerks als sozialer Idee der Entgrenzung von Kunst und Leben als auch in der vergleichsweise jungen Geschichte der Verräumlichung von Zeit und Verzeitlichung von Raum durch Musik. Die profane Umnutzung eines ehemals säkularen Raums und die visionäre Spiegelung der Komposition in eine über 600 Jahre dauernde Zukunft sprechen für Ersteres, die Prozesshaftigkeit der ästhetischen Situation, die Veralltäglichung und Entgrenzung des Klanges und die Verwandlung des Publikums in die wahren Komponisten stehen für die Aspekte von Verzeitlichung und Verräumlichung.
In der vorliegenden Arbeit werden zunächst diejenigen Zeitkonzepte John Cages diskutiert, die für das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt wesentlich sind. Darauf folgt eine auf das Halberstädter Projekt fokussierte Analyse der Zeitebenen. Die Arbeit wird beschlossen durch eine Erörterung der räumlichen Aspekte des Projektes.
1. John Cage: Zeitkonzepte seiner Musik
1.1. Philosophische Verortung: Amerikanischer Transzendentalismus und Zen-Buddhismus
Cage wuchs in einem religiösen Elternhaus auf und erhielt sich trotz späterer Abkehr von einer Priesterlaufbahn eine Religiosität, die ohne monotheistische Vorstellungen auskam, jedoch bestimmte moralische Werte implizierte, die sich auf seine ästhetischen Vorstellungen übertrugen. „Religiosität […] wird zur Keimzelle für seine Ästhetik des Nicht-Unterdrücken-wollens“.[27] Das gleichberechtigte Nebeneinander musikalischer Entitäten in seinen Kompositionen wiederum soll auf die Hörer zurück wirken: „Die praktische Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern, leitet sich von der Möglichkeit her, das Bewusstsein zu verändern.“[28] Seine Musik betrachtet Cage nicht nur als Angebot einer solchen Möglichkeit an seine Hörer, er sieht in ihr ein Modell für hierarchiefreie Beziehungen. Musik wird durch Hierarchiefreiheit zum Leben selbst: „Das Akzeptieren des Tons ist die Quelle allen Lebens.“[29]
Cage hat in zahlreichen Interviews und Schriften seinen starken Bezug zum amerikanischen Transzendentalismus unterstrichen.[30] Zu jener „Schule von Concord“ (Neu-England) im 19. Jahrhundert zählen u.a. Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Henry David Thoreau (1817-1862). Emerson legte mit seiner Essaysammlung „Nature“ 1836 die theoretische Basis und begründete die unitarische Bewegung des amerikanischen Transzendentalismus, der sich Thoreau später anschloss. Thoreau erlangte Popularität durch sein Leben und seine Schriften. Er übte Kritik an jeder Art von Regierung und stand dem Anarchismus nahe.[31] Sein Essay „Resistance to Civil Government“ (1894), der später unter dem Titel „Civil Disobedience“ bekannt wurde, wurde zu einer wichtigen Referenz für Cage. Thoreaus Gleichheitsideen, die ihn die Sklaverei ablehnen ließen, spiegeln sich in Cages Idee wieder, jede Hierarchie aus der Musik zu eliminieren. In Anlehnung an Thoreau äußert Cage: „Classification ceases when it’s no longer possible to establish oppositions.“[32]
Der amerikanische Transzendentalismus „rückt […] die Einheit aller Erfahrung in den Mittelpunkt seiner Philosophie. […] Kunst […] ist ein Abbild der Natur.“[33] In diesem Erfahrungsgeleitetsein drückt sich der starke Bezug zum amerikanischen Pragmatismus aus, wie er durch Charles S. Peirce und William James in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet wurde.[34]
Der starke Pragmatismus der transzendentalen Philosophie entspricht Cages Impuls, alle Klänge in seiner Musik willkommen zu heißen.[35] „I had been struck by the twentieth-century way Thoreau listened. He listened, it seemed to me, just as composers using technology nowadays listen. He paid attention to each sound, whether it was musical or not, just as they do; and he explored the neighborhood of Concord with the same appetite with which they explore the possibilities provided by electronics.”[36] Diese Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber dem Alltäglichen ist es, die Cage fasziniert. Die Bereitschaft, möglichst allen Wahrnehmungen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, impliziert, sie aus den Hierarchien, in die sie üblicherweise eingespannt sind, heraus zu lösen. Dies erfordert eine Denkungsart, die die Dinge selbst in den Vordergrund, die Ordnungen jedoch, denen sie entstammen, so weit in den Hintergrund setzt, bis diese sich auflösen. Auch das findet Cage bei Thoreau: “Mentioning opposites, he called them correlatives.”[37] Widersprüche schließen sich nicht aus, sondern bilden zwei Seiten eines Ganzen. Die hierarchiefreie Betrachtung von Dingen schließt das betrachtende Subjekt ein; Unvoreingenommenheit mündet in Absichtslosigkeit: „Other great men have vision. Thoreau had none. Each day his eyes and ears were open and empty to see and hear the world he lived in. Music, he said, is continuos, only listening is intermittend.”[38] Auch die Bereitschaft, Stille nicht als Abwesenheit, sondern Anwesenheit von etwas wahrzunehmen, findet sich bereits bei Thoreau: “More than anything else we need communion with everyone. […] Thoreau said: The best communion man have is in silence.”[39] Thoreau weiter: „ That Government is best which governs not at all. […] And when men are prepared for it, that will be the government which they will have.”[40] Das stimmt auch mit Cages politischen Überzeugungen überein, die dem Anarchismus nahe stehen: „Many musicians are ready. We have now many musical examples of the practicality of anarchy.”[41]
Daniel Charles macht Cage als einen typischen Vertreter des amerikanischen Pluralismus aus.[42] Die im 20. Jahrhundert prominent von Nelson Goodman (1906-1998) vertretene philosophische Denktradition des relativistischen Pluralismus hält die „Idee einer Welt jenseits menschlicher Perspektiven“ für sinnlos. Die „Welterzeugung“ geschieht in jedem Menschen immer wieder aufs Neue.[43] Die dieser Idee implizite Vorstellung der Autonomie jeder menschlichen Perspektive erkennt Charles in Cages Schaffen wieder. Auch in der Begegnung musikalischer Einheiten behält die einzelne Entität ihre Autonomie. Es kommt zu one/one, also 1:1 Begegnungen.[44]
Bezogen auf den Umgang mit Zeit bedeutet das Delinearisation. „Statt dass die Zeit als vierte Dimension sich als Fließendes oder Strömendes darstellte, statt dass sie verginge (a la Stockhausen), ist sie nicht. Sie existiert nicht, sie ist nichts. “ […] „Zeit (ist) jedem musikalischen Ereignis-Geschehnis impliziert “. Zeit lässt sich nicht besetzen.[45] Sie ereignet sich. Die sich begegnenden Einheiten ordnen sich keiner höheren Ordnung unter, sie behalten ihre Autonomie.
Cages Verwurzelung im amerikanischen Transzendentalismus und Pluralismus macht ihn offen für Einflüsse der fernöstlichen Philosophie, der er sich ab den 40er Jahren zuwendet. Die Berührungspunkte sind offenkundig.
