Der Film "The Childen`s Hour" von William Wyler handelt von zwei eng befreundeten Frauen, Martha Dobie (Shirley MacLaine) und Karen Wright (Audrey Hepburn), die gemeinsam eine private Mädchenschule in Neuengland gegründet haben. Beide Lehrerinnen wirken routiniert und halten einen strengen aber liebevollen Umgang mit ihren Schülerinnen. Die Schülerin Mary (Karen Balkin nutzt ihren Erfindungsreichtum und das erpresste Wort einer Mitschülerin, um den beiden Lehrerinnen ein gesellschaftlich inakzeptables Verhalten unterstellen zu können. Unverzüglich informiert ihre besorgte Oma Mrs. Tilford (Fay Bainter) die gesamte Elternschaft, woraufhin alle Kinder von der Schule entfernt werden. Die zunächst unwissenden Frauen geraten in eine Lage, welche die Schattenseite einer konservativ genormten Welt zu Tage fördert. Ihre vermeintliche Andersartigkeit wird mit voyeuristischen Blicken aus einer Mischung von Verachtung und Neugierde der männlichen Gesellschaft bestraft.
An dieser Stelle bietet die feministische Filmtheorie von Laura Mulvey (*1941) einen interessanten Ansatz zur Analyse von „The Children`s Hour“. Mulvey kündigt in ihrem Artikel „Visuelle Lust und narratives Kino“ an, dem immer noch „dominierenden ideologischen Kinokonzept“ einer Analyse zu unterziehen, welche seinen klassischen Hollywood-Stil destruieren und „zu einer neuen Sprache des Begehrens“ verhelfen soll. Um dieses hier kurz zusammengefasste Vorhaben zu realisieren, zieht sie psychoanalytische Ansätze von Sigmund Freud (1856-1939) und Jaques Lacan (1901-1981) heran und entwickelt eine Theorie zum geschlechtlich bedingten Blickverhalten der Kinobesucher. Das Drehbuch im Hollywood-Format, so Mulvey, arbeite mit Faszinationsmustern, welche die nach Freud sexuell begründete Skopophilie (Schaulust) der Zuschauer nutze, um die Illusion einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu festigen. Diese Theorie soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. Insbesondere wird dabei sowohl das durch die Kamera geleitete Blickverhalten der Kinogesellschaft als auch das der filmimmanenten Gesellschaft in William Wylers „The Children`s Hour“ eine Rolle spielen. Anschließend möchte ich noch einen alternativen Ansatz zum Verständnis von aktiver Zuschauermanipulation nach der Dramentheorie Gotthold Ephraim Lessings vorstellen und diese ins Verhältnis setzen zu Mulveys im Artikel zuletzt genannter Forderung „die[...] filmischen Codes und ihre Beziehung zu formativen äußeren Strukturen“ zu zerstören.
1. Einleitung
Das Kino der 60er Jahre wurde mit dem Trend zur Transnationalisierung zu einem von vielen medialen Vermittler politischer und kultureller Themen. Es beleuchtete stärker als zuvor ambivalente Auffassungen gegenüber einem gesellschaftlichen Zustand, der zwischen Tradition und Neuorientierung schwankte und somit den Wertewandel von alt zu neu dokumentierte.[1] Obwohl sich explizite Gesellschaftskritik erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre vermehrt in Spielfilmen äußerte, entschied sich der im Filmgeschäft fest etablierte Hollywood-Regisseur William Wyler für einen Stoff, welcher später auf harte Kritik stoßen sollte. Mit seinem 1961 erschienenen Film „The Children`s Hour“[2], zu Deutsch „Infam“, trug er durch die Darstellung der Konfrontation mit einer homosexuellen Identität die daraus entstehenden innere und äußere Konflikte der Protagonisten in das Bewusstsein der Zuschauer.