Die Philosophie des ostasiatischen Zen-Buddhismus hegt ein „Misstrauen gegenüber dem begrifflichen Denken“.[46] Für den Zen-Buddhismus ist „die Welt […] ein einziger Resonanzraum, in dem alles, was entsteht, dadurch entsteht, dass es Resonanzphänomen von anderem ist. Es gibt keine Substanz, sondern alles ist Relation, Schwingung, Energie. Das Bewusstsein, das alle Inhalte transzendiert hat und zu einer reinen Schau erwacht ist, integriert alle Gegensätze in sich zu der Erfahrung der Einen Gegenwart oder der Gegenwart des Einen. Dies nun aber bezeichnenderweise so, dass die individuellen Formen keineswegs verschwinden, sie wie die einzelnen Töne und Obertöne in einem musikalischen Klangraum ein Ganzes formen, ohne dass ihre jeweils individuelle Einzigartigkeit verloren ginge.“[47]
Der Seele wohnt nach christlicher Vorstellung ein „Streben“ (appetitus) und eine perspektivische Vorstellung inne. „Ohne appetitus wäre kein perspektivisches Sehen, kein perspektivischer Zugriff auf die Welt möglich.“ Das zen-buddhistische, „fastende Herz ohne appetitus“ spiegelt die Welt aperspektivisch.[48]
Cage hatte in den 40er Jahren die indische Musikerin Gita Sarabhai kennengelernt, die ihm erklärte, in Indien werde Musik gemacht, „um den Geist zur Ruhe zu bringen und ihn auf diese Weise den göttlichen Einflüssen zu öffnen“. Cage fragt sich „Was ist ein ruhiger Geist? […] Was sind göttliche Einflüsse?“ Und er stellt fest: „Wir haben vom östlichen Denken gelernt, dass jene göttlichen Einflüsse tatsächlich nichts anderes sind als die Umwelt, in der wir uns befinden. Ein nüchterner und ruhiger Geist ist ein solcher, bei dem das Ich das Fließen jener Dinge nicht behindert, die durch unsere Sinne in uns herein – und durch unsere Träume in uns heraufkommen.“[49] „Im Buddhismus gilt: Die Wirklichkeit ist ein Netz von Erscheinungen. Nichts ist substantiell, und das betrifft selbstredend auch die Zeit. Die Unterscheidungen und Phänomene in Raum und Zeit sind real, man darf sich aber nicht daran hängen, weil die absolute Wirklichkeit anders ist, nämlich leer (sunya) in Bezug auf die Identität einzelner Substanzen. Anders ausgedrückt: Das Einzelne ist, was es ist, durch das Andere, und insofern ist es leer […] Leerheit ist Freiwerden vom Festhalten, vom Verdinglichten, von den Rastern der Gewohnheit. Leerheit ist die Freiheit für das Geschehenlassen des Augenblicks. Das ist es, in anderer Sprache gesagt, was der Buddhismus mit Leerheit meint: die Erfahrung der wechselseitigen Entstehung aller Erscheinungen in Relationen. Im Buddhismus bedeutet Leerheit (sunyata) also nicht die Negation des Zeitlichen zugunsten der Zeitlosigkeit, sondern die Transzendierung der Dualität von Zeit und Zeitlosigkeit!“[50]
Cage: „Es war nach 1945, ich nehme an zwischen 1946 und 1947, dass mich der Orient ernsthaft zu interessieren begann. Nachdem ich das orientalische Denken im Allgemeinen studiert hatte, nahm ich drei Jahre an den Kursen von Suzuki teil, bis 1951. Er lehrte an der Columbia-Universität.“[51] „The first was that I had heard a lecture of Daisetz Suzuki […] on the structure of the Mind. […] He then said that the ego had the capacity to cut itself off from its experiences […] it could free itself from its likes and dislikes, taste and memory, and flow with Mind […] I then decided not to give up the writing of music and discipline my ego by sitting cross-legged but to find a means of writing music strict with respect to my ego as sitting cross-legged.“[52]
Cages Hinwendung zu zen-buddhistischen Studien zeigt, dass er nicht auf der Suche nach einer neuen Religion, sondern einer Philosophie war, die seinen ästhetischen Auffassungen eine Basis geben konnte. Zentral dafür ist der Perspektivwechsel weg vom Anthropozentrismus. „Denn wenn Kunst und Musik anthropozentrisch […] sind, erscheinen sie mir trivial und bar jeder Dringlichkeit. […] Bäume, Steine, Wasser, alles ist ausdrucksvoll. Ich sehe diese Situation, in der ich vergänglich lebe, als ein komplexes Einander-Durchdringen von Zentren, die sich ohne Unterlass in alle Richtungen fortbewegen. […] Ich bemühe mich, in einem Zeit-Raum Klänge sie selbst sein zu lassen.“[53]
Cage hat philosophische Studien nie um ihrer selbst willen betrieben. Alle Ideen prüfte er dahingehend, ob sie sich in eine ästhetische Erfahrung integrieren ließen, die die Grenze zwischen Kunst und Leben aufhebt. Deshalb laufen Fragen an ihn bezüglich der Zen-Haftigkeit seiner Kompositionen oder seiner Person auch ins Leere.[54] Cage betont: „What I do, I do not wished blamed on Zen, though without my engagement with Zen […] I doubt whether I would have done what I have.“[55] In seinem Vortrag “Komposition als Prozess”[56], den er 1958 in Darmstadt hielt, beschreibt Cage detailliert, wie sich seine Kompositionspraxis durch die Jahrzehnte veränderte und worin sich seines Erachtens die amerikanische Entwicklung der zeitgenössischen Nachkriegsmusik von der europäischen unterscheidet.[57]
Festzuhalten bleibt, dass es viele Gemeinsamkeiten fernöstlicher Philosophie mit dem amerikanischen Transzendentalismus gibt. Dies betrifft u.a. das Verständnis von Wahrnehmung und Erfahrung als offenem Prozess, die Betrachtung von Widersprüchen als zwei Seiten ein und desselben Gegenstandes und die Abwendung vom Anthropozentrismus. Beide Denkrichtungen machen im kategorisierenden Subjekt Mensch die Barriere wahrhafter Erkenntnis aus. Angestrebt wird die Einheit von Kunst und Leben. Kunst verstehen beide Denkrichtungen als Abbild der Natur. Gelingt es dem Menschen, sich seiner Zentralperspektive zu entledigen, gelingt auch die angestrebte Aperspektivität.
Da beide Denktraditionen zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen, musste Cage seine geistige Heimat nicht verlassen, als sich sein Interesse auf den Zen-Buddhismus ausdehnte. Dabei bleibt der amerikanische Pragmatismus immer gegenwärtig. Im Umgang mit dem Thema Zeit wird offenkundig, dass buddhistische Vorstellungen zur Inspiration für seine Kompositionen werden.
Das westliche Denken rückt das Individuum und seine Zeit in den Mittelpunkt. Zeit muss daher etwas Zerstörendes sein, da in ihr das Individuum vergeht. Östliches Denken betrachtet das Individuum als Zelle eines Organismus: das Werden und Vergehen ist die Voraussetzung für die Stabilität des Ganzen.[58] Sein und Nicht-Sein liegen nach östlicher Denkungsart nicht im Objekt, nicht im Material, im Sichtbaren begründet, sondern in der Wahrnehmung, im Sehen.[59] Diese unterschiedliche Betrachtungsweise von Zeit wird auch beim Verständnis des Augenblicks deutlich, der für Cages Kompositionen so wichtig ist.
Die westliche Wissenschaft begreift den Augenblick als „Zustandsstufe eines sich verändernden […] Objekts“, das heißt dem Objekt zugehörig. Das Subjekt wählt den Augenblick aus und beschreibt die Veränderung des Objekts.[60] Der Zen-Buddhismus versteht den Augenblick als Augenblick der Erkenntnis im Sinne der Veränderung des Subjekts, allerdings nicht durch Analyse und begriffliche Erfassung, sondern durch außersprachliche, transzendentale Vermittlung.[61] Erkenntnis kann hier als „Übergang von einer unterscheidenden Form des Denkens in eine nichtunterscheidende“ verstanden werden. Ob der Zen-Buddhismus als Philosophie verstanden werden kann, wird daher kontrovers diskutiert, denn schließlich geht es in ihm um die Loslösung von analytischen Festlegungen hin zu „absoluter, positiver Nicht-Unterscheidung.“[62] „Die alltägliche Zeit des Zen-Buddhismus, die Zeit ohne Sorge kennt nicht jenen »Augenblick«, der als »Spitze« der Zeit, als »Blick der Entschlossenheit«, den »Bann« der alltäglichen Zeit bricht. […] Die alltägliche Zeit des Zen-Buddhismus ist eine Zeit ohne »Augenblick«. Oder sie besteht aus Augenblicken des Alltäglichen. Die Zeit glückt ohne die Emphase des »Augenblicks«. Sie glückt, wo man je weilt im Blick des Gewöhnlichen.“[63]
Das folgende Kapitel soll klären, was Cage unter Vergegenwärtigung und Augenblick verstand und wie sich dieses Verständnis im Umgang mit dem Klang als musikalischer Entität niederschlug.
1.2. Augenblick und Klang
Daniel Charles: „Sie wollen also den westlichen Menschen zu einer Zeitdimension des Augenblicks bekehren? Riskieren Sie nicht, alles zu vergessen, was der Westen – in seiner Musik und in seinem Zeitverständnis – hinsichtlich der Dauer und der Zukunft repräsentiert?“
John Cage: „Der Augenblick ist doch immer auch eine Wiedergeburt – nicht wahr?“
D.C.: „Aber könnte man Sie denn nicht […] beschuldigen, einen Wert, der für die klassische Musik des Abendlands unentbehrlich ist, nämlich die Dauer, zu opfern?“
J.C.: „Wollen Sie damit andeuten, es gäbe einen Grund etwas zu bewahren?“
DC: „Sie setzen vollkommen auf den Augenblick; aber Zeit ist eine Summe von Augenblicken, nicht wahr?“
JC: „Die Zeit, an die Sie denken, ist immer noch ein Konstrukt, eine intellektuelle Organisation. Wir müssen damit aufhören.“[64]
In diesem Ausschnitt eines Gesprächs, das der französische Musiker und Musikwissenschaftler Daniel Charles 1970 mit Cage führte, wird deutlich, wie Cage sich grundsätzlich dem Thema Zeit in der Musik nähert: Er lehnt jedes begriffliche Denken und Kategorisieren ab, ebenso die Bedeutung des Gedächtnisses und plädiert statt dessen für die Zusammenschau aller Zeitebenen im Augenblick, in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ungewiss, verfügbar ist nur die Gegenwart, die in jedem Augenblick neu entsteht. Diese Gegenwart wird von Cage in Anlehnung an Christian Wolff auch Null-Zeit genannt. John Cage: „Es gibt eine Null-Zeit; wenn wir den Zeitablauf nicht wahrnehmen, wenn wir sie nicht messen.“ Daniel Charles: „Demnach sollten wir uns sozusagen immer in der Null-Zeit befinden?“ John Cage: „Manchmal ist das Fall, manchmal nicht …“[65]
Der Vergegenwärtigung dieser Null-Zeit dient der Klang. Als Material hierfür bieten sich besonders Geräusche an, da sie im musikalischen Gedächtnis des Hörers noch nicht mit Erinnerungen besetzt und daher unverbraucht sind. „Ich verwendete Geräusche. Sie waren nicht intellektualisiert, das Ohr konnte sie unmittelbar hören und musste ihretwegen keinerlei Abstraktionen durchlaufen.“[66] Ton und Geräusch behandelt Cage gleichermaßen als musikalische Ereignisse. Um mittels ihrer den Augenblick, die Null-Zeit, zu vergegenwärtigen, muss er jegliche Beziehungen zwischen ihnen auflösen. Martin Erdmann nennt diese Negation jedes kompositorischen Zusammenhangs bei Cage Losigkeit [67]. Das Resultat ist die Eigenexistenz jedes Klangs.
Cage wurde darin von seinem Lehrer Henry Cowell ermutigt und von Charles Ives inspiriert.[68] „Da Cage jedes musikalische Ereignis als eine Wesenheit in sich begreift, die keiner Ergänzung bedarf, stellt er sie stattdessen einfach nebeneinander auf und sieht sie kraft ihrer Koexistenz im Raum aufeinander bezogen, wo sie innerhalb einer festgelegten zeitlichen Reihenfolge auftreten.“[69] In Cages „Music of Changes“ (1951) z. B. verbinden sich die musikalischen Identitäten nicht zu Gestalten; deshalb bleiben sie auch von der Zeit unabhängig.[70] Es geschieht die Auflösung aller Zeiten im Jetzt durch die Unabhängigkeit aller Einzelereignisse.[71]
Dieser Destruktion von Zusammenhang entspricht auf der Hörerseite die Konzentration auf das Einzelereignis. “Man kann sich innerhalb eines einzigen Tons einrichten. In dem Moment verwandelt sich das Hören in ein spezifisches Objekt wie unter einem Mikroskop, wo das Objekt zu einer ganzen Welt, einem Universum wird, einfach, weil es in solchem Ausmaß vergrößert worden ist. Es hört auf, ein Objekt zu sein.“[72]
Diese unmittelbare Klangerfahrung erfordert allerdings vom Hörer eine neue und durchaus auch paradoxe Haltung. Cage versucht „Klänge als solche, nämlich losgelöst von den Kategorien menschlichen Denkens, erfahrbar zu machen. Voraussetzung dieser Programmatik ist die Überzeugung, dass die sinnlich erfahrbare Welt vom menschlichen Denken unabhängig ist.“[73] Auch hier lässt sich Cage nicht auf theoretische Diskurse ein, sondern betont die Möglichkeit unmittelbarer Erfahrung: „Syntax, according to Norman O. Brown, is the arrangement of the army. As we move away from it, we demilitarize language. The demilitarization of language is conducted in many ways: a single language is pulverized; the boundaries between languages are crossed; elements not strictly linguistic […] are introduced; […] Translation becomes, if not impossible, unnecessary. Nonsense and silence are produced, familiar to lovers. We begin to actually live together, and the thought of separating does not enter our mind.”[74] So, wie Cage die Syntax in Empty Words [75] auflöst, sollen sich in seiner Musik die Grenzen zwischen den musikalischen und nicht-musikalischen Elementen auflösen, wie auch die Grenze zwischen Subjekt und Objekt. Ziel ist eine Gegenwarts- und Ganzheitserfahrung. Ob dies der Mensch leisten kann, bleibt offen.
1.3. Unbestimmtheit
„Permission granted. But not to do whatever you want.“[76]
Cages zentrales ästhetisches Konzept ist die Unbestimmtheit. Erreicht werden soll sie mittels absichtsvoller Absichtslosigkeit.
Michael Kirby/Richard Schechner: „But donʾt you in some way structure your work?”
John Cage: “Youʾre aiming now at a purity we are never going to achieve. When we say »purposelessness« we add »purposeful purposelessness«. Youʾll find this more and more recognized not as double talk, but as truth. Thatʾs why I donʾt like definition; when we succeed in defining and cutting things off from something, you thereby take the life out of them.”[77]
Cage strebt eine subjektfreie Musik an, die nicht Ausdruck der Gefühle und Absichten des Komponisten ist, sondern den Selbstausdruck der musikalischen Entitäten realisiert.[78] Die Akzeptanz dessen, was vorhanden ist, erhebt er zur Verantwortung des Komponisten: “Wenn ein Komponist die Verantwortung fühlt, eher etwas zu tun als zu akzeptieren, eliminiert er aus dem Bereich des Möglichen all jene Ereignisse, die nicht die an diesem Punkt in der Zeit herrschende Mode von Tiefe suggerieren. Denn er nimmt sich ernst […], vermindert dadurch seine Liebe und vergrößert seine Angst.“[79]
Diese Haltung impliziert einen ganz bestimmten Umgang mit dem musikalischen Material. Sein Komponieren definiert Cage als „zielloses Schreiben“.[80]
Das Ergebnis charakterisiert Sanio als „Auflösung des Werkcharakters der Musik zugunsten eines ganz allgemein durch Unbestimmtheit „organisierten musikalischen Prozesses“. In der Konsequenz entsteht eine ästhetische Situation, in der das Subjekt „kein ästhetisches Objekt mehr strukturiert, sondern sich als ästhetisches intentionslos und frei entfaltet.“[81]
Für die Seite des ästhetischen Subjekts könnte man hier eine Traditionslinie hin zu Kants interesselosem Wohlgefallen ziehen[82], aber auch zum Daoismus und Zen-Buddhismus.
Bei der Herstellung einer solchen Situation kommt es jedoch wieder zu einigen Paradoxa, die Cage selbst so ausdrückt: „Es war genau meine Absicht zu verhindern, dass meine Musik irgendwohin führt! Ich versuche, die Töne dahin gehen zu lassen, wohin sie wollten, und sie das sein zu lassen, was sie sind.“[83]
Kann es eine absichtsvolle Absichtslosigkeit geben? „Kein Ziel zu haben als das höchste Ziel zu bezeichnen, das man haben könne, heißt auch, dass das Bedürfnis, ein solches Ziel zu formulieren, vielleicht nicht überwunden werden kann, ja, es könnte sogar heißen, dass man dem Verlangen nach einem höchsten Ziel nicht entgehen, sondern nur versuchen kann, es zu unterlaufen, indem man sich eben die Freiheit von jedem Ziel zum Ziel setzt. Doch wir können nicht darauf verzichten, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, und für Cage selbst ist das als eine Form der Strukturierung des eigenen Verhaltens besonders wichtig. Denn eine solche Strukturierung ist unabdingbar, um die normale Haltung aufzugeben, bei der die eigenen Vorstellungen […] im Zentrum stehen.“[84] Kann es Kompositionen ohne Objektcharakter geben? „Auch die Absicht, als Komponist etwas ohne Objektcharakter herzustellen, ist eine ähnlich paradoxe Unternehmung wie die intentional realisierte Haltung der Absichtslosigkeit. Zu ihrer Realisierung sind rational entwickelte […] Techniken nötig.“[85] Kann es vor- oder nichtsprachliche Erfahrung in Form einer Musik ohne Syntax geben? Der britische Komponist Cornelius Cardew (1936-1981) kritisierte diese Herangehensweise und die dazugehörige Technik grundsätzlich: „Indem Cage seine Musik als »Klänge« (eher denn als Musik) kennzeichnet, unternimmt er den Versuch, sie der menschlichen Sphäre zu entrücken (eine kategoriale Unmöglichkeit, denn die Aktivitäten von Menschen können niemals unmenschlich sein), wovon er sich einen doppelten Nutzen verspricht: a) es soll ihn von seiner menschlichen Verantwortung für sein Tun als Mensch dispensieren; b) es soll seiner Musik die übermenschliche, »objektive« Autorität der blinden, bewusstlosen Natur verleihen.“[86]
Festzuhalten bleibt, dass Cages Konzept der Unbestimmtheit zu einer neuen ästhetischen Situation des Hörens im 20. Jahrhundert geführt hat.
1.4. Zufall
Daniel Charles: „Gibt es in Ihrer Musik ein Verhältnis zwischen der Idee des Zufalls und Ihrem Zeitbegriff?”
John Cage: „Solange es Struktur gibt, so lange es Methode gibt oder vielmehr so lange Struktur und Methode durch einen Bezug auf das Geistige, die Vernunft existieren, wird Zeit beherrscht – oder vielmehr, die Leute bilden sich ein, Zeit zu beherrschen.“
D.C.: „Und wir müssen uns dem Maß der Zeit unterwerfen.“
J.C.: „Wenn man sich vom Maß der Zeit befreit, kann man nicht länger die Struktur ernst nehmen.“[87]
Cage begann sich Ende der 30er Jahre mit dem I Ging, dem aus einem altchinesischen Orakelbuch entwickelten Buch der Wandlungen [88], zu beschäftigen. Von Beginn an faszinierten ihn die 64 Hexagramme des I Ging als Möglichkeit des Spiels und dessen Zahlenmystik. Cage geht es darum, Struktur aufzulösen, um den Hörer für den Augenblick empfänglich zu machen. Die Hinwendung zu Zufallsoperationen lässt Struktur ebenso wie Techniken überflüssig werden. Die für das Hören „angemessene Haltung“ beschreibt Cage als „erhöhte Aufmerksamkeit, das Bewusstsein ist ganz mit dem sinnlichen Geschehen erfüllt“.[89]
Der Einsatz von Zufallsoperationen entspricht natürlich seinem Zweck nach der Unbestimmtheit: Es geht um die „Befreiung des musikalischen Zusammenhangs vom individuellen Geschmack und Gedächtnis“.[90]
Kritisch hinterfragt wird die Methode des Zufalls gleich von mehreren Seiten. Henry Cowell, Cages frühester Lehrer und lebenslanger Unterstützer, drückt seine Skepsis bezogen auf das Komponieren mit Zufallsoperationen aus: „Trotz all seiner großen Anstrengungen ist es Cage nicht gelungen, seinen höchst individuellen und verfeinerten Geschmack aus der vom I Ging abgeleiteten Musik zu eliminieren. Leider […] vermag auch eine Anordnung von Würfen nicht mehr zu erbringen als eine Vielfalt von Elementaranordnungen, die nach subjektiven Kriterien ausgewählt wurden, um mit ihnen zu arbeiten.“[91]
Auch im Umgang mit Zeit mittels Einführung von Zufallsverfahren werden die für Cages Arbeit typischen Paradoxa wieder offenbar. Das I Ging funktioniert durch Zufall, aber seine Ergebnisse werden streng befolgt. In einem Moment kann alles passieren und das eine, das passiert, gilt. Genau hierin drückt sich das gesamte philosophische Zeitkonzept Cages aus. „Implicit in this system is a strong affirmation of timeʾs one-way directionality. Not everything goes because the arrow of time points out only forward. Hence Cages work can be understood as a performance of time, as well as a performance in time.”[92] Für die Öffnung des Zeitempfindens hin zur Aperspektivität bedeutet dies, dass durch die Hintertür die Gerichtetheit wiederkehrt.