Der Film handelt von zwei eng befreundeten Frauen, Martha Dobie (Shirley MacLaine) und Karen Wright (Audrey Hepburn), die gemeinsam eine private Mädchenschule in Neuengland gegründet haben (die Handlungszeit wird nicht genannt, vermutlich um 1930). Beide Lehrerinnen wirken routiniert und halten einen strengen aber liebevollen Umgang mit ihren Schülerinnen. Mary (Karen Balkin), eine verhaltensauffällige Schülerin, fühlt sich wegen einer Strafe ungerecht behandelt und nutzt ihren Erfindungsreichtum und das erpresste Wort einer Mitschülerin, um den beiden Lehrerinnen ein gesellschaftlich inakzeptables Verhalten[3] unterstellen zu können. Unverzüglich informiert ihre besorgte Oma Mrs. Tilford (Fay Bainter) die gesamte Elternschaft, woraufhin alle Kinder von der Schule entfernt werden. Die zunächst unwissenden Frauen geraten in eine Lage, welche die Schattenseite einer konservativ genormten Welt zu Tage fördert. Ihre vermeintliche Andersartigkeit wird mit voyeuristischen Blicken aus einer Mischung von Verachtung und Neugierde der männlichen Gesellschaft bestraft.
An dieser Stelle bietet die feministische Filmtheorie von Laura Mulvey (*1941) einen interessanten Ansatz zur Analyse von „The Children`s Hour“. Mulvey kündigt in ihrem Artikel „Visuelle Lust und narratives Kino“[4] an, dem immer noch „dominierenden ideologischen Kinokonzept“[5] einer Analyse zu unterziehen, welche seinen klassischen Hollywood-Stil destruieren und „zu einer neuen Sprache des Begehrens“[6] verhelfen soll. Um dieses hier kurz zusammengefasste Vorhaben zu realisieren, zieht sie psychoanalytische Ansätze von Sigmund Freud (1856-1939) und Jaques Lacan (1901-1981) heran und entwickelt eine Theorie zum geschlechtlich bedingten Blickverhalten der Kinobesucher. Das Drehbuch im Hollywood-Format, so Mulvey, arbeite mit Faszinationsmustern, welche die nach Freud sexuell begründete Skopophilie (Schaulust) der Zuschauer nutze, um die Illusion einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu festigen. Diese Theorie soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. Insbesondere wird dabei sowohl das durch die Kamera geleitete Blickverhalten der Kinogesellschaft als auch das der filmimmanenten Gesellschaft in William Wylers „The Children`s Hour“ eine Rolle spielen. Anschließend möchte ich noch einen alternativen Ansatz zum Verständnis von aktiver Zuschauermanipulation nach der Dramentheorie Gotthold Ephraim Lessings vorstellen und diese ins Verhältnis setzen zu Mulveys im Artikel zuletzt genannter Forderung „die[...] filmischen Codes und ihre Beziehung zu formativen äußeren Strukturen“[7] zu zerstören.
2. Laura Mulveys Theorie zum männlichen Blick
Anfang der siebziger Jahre begann man mit einer Untersuchung der filmischen Repräsentation des Blicks im klassischen Hollywood-Kino und nutzte die Terminologie der Psychoanalyse, um die dort begründete Ideologie einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung anhand von geschlechtlich bedingten Subjekt- und Objektpositionierungen durch filmische Blickstrukturen festzustellen. Als Mitbegründerin dieser feministischen Filmtheorie forderte Laura Mulvey die Programmatik eines egalitären und emanzipativen Kinos.[8]
Sigmund Freud bietet in seinen vielschichtigen Theorien zur Psychoanalyse einige Ansätze, welche sich die feministische Filmtheorie, aber auch andere Bereiche der Filmpsychologie, zur Erschließung ihrer Begriffe zu nutzen gemacht hat.
Freud stellt fest, dass neben der taktilen Erregung vor allem „der optische Eindruck [...] der Weg [bleibt], auf dem die libidinöse Erregung am häufigsten geweckt wird.“[9] Dies mag eine recht nachvollziehbare Erklärung für die Schaulust sein, doch erst mit der Hinführung zum Kern der Sexualtheorie, nämlich der infantilen Sexualität, lässt sich die Untermauerung Mulveys Filmtheorie nachvollziehen. Freud geht davon aus, dass die Schaulust sich schon bei kleinen Kindern als eine Art von narzisstischem „Wiss- oder Forschertrieb“ abbildet. Im Alter von circa fünf bis sechs Jahren setzt die sog. „phallische Phase“[10] ein. Mit ihr findet auch die erste Sexualisierung eines Objekts statt, wobei hier das Kind sowohl an sich als auch an der Mutter ein männliches Geschlechtsorgan wahrnimmt. Diese Verleugnung oder Verdrängung der Realität dient dem Anspruch der Triebmacht, die bis dahin noch keine Enttäuschung kennt. Als „Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat“[11], dienen Fetischobjekte, wie andere Körperteile, Accessoires oder Kleidungsstücke.[12] Die nun mit einem Ersatzobjekt ausgestattete Mutter wird vom Kind begehrt. Dem Vater hingegen entwickeln sich feindliche Gefühle, da er eine Konkurrenz darstellt. In Anlehnung an den Inzest und Vatermord von König Ödipus aus der griechischen Mythologie nennt Freud diese inzestuöse Zuneigung „Ödipuskomplex“.