Cage enthält sich, wie so oft, einer theoretischen Klärung dieses Paradox: „[…] ich benutze nicht ausschließlich nur Zufallsoperationen! Den Ort des Zufalls zu erkennen heißt nicht, ihm alles zu opfern.“[93]
Für den Einsatz von Zufallsoperationen als Verfahren bleibt festzuhalten, dass auf der Herstellungsseite Paradoxa regieren, auf der Rezeptionsseite Überraschendes entsteht, jedoch die Gerichtetheit von Zeit nicht aufgehoben wird. Absichtsvoll wird versucht Absichtsloses zu produzieren. Zufallsoperationen kommen dafür zum Einsatz, doch der sie ausübende Mensch wird immer noch gebraucht. Im Ergebnis entstehen überraschende, die Wahrnehmung des Hörers herausfordernde Situationen. Doch selbst in diesem aperspektivischen Feld kann der Zeitpfeil nicht von seiner Gerichtetheit befreit werden. Eine performance in time erfordert eine Richtung.
1.5. Stille, Dauer und Gleichzeitigkeit
„Was wir brauchen ist Stille; aber was die Stille will, ist, dass ich weiterrede.“[94]
Cages möglicherweise revolutionärste Idee war, Stille in seine Kompositionen zu integrieren. Stille ermöglicht die Wahrnehmung all dessen, was in und um einen herum passiert, und sie verlangt einen anderen Umgang mit Zeit. Cage hält Stille in buddhistischer Manier für das nicht-existente Gegenteil von Klang, und zwar für eines, das, anders als der Klang, nur eine einzige Struktur hat: die Dauer-Struktur.[95] Dauer kann beides beinhalten: Klang und Stille. Das ist der erste Schritt der Ablösung von Objektvorstellungen hin zum Prozess. Zeitdauern ersetzen den Takt; Zeiträume, dargestellt in Zentimeterlänge, verräumlichen die Komposition auf dem Notenpapier.[96] Stille sorgt für das „Eindringen des Lebens in die Musik“[97] und beendet das Musik-Machen durch den Komponisten. Stille bedeutet „die Gesamtheit unbeabsichtigter Klänge. Klang und Stille auszutauschen bedeutete, vom Zufall abzuhängen.“[98]
Durch die Einladung der Stille in seine Kompositionen versucht Cage, eine moderne Form von Kontinuität zu stiften. In seinen Lectures[99] ordnet er die Kontinuität (continuity) dem Nichts (nothing) und die Diskontinuität (no-continuity) dem Etwas (something) zu. Durch Hereinholen der Stille in die Musik wird die diskontinuierliche Zeit, der Klang, mit der kontinuierlichen Zeit, der Stille, verbunden.[100] „In diesem Zeitbewusstsein, für das seine Musik beispielhaft einstehen soll, sieht er eine Möglichkeit zur Versöhnung der modernen Gesellschaft mit ihren Traditionen, mit ihrer eigenen Zeit und der Individuen mit sich selbst.“[101] Stille impliziert unbeabsichtigte Klänge. „Mit ihnen wird die Trennung von Kunst und Leben, Subjekt und Objekt, hinfällig.“[102]
Sie impliziert ebenfalls verschiedene Arten von Gleichzeitigkeit. Stille eröffnet die Möglichkeit der Wahrnehmung unterschiedlicher Dauern, gebunden an zeitgleich stattfindende unterschiedliche Hörereignisse. Sie ermöglicht eine andere Körperwahrnehmung, die Wahrnehmung von Geräuschen im eigenen Körper und die Verschmelzung des Eigenklangs mit den Umgebungsgeräuschen. Und sie lässt den Unterschied zwischen kontinuierlicher Zeit (Stille) und diskontinuierlicher Zeit (Klang) bewusst erleben. Das „Unterwegssein eines Klanges“ befähigt den Hörenden, ihn in allen Zeiten zu verorten. Dem liegt das Erleben eines affirmativen, nicht-kritischen Augenblicks zugrunde. „Es ist ihm eine Stabilität ohne Datum und Ort eigen: die der Entfaltung aller Dimensionen der Zeit zugleich – ohne dass eine von ihnen primär wäre.“[103]
1.6. Prozesshaftigkeit: Evolution und Dekomposition
Cages Komponieren entwickelte sich in den 60er Jahren weg von Formen der Dauer hin zum In-Gang-Setzen von Prozessen, "setting a process going which has no necessary beginning, no middle, no end, and no sections.”[104]
Cage betont den Einfluss McLuhans auf sein Denken, das seiner Intention, die Grenze zwischen Musik/Kunst und Leben aufzulösen, entgegenkommt: „Neue Kunst und Musik vermitteln nicht länger in geordnete Strukturen gefasste Ideen eines einzelnen, sondern stellen Prozesse dar, die genau wie unser tägliches Leben, Gelegenheiten zur Wahrnehmung (Sehen und Hören) bieten. McLuhan betont diesen Übergang von einem Leben, das uns bereitet wird, zu einem Leben, das wir uns bereiten.“[105] Die Auflösung der Passivität des Hörens geschieht zweifach: zum einen durch Auflösung jeglicher Struktur; so verdichtet sich die Wahrnehmung im und auf das Jetzt, the nowmoment [106]. Zum anderen tritt durch Prozessualisierung an die Stelle des Werks das Feld: „Möglichkeiten, Klänge zu konstruieren“[107]. Der Hörer wird zum Interpreten bzw. Komponisten.
Auf musikalischer Ebene zeigt sich hier, wie sich Cage durch Marcel Duchamps Postulat, das Werk entstünde erst im Auge des Betrachters, inspirieren ließ. Duchamp meinte, „dass ein Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten oder es lesen und die es, durch ihren Beifall oder sogar durch ihre Verwerfung, überdauern lassen.“[108] Diesen Rollentausch intendiert Cage:
Daniel Charles: „Es stimmt also, dass viele unter Ihrem Namen laufende Werke als Grundlage von Aufführungen dienen, die sich in jeder Beziehung entsprechend dem Interpreten unterscheiden. Demnach wird nach Ihrer Meinung der Interpret zum Komponisten.“
John Cage: „Ja, und das Publikum kann Interpret werden.“
D.C.: „Was wird der Komponist?“
J.C.: „Er wird Mitglied des Publikums. Er beginnt, zuzuhören.“
D.C.: „Das bedeutet, die Musik ist ein vollkommen globales […] Phänomen.“
J.C.: „Ja, es beinhaltet, dass wir uns alle in den Klängen befinden, von ihnen umgeben sind.“[109]
Die Prozessualisierung der Komposition und ihre Aufführung beinhalten gleichermaßen die Aspekte der Evolution und der Dekomposition. Die ästhetische Hörsituation entsteht evolutiv. Die Hörer sind daran ebenso beteiligt wie die Ursprungskomposition und die Umgebung der Aufführung. „Im Barock oder früheren Zeiten nennt man evolutio alles, was sich umkehrt. Jede Form der Umkehrung, z. B. der doppelte Kontrapunkt, ist eine evolutio […] Und genau so funktioniert wahrscheinlich Leben überhaupt […] Wie kommen wir an die Lebendigkeit der Dinge ? […] Dem war ja das ganze 20. Jahrhundert auf der Spur. Weg von dem hermetischen Koloss eines Kunstwerks, vor dem wir mit angehaltenem Atem stehen und vor dessen Genie wir sozusagen zu Füßen fallen. Weg von diesem Hermetischen, Abgeschlossenen, hin zu dem, was irgendwie Offenheit ist.“[110] Resultat auf der Hörerseite ist eine Haltung der Dekomposition, eine Haltung, alles Wahrnehmbare in die konkrete ästhetische Erfahrung mit hineinzunehmen und auf den bloßen Nachvollzug einer vorgegebenen Struktur zu verzichten. Es gibt kein Gegenüber von Hörer und Werk mehr und es wiederholt sich nichts. Die Konsequenz dieser Erfahrung ist, „dass man sich in dem Klang und in dem Stück fühlt und nicht mehr diese Vorstellung hat, wenn ichʾs verstanden habe, verfüg ich drüber und kannʾs mit nach Hause nehmen“, aber auch: „Ich kann das Stück nicht hören, es gibt dieses Stück nicht!“[111] Die Komposition und ihre Interpretation werden ein offener Prozess.
1.7. Wiederholung als Variation
Als erster Schritt, Kontinuität durch Variation zu erreichen, kann Cages Komponieren in mikro-makroskopischen Strukturen gelten. Cage entwickelte diese Kompositionsweise Ende der 30er Jahre. Dabei stehen alle Teile einer Komposition im selben Verhältnis zueinander. „Die Methode organisiert deren kontinuierliches Fortschreiten. Die Form aber ist die Einheit des Ganzen in der Verbindung seiner Teile. Aus den einzelnen mikroskopischen Einheiten entsteht also die makroskopische Form des Ganzen.“[112]
Dass Cage zu jenem Zeitpunkt eine sich wiederholende Struktur überhaupt für notwendig hält, zeigt den Einfluss Schönbergs auf ihn. Dieser hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, „dass in dem zeitlichen Zusammenhang, der in einer Komposition hergestellt wird, die Wiederholung – ein ja ebenfalls zeitgebundenes Verfahren – eine Notwendigkeit darstellt, ohne die eine innere Ordnung und Struktur, ja überhaupt eine Gestalt des Ganzen nicht wahrgenommen werden kann.“[113] Für Schönberg haben Klänge kein Eigenleben, für Cage jedoch fundamental. Schönberg geht davon aus, Musik müsse nach den Regeln der menschlichen Logik komponiert werden, um erfahrbar zu sein. Cage möchte das Hören vom Denken lösen. Wiederholungen machen für Cage dann keinen Sinn, wenn sie dem Wieder erkennen von etwas dienen sollen, denn dies steht dem Erkennen von etwas Neuem im Wege. Ob ein Erkennen ohne Wiedererkennen möglich ist, kann kritisch hinterfragt werden.[114] Wesentlich ist die Feststellung, dass Wiederholung bei Cage nicht mit Entwicklung des musikalischen Materials gleichgesetzt werden darf. „Wiederkehrende Ereignisse sind keine Entwicklungen, sondern reine Identitäten.“[115]
Die Veränderungen, die ORGAN²/ASLSP von der Klavier- zur Orgelkomposition selbst erfahren hat, zeigen, dass Cage den Einsatz von Wiederholungen als Spielvorschrift immer wieder überdacht und verändert hat.[116]
1.8. Verräumlichte Zeit
Daniel Charles: „All das stimmt damit überein, dass Sie auf der Notwendigkeit einer Befreiung der Zeit insistieren, wie Sie es am Schluss Ihres Vortrags über Unbestimmtheit betonen. Wenn Sie die Überlagerung oder die simultane Aufführung verschiedener Werke fordern, wird das Raumgefühl intensiviert.“[117]
Cages Kompositionen sind im herkömmlichen Sinne keine Werke mehr, sondern ästhetische Situationen. Werke werden üblicherweise durch Abgeschlossenheit räumlicher, qualitativer und/oder zeitlicher Natur charakterisiert.[118] Cage schafft tendenziell die räumliche Abgeschlossenheit durch Separierung von Künstler und Publikum ab. „Er […] schafft eine Situation, in der sich jeder einzelne Hörer im Zentrum befindet und die Klänge, die er hört, aus allen Richtungen kommen.“[119] Die qualitative Abgeschlossenheit wird durch das Konzept, das Leben zur Kunst zu ernennen, aufgelöst. Das zeitliche Kontinuum einer Situation hat im Moment des Hörens weder Anfang noch Ende und schließt die Situation zeitlich auf.[120]
Der Auflösung zeitlicher Objekte entspricht die totale Festlegung der räumlichen Organisation.
Tendenziell gilt für Cages Kompositionen das Prinzip der Extensionalität. Identifizierbare Körper und Zeiten werden durch das Feld abgelöst. Statt musikalische Objekte zu entwickeln, entzeitlicht Cage sie und dehnt sie in den Raum aus. Es entsteht eine verräumlichte Zeit.[121] Das entsubstanzialisiert die Zeit. Kontinuität und Unendlichkeit werden durch Metrisierung des Raums gestiftet.[122] Der Takt ist eine unabhängige Einheit, hat nichts mit den musikalischen Einheiten zu tun, „sondern mit dem Durchmessen von Raumstrecken“. Eine Viertelnote entspricht 2,5 cm. Die „Gleichwertigkeit jedes Moments“ drückt sich „in der unverrückbar gleichförmigen räumlichen Aufteilung“[123] aus. Der Raum eliminiert die Zeit.[124]
2. ORGAN²/ASLSP: Eine Komposition ̶ viele Komponisten
„ASLSP mit der in Halberstadt zu bauenden Orgel ist ein unverfügbares Unternehmen . “[125]
Cages Schaffen weist Kompositionen auf, die sich vom Werkcharakter unterschiedlich weit entfernen.[126] ORGAN²/ASLSP ist zunächst eine für Orgel herkömmlich eingerichtete Komposition mit zwei Violin- und zwei Bassschlüsseln. Die Aufführungsvorschrift „as slow as possible“ jedoch öffnet das Stück für verschiedenste Interpretationen.
Eine anhaltende Diskussion über das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in der Presse und in musikwissenschaftlichen Fachkreisen dreht sich um die Frage: Hat das Projekt etwas mit John Cage zu tun? In dieser Frage vereinen sich alle kontroversen Überlegungen zur Interpretation von Cages Kompositionen. Schon beim Verständnis der beiden Kompositionen ASLSP (1985) und ORGAN²/ASLSP (1987) gehen die Meinungen selbst von Organisten darüber auseinander, ob letztere eine Variante der ersteren oder eine völlig eigenständige Komposition sei. Während Christoph Bossert, Professor für Orgel und Kirchenmusik an der Hochschule für Musik Würzburg und Initiator des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes von zwei Versionen, einer für Klavier und einer anderen für Orgel spricht[127], meint Gerd Zacher, der Widmungsträger der Komposition ORGAN²/ASLSP: „In den Berichten über das Projekt von Halberstadt steht fälschlicherweise »bearbeitet« oder »überarbeitet« nach der Vorlage des Klavierstücks. Aber in Wirklichkeit ist es eine ganz neue, eigenständige Komposition.“[128]
Die Kritik Zachers mag dem Umstand geschuldet sein, dass ihm das Stück gewidmet wurde. Es liegt nahe zu vermuten, dass ihm daher die vollständige Umgestaltung der Komposition durch die Halberstädter Interpretation und die vollkommene Aufhebung des konventionellen Verhältnisses zwischen Komponist und Interpret am fernsten liegen. Dies jedoch ist gerade für Cages Kompositionsansatz typisch. Die Aufführung einer Komposition von Cage bringt immer wieder neue und eigenständige Variationen hervor, bei denen die Interpreten selbst zu Komponisten werden. Zacher verwehrt sich in gewisser Weise dagegen, wenn er ausführt: „Cage […] erklärt, sein Stück solle klingen »as Lsp«, also wie diese eine Silbe, mehr nicht. Durch den voll verstandenen Hinweis ist schon im Titel die korrekte Wiedergabe des Stücks [sic] gesichert. Sie aber bleibt der Ausgangspunkt für alle erdenklichen Interpretationen.“[129]
Hier treten Aspekte eines Denkens zu Tage, das dem Schaffen Cages im Grunde fremd ist: Das Erschaffen eines Stücks, das nur eine bestimmte Interpretation zulässt und das richtige Verstehen und korrekte Ausführen einer vorgeschriebenen Handlungsanweisung durch einen Interpreten. Cage ging es mit seiner Musik hingegen darum, neue Möglichkeitsräume zu eröffnen.[130]
Für das Verständnis des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes sind vielmehr die Ausführungen des Organisten Christoph Bossert aufschlussreich, der ORGAN²/ASLSP sowohl für eine CD-Produktion in einer 71minütigen Fassung eingespielt hat[131] als auch für das Halberstädter Projekt musikalisch verantwortlich zeichnet: „Wir werden stark kritisiert vom Widmungs-träger dieses Stückes, Gert Zacher, der sagt, wir hätten einen gravierenden Aspekt des Stückes schlicht unterschlagen, nämlich diesen Bezug zu James Joyce, und dass dieses Umkippen von „so langsam wie möglich“ in eigentlich wieder „so schnell wie denkbar“ Teil des Stückes sei. Er meint, wenn wir das so über die Maßen dehnen und evolutionieren, ginge das am Geiste Cages vollkommen vorbei. Ich würde sagen, warum auch nicht diesen Einwand stehen lassen? Letztlich zeitigen sich, durch das, was wir tun, einfach neue Gedanken, und es kommt so etwas wie eine Evolution in Gang […] Wir kehren möglicherweise etwas um, was Cage so gar nicht intendiert hat, jedenfalls nicht dezidiert intendiert hat. Und gleichzeitig können wir sagen, das Stück gibt das her, diese Aspekte freizusetzen. Und genau so funktioniert wahrscheinlich Leben überhaupt. Genau an dem war Cage dann aber wieder ganz grundsätzlich interessiert: Wie kommen wir an die Lebendigkeit der Dinge, so wie sie sich dann irgendwie fortsetzen, wie kommen wir dem auf die Spur? Dem war ja das ganze 20. Jahrhundert auf der Spur […] Weg von diesem Hermetischen, Abgeschlossenen, hin zu dem, was irgendwie Offenheit ist. Jeder Ansatz dessen, was wir heute modern nennen, hat immer damit zu tun, dass wir es von der Offenheit her und damit auch von der Dekomposition her begreifen wollen.“[132]
Das Verständnis von Dekomposition ist wesentlich sowohl für das Schaffen Cages als auch für das Verstehen der ästhetischen Situation, die das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in der Burchardi-Kirche etabliert.[133] Es gibt kein passives Hören mehr. Sowohl die Komposition als auch ihre Aufführung sind prozessualisiert. Die Interpreten werden zu Komponisten ihrer eigenen Situation. Musik wird freigesetzt [134], die Hörer befinden sich im Klang[135].