Die Differenzierung zwischen Penis und Vagina findet erst im Zuge des Kastrationskomplexes statt. Freud beschreibt dieses Phänomen als einen für die Entwicklung notwendigen Prozess, bei welchem das Kind „schweren inneren Kämpfen“ ausgesetzt ist, da es einerseits an sich selbst die eigene Gattungszugehörigkeit entdeckt und andererseits einen Schock erleidet, da die Mutter, wie zuvor angenommen, doch keinen Penis besitzt und demnach durch die dominantere väterliche Gewalt kastriert worden sein musste. Jungen lassen aus Angst ebenfalls durch den Vater kastriert zu werden von der Vorstellung einer inzestuösen Verbindung zur Mutter ab. Indem der Junge seine sexuellen Wünsche gegenüber dem andersgeschlechtlichen Elternteil aufgibt, überwindet er den Ödipuskomplex und kann schließlich im Zuge der darauffolgenden Latenzperiode, welche sich durch Abschwächung des Sexualtriebes äußert und erst wieder mit der Pubertät beendet wird, imstande sein, „sein nächstes Ziel gegen andere, eventuell höher gewertete und nicht sexuelle, Ziele [...] [zu] vertauschen.“[13] Gemeint ist dabei der Übergang der rein sexuellen Triebmacht zur Entwicklung des kultur- und vernunftskonstituierenden „Über-Ichs“.[14]
Laut Freud gestaltet sich die psychosexuelle Entwicklung der Mädchen etwas schwieriger. In dem Moment, wo es eine geschlechtliche Unterscheidung wahrnimmt, stellt es unmittelbar an sich selbst einen Penismangel fest und fällt in einen narzisstischen Schock. Der nachfolgende Entwicklungsverlauf wird von ambivalenten Gefühlen begleitet. Es beneidet einerseits das männliche Geschlechtsteil (Penisneid) und muss dennoch das eigene Geschlecht mit dem mütterlichen identifizieren. Zusätzlich beginnt sie ihr Objekt des Begehrens von der Mutter auf den Vater zu verschieben. Die einzige Möglichkeit, den Penismangel auszugleichen, sehen Mädchen in der Geburt eines eigenen Kindes. Interessant bei Freuds Theorie ist vor allem, dass die Aktivierung sämtlicher psychosexuellen Entwicklungsprozesse und demzufolge auch der Übergang vom „Es“ zum „Über-Ich“ durch den Blick stattfindet.
Ein zweiter Ansatz der Psychoanalyse für die feministische Filmtheorie wurde von Jaques Lacan als erweiterndes Element zur freudschen Theorie entwickelt. Laura Mulvey bedient sich an der lacanschen Erforschung des „Spiegelstadium[s] als Bildner der Ichfunktion“[15], um einen Bezug von den hier vorgenommenen Ausführungen zur Subjektivitätsbildung im Kindesalter zu selbstreflexiven Blickstrukturen der Kinobesucher herzustellen. Lacan untersuchte den Moment der ersten Selbstwahrnehmung bei Kindern. Wenn Kindern im Alter von 6 bis 18 Monaten in einen Spiegel sehen, reagieren sie darauf mit großem Interesse. Sie beginnen allmählich zu verstehen, dass der Mensch im Spiegel einem Abbild der eigenen Person entspricht. Trotz einem weiterhin bestehenden Diskrepanzgefühl, welches durch ein als weniger entwickelt erfahrenes Selbstbild und der als Vollkommen empfundene Ansicht des Spiegelbildes ausgelöst wird, beginnen die Kinder sich mit ihrem gespiegelten „Ich-Ideal“ zu identifizieren. Wenn das Kleinkind merkt, dass es die Differenz zwischen dem Vollkommenen und dem Selbst überwunden hat, dann entsteht ein Gefühl von Macht, welches zusätzlich durch liebevolle und begehrende Blicke der Mutter bestätigt wird und Narzissmus fördert.