Das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt hat neben dem dekompositorischen Aspekt auch noch Charakteristika einer Installation und einer Klangskulptur.[136]
2.1. Zeitaspekte der Originalkomposition für Klavier und der Fassung für Orgel
Cage notierte zur Komposition von ASLSP (1985): „The title is an abbreviation of »as slow as possible«. It also refers to »Soft morning city! Lsp!« the first exclamation in the last paragraph of Finnegans Wake (James Joyce). There are eight pieces, any one of which must be omitted and any one of which must be repeated. The repetition may be placed anywhere (even before its appearance in the suite) but otherwise the order of the pieces as written shall be maintained. Neither tempo nor dynamics have been notated. Time proportions are given (just as maps give proportional distances). Accidentals apply only to those pitches they directly precede. Each hand plays its own part and is not to be assisted by the other. A diamond-shaped note indicates a note to be depressed without sounding. All the notes have stems. The stem gives the point in time of the single note, interval or aggregate. Where there is insufficient horizontal space, the stems are splayed to accommodate the noteheads. A closed notehead tied to an open notehead indicates the end of a sustained sound. Sustained sounds are also notated sometimes with straight line-extensions. In a performance a correspondence between space and time should be realized so that the music »sounds« as it »looks«.”[137]
Der Organist Gerd Zacher hatte Cage 1982 um eine Orgelkomposition gebeten. Cage schlug ihm vor, sein neuestes Klavierstück ASLSP auf der Orgel auszuprobieren. Zacher erkannte darin, dass „die langen, in der Zeit verklingenden Töne des Klaviers sozusagen zu Orgelpunkten gerinnen sollten“.[138] Nach der Aufführung von ASLSP auf einer Orgel entwickelten Cage und Zacher gemeinsam die explizit für Orgel geschriebene Komposition ORGAN²/ASLSP.[139] Der Einsatz der Fußpedale wurde durch Einbeziehung des I Ging ermittelt.[140] Die Akkorde für die Hände übernahm Cage aus einem Griffkatalog, den er schon in seinen „Etudes Australes“ (1974/75) verwendet hatte.
Für die Aufführung von ORGAN²/ASLSP notiert Cage: „Distinct from Aslsp, all eight pieces are to be played. However, any one of them may be repeated, though not necessarily, and as in Aslsp the repetition may be placed anywhere in the series.”[141]
Um die Besonderheiten der Halberstädter Aufführung erörtern zu können, seien hier zunächst die vom Widmungsträger Gerd Zacher explizit gemachten Zeitordnungen [142] seiner Interpretation angeführt. Zacher orientiert den von ihm gewählten Rhythmus an der Länge seines eigenen Atemzugs und schlägt für jede Zeile eine Länge von einer Minute vor. „Jene Einzelnoten, die aussehen wie Viertelnoten mit Hals, werden eine entsprechende Dauer haben: eine Sekunde etwa wäre bei der allgemeinen Langsamkeit angemessen.“[143] Noten ohne Notenhals sollen, Cage nachempfunden, klingen as it looks, also wie Tropfen. Die graphisch in der Komposition verankerte Agogik führt zu ständigen Schätzwerten für die tonalen Einsätze. Zacher greift, um Wiederholungen im Puls zu vermeiden, auf die Fibonacci-Reihe zurück, um den Rhythmus zu modifizieren. Eine Besonderheit in Zachers Interpretation der Komposition besteht in seinem Verständnis der vorgegebenen Wiederholung als Strukturmerkmal der Gesamtkomposition. ORGAN²/ASLSP erlaubt die Wiederholung eines jeden der acht Sätze zu irgendeinem Zeitpunkt der Aufführung. Zacher meint, diese Regel müsse sich auch als Struktur in den acht komponierten Sätzen bzw. als übergeordnete Idee Cages wiederfinden lassen. „Offensichtlich muss es in dieser Komposition eine Regel gegeben haben, welche unter allen Zufallsprodukten auch Wiederholung bewirkt; sonst hätte Cage diese Wiederholung eines Satzes nicht gefordert. […] Solche Wiederholungen haben, wegen der sonstigen Vermeidung von Wiederholung, starkes strukturelles Gewicht. […] Das Kriterium für solche Wiederholungen heißt: Wieder-Erkennen, welches Vergnügen bereitet.“[144]
Hier wird erneut die starke Intention Zachers deutlich, das Stück richtig zu deuten, aus der sich später seine Kritik an der Halberstädter Aufführung ableitet. Doch Cage selbst hat nicht mit Wiederholungen als Strukturmerkmal gearbeitet, um eine Wieder-Erkennbarkeit zu sichern. Das Vergnügen an Musik sollte vielmehr aus dem Nicht-Wieder-Erkennbaren, aus dem Neuen, entstehen.
Christoph Bossert schlägt bereits mit seiner, gemeinsam mit Hans-Ola Ericsson realisierten Einspielung[145] einen anderen Weg, den einer offeneren Interpretation ein. Bossert stellt fest, dass Cages Komposition völlige Freiheit in der klanglichen Realisierung lässt, jedoch das Tempo durch den Zusatz ASLSP absolut festlegt. So langsam wie möglich bedeutet: „Die Entscheidung in der Tempowahl hat […] zu fallen zwischen Bewegung und größtmöglicher Langsamkeit […] auf der Grenze zum Stillstand. […] Beim Instrument Klavier könnte dieser Grenzwert ermittelt werden durch die Dauer eines Klanges von seinem Anschlag bis zu seinem endgültigen Verklungensein. Beim Instrument Orgel entfällt jedoch dieses Kriterium, sofern eine permanente und (theoretisch) unbegrenzt dauernde Windversorgung gewährleistet ist. Mit der Anweisung »as slow as possible« ist für ORGAN²/ASLSP die Frage nach der Grenze zwischen Bewegung und Stillstand ein letztlich vom Instrument unabhängiges Problem: Lichtgeschwindigkeit? Atemholen? Bedürfnis nach Abwechslung? Tag und Nacht, Tage, Wochen, die Umlaufzeiten von Gestirnen: Monate, Jahre? Die Lebensspanne des Menschen? Der Zerfallsprozess von Materie? Die Frage nach der absoluten Zeitdauer bleibt bei ORGAN²/ASLSP ebenso offen wie die nach der Beschaffenheit des Instruments.“[146]
Während es Zacher darum geht, eine Regelhaftigkeit in Cages Komposition aufzuspüren, der er als Interpret mit seinen eigenen Regeln gerecht werden kann, versteht Bossert seine eigene Aufführungspraxis als eine ständig neue Annäherung und Variation:
Christoph Bossert: „Das sind wahnsinnig spannende Vorgänge, je nachdem, für welche Zeitdauer man sich entscheidet. Die Aufführung, die ich mit Hans Ola Ericsson gemacht hab, dauerte drei Stunden. Wenn ich mich da von einem Klang zum nächsten bewege, ist es in der Tat spannend, was sich abspielt. Ich könnte natürlich sagen, ich habe jetzt den Klang gedrückt, jetzt wart ich einfach und irgendwann drücke ich den nächsten. Dazwischen denke ich gar nichts. Ich warte einfach. Aber das funktioniert musikalisch nicht. Ich bin ja in dieser Notation. Das ist für mich eine Welt, in der ich mich jetzt aufhalte. Die Bewegungen, die dann ablaufen, diese Zeitlupe, in der ich innerlich das Bedürfnis habe, mich in Richtung zum nächsten Klang zu bewegen, um ihn dann irgendwann auszuführen. Das sind z. B. solche Vorgänge, wo ich auch sagen würde, drei Stunden, das war grad noch möglich, es irgendwie in diesem musikalischen Ich gehe von einem zum anderen auszuführen. Und sobald man das noch weiter nehmen würde, sagen wir, vier, fünf oder mehr Stunden, da wird es dann schon kritisch, von einem Klang zum anderen noch irgendwie empfinden zu können. Ich nehme das jetzt mal ganz romantisch und sage, dass ich meine Empfindungen gern noch dabei haben möchte.“[147]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich ORGAN²/ASLSP (1987) von ASLSP (1985) darin unterscheidet, dass alle acht Sätze gespielt werden sollen. Die Wiederholung eines Satzes kann geschehen, ist aber nicht zwingend vorgeschrieben. Die Aufführungsvorschrift as slow as possible bleibt bestehen.
Für die Aufführung von Halberstadt wurde die Interpretation Christoph Bosserts maßgeblich, der nicht nur das Zeitmaß, sondern auch die Klangfarben als offen betrachtet.
2.2. Zeitebenen des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes Halberstadt
2.2.1. Die Spieldauer: 639 Jahre
2.2.1.1. Die historische Verankerung
Die durch die Projektgruppe des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes errechnete Spieldauer von 639 Jahren ergibt sich aus einer Spiegelachse, die sich am Jahr 2000 orientiert und zwei Aspekte beinhaltet: einen theologischen und einen musikinstrumentalen.
Als sich 1998 während der zweiten Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen die Projektgruppe formierte, lag es nahe, die bevorstehende Jahrtausendwende als Ausgangspunkt der Aufführung ins Auge zu fassen. Die Jahrtausendwende als Spiegelachse wird von einigen Initiatoren und Begleitern des Projektes christologisch interpretiert, so von Klaus Röhring, Jakob Ullmann und Dieter Schnebel.[148]
Abgesehen von dieser theologischen Interpretation[149] ist für die Verankerung der zeitlichen Dimension die Orgelgeschichte von Halberstadt wesentlich. 1361 konstruierte Nicolaus Faber im Halberstädter Dom die erste sogenannte Blockwerkorgel, die zum Vorbild für alle Instrumente mit chromatischer Tastatur wurde. Dieser Zeitpunkt, der gemessen am Jahr 2000 sechshundertneununddreißig Jahre vergangen war, wurde in die Zukunft projiziert und bestimmte damit die Dauer der Aufführung.[150] Folgende weitere Festlegungen wurden getroffen: „Die Dauer der Aufführung eines Teils beträgt 71 Jahre, da ORGAN²/ASLSP aus acht gleich langen Teilen besteht und ein Teil wiederholt wird (639 : 9 = 71). Die Aufführung beginnt mit dem Teil 1. Die Reihenfolge der weiteren Teile, der zu wiederholende Teil und die Stelle, an der die Wiederholung stattfindet, sind noch nicht festgelegt. Die kleinste Berechnungseinheit (Toleranzeinheit) beträgt 1 Monat. Der jeweils festgelegte Klangwechsel findet am 5. Tag des betreffenden Monats statt.“[151]
Von Beginn an schlichen sich in diese Berechnung Abweichungen und Fehler ein, die als Unwägbarkeiten hingenommen wurden. Die Aufführung sollte am 5. September 2000 beginnen, konnte aber aus finanziellen Gründen erst ein Jahr später starten. Da man vergaß, die Gesamtberechnung anzupassen, verkürzte sich die Pause, mit der die Komposition beginnt, entsprechend.[152] Auch die Festlegung von einem Monat als kleinster Berechnungs-einheit birgt Ermessensspielräume in sich.[153]
Die Art der Berechnung und die Dimension der 639 Jahre hat unterschiedliche Kritiken an dem Projekt provoziert.
Rebhahn spricht dem Phänomen Zeit im Halberstädter Projekt eine „doppelte Funktion“ zu: „Einerseits kann und soll sie verkauft werden, andererseits bildet sie den Rahmen für das, was – ohne jegliche Garantie auf ein Gelingen – im Entstehen ist; sie stellt als »Ware« die wichtigste Ressource des Projektes dar, bleibt zugleich aber ein unwägbarer Möglichkeitsraum […] Im »Zeitkauf« artikuliert sich der Wunsch, dass die Zeitläufte ein Verstummen der Orgel nicht zulassen mögen. Mit John Cages Musik hat das freilich nicht mehr viel zu tun. Im Grunde ist es nicht das Stück selbst, das die Qualität des Projektes ausmacht, als vielmehr die Umstände seiner Aufführung im utopischen Maßstab: Eine eigentlich fragile musikalische Gestalt wird qua Ausdehnung zum epochenverbindenden Sirup. Damit ist letztlich sekundär, was in St. Burchardi gespielt wird – die Hauptsache ist, dass überhaupt etwas erklingt.“[154]
Rebhahn kritisiert die Beliebigkeit der Musik bzw. des Klanges im Halberstädter Projekt und konstatiert, dass damit Cages Komposition eigentlich keine Rolle mehr spielt. Gleichzeitig spricht er von einem sich so eröffnenden Möglichkeitsraum.
Gerd Zachers Kritik hingegen ist grundsätzlich: „Hinter den sechshundertneununddreißig Jahren von Halberstadt steht eine weit verbreitete und unglückliche Auffassung von Ewigkeit als bloßer zeitlicher Ausdehnung. Musikalisch erheblich kann aber nur eine Ewigkeit in der Vertikalen zur Zeit sein, ein Aufreißen der Horizonte in jedem möglichen Augenblick, weil darin die Fülle der Zeit sich wie ein Blitz offenbart.“[155]
Zacher stellt dem seine eigenen Mittel der Zeitdehnung entgegen, mit denen er die in der Komposition enthaltenen Augmentierungen realisiert und die die Balance zwischen Dehnung und Hörbarkeit gewährleisten sollen. Wesentlich an dieser Herangehensweise ist Zachers Absicht, anhörbare Musik zu spielen[156], etwas, worum es im Halberstädter Projekt jedoch nicht wesentlich geht.
Stärker wiegt daher seine Kritik an der für die Berechnung der Dauer des Projektes vernachlässigten Kategorie des Zufalls. „Der Mangel an Freiheit des Zufalls beweist auch die Anzahl von sechshundertneununddreißig Jahren, welche durch einfache Klappsymmetrie gefunden wurde. Die Zahl 639 kam nicht durch »chance operation« zustande, sondern ist das beschämende Ergebnis allzu schlichter menschlicher Kalkulation.“[157]
Tatsächlich geschehen im John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt durch die zeitlichen Festlegungen und den Rückgriff auf die Orgelgeschichte der Stadt eine zeitliche Fixierung und Verortung der Cageschen Komposition, die dessen Intention teilweise wiedersprechen. Eine aus der Vergangenheit abgeleitete Zukunftsprojektion war nicht Cages Sache. Gleichzeitig eröffnet diese Anbindung quasi durch die Hintertür der Stadt- und Musikgeschichte einen offenen Raum.[158]
[...]
[1] Johannes Rieger, Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters. Anhang, Interview VII, S. 84.
[2] John Cage, “ORGAN²/ASLSP solo organ”, 1987. Edition Peters.
[3] Neugebauer, S. 272.
[4] John-Cage-Orgel-Kunst-Stiftung (Hrsg.), John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt, o. S.
[5] Zur Ablösung des Werkbegriffs durch den der ästhetischen Situation bei Cage siehe: Sanio, S. 14.
[6] Siehe hierzu Kap. 3.1. der vorliegende Arbeit.
[7] Bayreuther Festspiele, S. 3.
[8] Stuckenschmidt, S. 71.
[9] Ebd. S. 72-75.
[10] Houben, S. 21.
[11] Ebd., S. 71.
[12] Gebser, Gesamtausgabe, Band 2: Ursprung und Gegenwart. Erster Teil, S. 81.
[13] Ebd., S. 381
[14] Houben, S. 22.
[15] Zimmermann, S. 35.
[16] Maur, S. 10.
[17] Stuckenschmidt, S. 83.
[18] John Cage „Counterpoint“ in: Kostelanetz (Hrsg.), Writings about John Cage, S. 17.
[19] Bayreuther Festspiele, S. 3
[20] Wieland Schmied, S. 7
[21] Siehe zur „Schule von Concord“ und H.D.Thoreau Kapitel 1.1. der vorliegenden Arbeit.
[22] Rathert, S. 54.
[23] Rathert, S. 59.
[24] René Block, S. 5.
[25] Motte-Haber, S. 288.
[26] Johannes Rieger, Anhang, Interview VII, S. 84.
[27] Kösterke, S. 12.
[28] Cage, Empty Mind, S. 219.
[29] Cage “Vortrag über etwas” in: ders., Silence, S. 48.
[30] Hierzu: Cage „Preface to Lecture on the Weather“ in: ders. , Empty WordS. S. 3-5; Cage „The Future of
Music“ in: ders. , Empty Words, S. 177-187; Cage “Foreword” und “Diary: How to improve the world.
Continued 1968” in: ders. , M: Writings.
[31] http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_David_Thoreau, siehe Anhang, Internetquellen, S. 95.
[32] Cage „Diary: How to improve the world. Continued 1968. Revised”, a. a. O., S. 3.
[33] Rathert, S. 54.
[34] http://de.wikipedia.org/wiki/Pragmatismus, siehe Anhang, Internetquellen, S. 96.
[35] Rathert, S. 55.
[36] Cage in: M: Writings '67-'72, “ Forword” (o. S. ).
[37] Cage “Diary How to Improve the World (You Will Only Make Matters Worse)" (continued 1968; revised
version) in: M:Writings, S. 3.
[38] Cage “Preface to »Lecture on the weather«” in: ders. , Empty Words, S. 3.
[39] Ebd., S. 5.
[40] Thoreau in: Cage, Empty Words, S. 183.
[41] Ebd.
[42] Charles, S. 42.
[43] http://de.wikipedia.org/wiki/Pluralismus_%28Philosophie%29#Relativistischer_Pluralismus, siehe Anhang,
Internetquellen, S. 96.
[44] Charles, a. a. O.
[45] Ebd. S. 43/44.
[46] Han, Philosophie des Buddhismus, S. 7.
[47] von Brück, S. 6.
[48] Han, Philosophie des Zen-Buddhismus, S. 63-65.
[49] Cage „Bericht“ (1966) in: Kostelanetz, John Cage, S. 105.
[50] von Brück, S. 12/13.
[51] Cage, Für die Vögel, S. 107.
[52] Cage „Tokyo Lecture and three mesostics (1986)“ in: Kostelanetz, John Cage: Writer, S. 177/78.
[53] Cage „Brief an Paul Henry Lang“ (1956) in: Kostelanetz, John Cage, S. 167.