Laura Mulvey greift in ihrem Artikel „Visuelle Lust und narratives Kino” vor allem die gewonnenen Erkenntnisse zur Bedeutung des Blicks bei der psychischen Entwicklung aus einer Verbindung der oben dargestellten Theorien Freuds und Lacans auf. Das freudsche Konzept der Schaulust überträgt Mulvey in eine Theorie des voyeuristischen Zuschauers. Sie setzt dabei den aktiven Wiss- und Forschertrieb während der phallischen Phase mit „voyeuristischen Aktivitäten“[16] gleich. Wenn die Kinobesucher ihre Lust am Schauen an den dargestellten menschlichen Objekten nähren, bleibt die ursprünglich narzisstische Motivation bestehen. Voyeurismus in abgeschwächter Form ist demnach die Methode des Zuschauers seinen Wiss- und Forschertrieb zu befriedigen. Im Kino soll dieser voyeuristische Trieb erfüllt werden, indem eine Trennung zwischen schauendem Subjekt und angeschautem Objekt verdeutlicht wird. Zum einen geschieht dies auf narrativer Ebene, wobei sich hier die Handlung abspielt, ohne dabei ein vorhandenes Publikum zu beachten und zum anderen durch formale Mittel, wie dem Hell-Dunkel-Kontrast zwischen Zuschauerraum und Kinoleinwand, was den Eindruck erzeugt, von allem abgetrennt und unbeobachtet zu sein, während der Zuschauer selbst einen visuellen Zugang zur Privatsphäre der Darsteller erhält.[17]
Lacans entdecktes Spiegelphänomen und der daraus entspringenden Konstitution des Ego verwendet Mulvey, um eine Analogie zum Verhältnis von Zuschauer und Darsteller im Sinne der oben beschriebenen Identifizierung herzustellen, wobei der Schauende mittels einer durch die Faszinationsmuster des Kinos initiierter Perspektivübername, sowohl Subjekt als auch Objekt in sich vereint. Der Zuschauer produziert folglich durch „[s]exuelle Instinkte und Identifikationsprozesse“[18] eine Phantasiewelt auf der Kinoleinwand, welche das ursprüngliche Begehren artikuliert, wobei „sein Bezugspunkt stets der [...] Kastrationskomplex [ist][19]. Es lässt sich eine Analogie zur paradoxen Darstellung der Frau im Kino herstellen, wenn man einen Bogen zum Phallozentrismus schlägt. Dieser benötigt für den Erhalt seiner patriarchalischen Kultur eine symbolische Ordnung, in der das Bild einer kastrierten und damit machtlosen Frau als Sinnträger und als Gegensatz zu dem beobachtenden Mann als Sinnproduzenten aufrechterhalten wird.[20] Dennoch findet bei diesem Anblick eine Konfrontation mit der Erinnerung an die eigene Kastrationsangst statt. Freuds Konzept der Skopophilie überträgt sie schließlich auf ein in doppelter Weise dichotomisches Modell von „[...] aktiv/männlich und passiv/weiblich [...].“[21] Der in der patriarchalischen Kultur dominierende Mann hat die Rolle des Aktiven, also des Sinnproduzenten inne. Der männliche Blick „ [...] projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die entsprechend geformt wird.“[22] Die Frau hingegen fungiert im traditionellen Kino als flächiges Schaubild, welches zwar ihren narzisstischen Wunsch angesehen zu werden, erfüllt, allerdings auf narrativer Ebene den einzigen Zweck verfolgt, einen Sinn für die Aktionen des handelnden Mann zu transportieren, ohne der Frau die Fähigkeit, den Handlungsfluss ebenfalls beeinflussen zu können, zuzugestehen. Damit die phallische Weltanschauung des Mannes nicht durch die Erinnerung an seine Kastrationsangst in Gefahr gerät, mutet der konventionelle Hollywood-Film der Frau eine Rolle als unbewegliches Fetischobjekt zu. Wird die Kamera auf die Frau gehalten, bricht die Diegese und die Narration wird durch den erotischen Moment der Darstellung abgelenkt.