[54] Daniel Charles: „Dennoch ist man versucht zu fragen, wie es dazu kam, dass Zen – das in der Vergangenheit
besonders im Bereich der Malerei Anstoß zu so vielen minutiös ausgearbeiteten Werken gab und das die
Hingabe eines Künstlers an das fertige Sujet, an dem er gerade gearbeitet hat, als selbstverständlich
erachtete, wie hat es dann Zen ermöglicht, Sie zu Werken zu verleiten, die man nicht wirklich Werke nennen
kann …?“ John Cage: „Aber Zen hat sich selbst geändert! Es ist heute nicht mehr möglich, das zu wiederholen,
was Zen gestern hervorgebracht hat.“ Charles: „Dann sind Sie in Wirklichkeit kein Zenist?“ Cage: „Wenn Sie
darunter einen buddhistischen Mönch verstehen, nein!“ Charles: „Aber Ihre Musik ist der Buddha?“ Cage:
„Nicht mehr als alle andere!“ in Cage, Für die Vögel, S. 123.
[55] Cage „Preface to Indeterminacy“ in: Kostelanetz, John Cage: Writer, S. 79.
[56] in: Musik-Konzepte, Sonderband Darmstadt-Dokumente I, S. 137-174.
[57] Ebd., S. 172.
[58] Kösterke S. 84/85.
[59] Ebd., S. 117.
[60] Ganslandt, S. 134.
[61] Ebd., S. 121 und 134.
[62] Ebd., 123, 125 und Han, Philosophie des Zen-Buddhismus, S. 8.
[63] Han, Philosophie des Buddhismus, S. 40, nimmt hier Bezug auf das Zeitkonzept bei Heidegger.
[64] Cage, Für die Vögel, S. 45/46.
[65] Cage, Für die Vögel, S. 265 und Fußnote.
[66] Cage, Silence, S. 19.
[67] Erdmann, S. 67 (Fußnote).
[68] Sanio, S. 54-56.
[69] Cowell „Tageschronik“ in: Kostelanetz, John Cage, S. 125.
[70] Schädler, S. 188.
[71] Ebd., S. 208.
[72] Cage, Für die Vögel, S. 183/84.
[73] Sanio, S. 60.
[74] Cage, M: Writings (Foreword), o. S.
[75] Cage, Empty Words: Writings ʾ73-ʾ78, S. 11-76.
[76] Cage, A Year from Monday, S. 28.
[77] In: Kostelanetz, Conversing with Cage, S. 119.
[78] Cage, “Counterpoint” in: Kostelanetz, Writings about John Cage, S. 16/17.
[79] Cage, „Vortrag über etwas“ in: ders., Silence, S. 48.
[80] Cage, Für die Vögel, S. 62.
[81] Sanio, S. 120.
[82] Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 123.
[83] Cage, Für die Vögel, S. 95.
[84] Sanio, S. 121.
[85] Ebd., S. 122.
[86] Cornelius Cardew in: Annotationen Michael Nyman zu Cage „Rede an ein Orchester“, S. 61, Fußnote 13.
[87] Cage, Für die Vögel, S. 39.
[88] I Ging. Das Buch der Wandlungen, Richard Wilhelm (Hrsg.), 1956.
[89] Sanio, S. 98.
[90] Henry Cowell (1897-1965), Cages Lehrer, in: Kostelanetz, John Cage, S. 154.
[91] Cowell, ebd.
[92] Hayles, S. 231 f.: in Anlehnung an die Nobelpreisträger für Chemie Ilya Prigogine und Isabelle Stengers, die
1977 nachwiesen, wie sich kreuzende kausale Ketten Zufall produzieren und gleichzeitig der Zeit ihre
Richtung geben.
[93] Cage, Für die Vögel, S. 100/01.
[94] Cage, Silence, S. 6.
[95] Cage „45ʾ für einen Sprecher“ in: Silence, S. 107.
[96] Sanio, S. 69.
[97] Jill Johnston „Nun gibt es keine Stille mehr“ in: Kostelanetz, John Cage, S. 203.
[98] Cage, Für die Vögel, S. 3.
[99] Cage “Lecture on Nothing” und “Lecture on Something” in: ders., Silence, S. 6-35 bzw. 36-62.
[100] Maier, S. 110.
[101] Ebd., S. 70.
[102] Sanio, S. 114.
[103] Charles, S. 46.
[104] Kostelanetz, Conversing with Cage, S. 75.
[105] Cage „McLuhans Einfluß“ in: Kostelanetz, John Cage, S. 231.
[106] Cage „The Future of Music“ in: ders., Empty Words, S. 178.
[107] Sanio, S. 142/43. Mehr zum musikalischen Feld in Kapitel 1.8 der vorliegenden Arbeit.
[108] Zitiert nach Duchamp in: Daniels, o. S.
[109] Cage, Für die Vögel, S. 153/54.
[110] Bossert, Anhang, Interview IV, S. 72.
[111] Sanio, Anhang, Interview IV, S. 73.
[112] Maier, S. 36.
[113] Sanio, S. 59.
[114] Ebd., S. 60.
[115] Schädler, 190.
[116] Siehe hierzu Kapitel 2.1. der vorliegenden Arbeit.
[117] Cage, Für die Vögel, S. 159.
[118] Sanio, S. 137.
[119] Ebd.
[120] Ebd., S. 140/41.
[121] Schädler, S. 202.
[122] Ebd., S. 206/07.
[123] Ebd., S. 190.
[124] Ebd., S. 193.
[125] Ullmann, S. 45.
[126] Ulrich Stock im Gespräch mit Dieter Schnebel, ZEIT online, 3.5.2006, siehe: Anhang, Internetquellen, S. 97 f.
[127] Bossert, S. 57.
[128] Zacher „Jahrhundertspuk“, S. 15.
[129] Ebd., S. 19
[130] Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre hatte Cage Lehraufträge am Black Mountain College , einer 1933 in
North Carolina geründeten freien und interdisziplinären Kunstschule. Dort fand im Dezember 2011 im
Rahmen einer Ausstellung ein Konzert mit sechs Musikern statt, bei der die „Long Note from
Halberstadt“ gestreamed und in eine musikalische Improvisation eingebunden wurde. Siehe hierzu:
http://blackmountaincollege.org/programs/past/192-variations-on-the-long-note, Anhang, Internetquellen,
S. 99.
[131] Bossert und Ericsson „John Cage ORGAN²/ASLSP“, siehe Diskographie.
[132] Bossert, Anhang, Interview IV, S. 72.
[133] Siehe auch Kapitel 1.6. der vorliegenden Arbeit.
[134] Bossert, S. 57.
[135] Sanio, Anhang, Interview IV, S. 73.
[136] Siehe Kapitel 2.2.4. und 3.1.
[137] Cage „Notes on Compositions IV“ in: Kostelanetz, John Cage: Writer, S. 139/40.
[138] Zacher „Nachthorn, Dulzian und Tremulant“, S. 23.
[139] Alle weiterführenden Angaben in diesem Kapitel aus: Zacher, ebd., S. 22-30.
[140] Zum Einsatz kam die von Andrew Culver entwickelte Software ic, die eine Computervariante des I Ging ist.
Nach: Rebhahn, S. 28.
[141] Cage „ORGAN²/ASLSP solo organ“ Edition Peters, No. 67185a.
[142] Zacher, a. a. O., S. 24/25.
[143] Ebd.
[144] Zacher, a. a. O., S. 24/25.
[145] Bossert und Ericsson, siehe Diskographie.
[146] Ebd., booklet, S. 5.
[147] Anhang, Interview IV, S. 74.
[148] „Zeitwende bedeutet Rückblick und Ausblick, Erinnerung und Hoffnung zugleich. Ein Millennium endet, ein
neues beginnt. Das Jahr 2000. Darauf zugehend wird bewusst, wie Zeit vergeht. Symbolisch wie konkret in
Halberstadt: Erinnerung an eine berühmte Orgel, erbaut 1361 […] Warum aber diese Erinnerung nicht auch
als zukünftige: »Es wird einmal«? Das Jahr 2000 würde dadurch zu einer »Mitte der Zeit«, bekäme
gleichsam christologische Symbolkraft: 1361 – 2000 – 2639.“ Röhring in: positionen 42, S. 56.
[149] „Die Musik von Cage ist schon sehr philosophisch. Und was mir an dem Halberstädter Projekt auch gefällt:
Es ist so theologisch. Das hat ja eigentlich nur Sinn für den ganz großen Zuhörer da oben, der als einziger
dann alles mitkriegt.“ Schnebel, Anhang, Internetquellen, S. 98.
[150] Der Organist Hans-Ola Ericsson brachte die Idee ein, dass so langsam wie möglich für eine Orgel die
Lebensdauer des Instruments bedeutet. Daraufhin orientierte man sich an der Halberstädter
Orgelgeschichte. Siehe: John-Cage-Orgel-Stiftung (Hrsg.): John Cage ORGAN²/ASLSP: Der erste Klang. o. S.
[151] John-Cage-Orgel-Stiftung (Hrsg.), Berechnung der Klangwechsel, S. 1.
[152] John-Cage-Orgel-Stiftung (Hrsg.), Die Logik der Komposition, S. 1/2.
[153] Ebd.
[154] Rebhahn, S. 28/29.
[155] Zacher „Jahrhundertspuk“, S. 17.
[156] „Das Interessante an diesen Mitteln ist, dass es sich immer um anhörbare Musik handelt und eben nicht um
eine Demonstration von deren Strapazierfähigkeit.“ Zacher: „Jahrhundertspuk“, S. 17.
[157] Ebd., S. 18.
[158] Zur Evolution der Orgel im Projekt siehe Kapitel 2.2.4.; zur Etablierung eines offenen Raums siehe Kapitel 3.3.
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- Sonja Heyer (Autor:in), 2013, Zum Raum wird hier die Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232165
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