Im nächsten Schritt beschreibt Laura Mulvey das Ergebnis einer auf dem Identifikationsprozess beruhenden Verknüpfung der diegetischen Blicke der männlichen Protagonisten und dem erotischen Blick des Zuschauers als ein „Omnipotenz-Gefühl“[23]. Der Identifikationsprozess mit dem Ich-Ideal soll durch eine Kameratechnik begünstigt werden, welche eine natürlich menschliche Wahrnehmung imitieren kann, wie beispielsweise der Einsatz von Schärfentiefe, entsprechender Kamerabewegungen und dem unsichtbaren Schnitt. Der Zuschauer schlüpft in die Rolle des aktiven, sprich männlichen Darstellers und ergreift durch die übernommenen innerdiegetischen Blicke desselben die weibliche Darstellerin in Besitz. Für Feministinnen ist ein Hollywood-Film, der filmische Codes nutzt, um einem rein männlichen Begehren gerecht zu werden, nicht tragbar.
Aus diesem Grund fordert Laura Mulvey „den voyeuristischen, skopophilischen Blick an sich zu zerstören [...].“[24] Da dieser Blick unmittelbar in Abhängigkeit zur Distanz zwischen Kinobesucher und Leinwandgeschehen steht, soll diese demnach hervorgehoben, statt aufgelöst werden.
Das würde folgende Vorgehensweisen bei der Filmherstellung bedeuten: Erstens müsste der Unterdrückung des Kamerablicks ein Ende bereitet werden, indem der Aufzeichnungsprozess selbst wieder eine Form annimmt. Und zweitens sollte der Blick der Zuschauer für eine dialektische Rezeption geschult werden, was mit einer leidenschaftlichen Trennung, also dem bewussten Abkapseln des Unterbewusstseins von visuell wahrgenommenen Affekten, geschehen soll.
3. Die Katharsis im Film. G. E. Lessings Dramentheorie als mögliches Kinokonzept
Gotthold Ephraim Lessings Dramentheorie setzt sich vor allem aus der Verbindung einzelner Elemente der klassizistischen, höfischen Tragödie und der bürgerlichen Komödie zum bürgerlichen Trauerspiel zusammen. Damit hängt auch unmittelbar die Forderung nach der Auflösung der Ständeklausel und dementsprechend der Abschaffung polarisierter Charaktere zusammen. Der Dichter sollte den darstellenden Charakter auf der Bühne nach einem natürlich menschlichem Vorbild; ihn „von gleichem Schrot und Korne schilder[n]“[25], damit dem Publikum eine Identifizierung und Einfühlung mit dem tragischen Schicksal der individuell agierenden Figuren gelingt. In Anlehnung an Aristoteles formulierte Lessing die Katharsis, ein über Mitleid und Furcht laufender Prozess zur Reinigung der Leidenschaften, als Ziel des Dramas. Bevor im Anschluss das dramentheoretische Prinzip von Mitleid und Furcht auf den Film angewandt werden kann, sollte jedoch zunächst eine Verbindung der Medien des Kinos und des Theater hergestellt werden.
Kino und Theater sind zwei unterschiedliche Kunstformen. Kino oder auch Lichtspieltheater zeichnet sich durch das Merkmal des Aufzeichnens aus. Das bedeutet mitunter, dass den Zuschauern kein anderer Zugang zum dargestellten Geschehen bleibt, als der Blick, den die Kamera bietet. Die Möglichkeiten der Kameratechnik bringen für die Produzenten dieser Kunstform einige wesentliche Vorteile gegenüber dem Theater mit sich, weshalb man hier als Rezipient auch davon ausgehen muss, dass es keine zufälligen Darstellungen im Film gibt. Eine weitere erhebliche Unterscheidung stellt Christian Metz in Bezug auf die Diegese im Rahmen der Rezeptionsästhetik fest. Er bezieht sich dabei auf eine Aussage Henri Wallons, welcher der Meinung ist, dass es dem Theater nicht gelingen könne das Leben überzeugend zu reproduzieren, da es selbst ein zu offensichtlicher Teil des Lebens sei. Metz folgert weiter, dass der Film hingegen ein diegetisches Universum schafft, welches einen derartigen Realitätseindruck erzeugt, dass er den Zuschauer umschließt und dieser die Trennung durch die Kinoleinwand praktisch nicht mehr wahrnimmt.[26] Für die Verfolgung des Zwecks der Identifikation, welche die im Kapitel zu Laura Mulvey angesprochene Auflösung der Distanz meint, ist demnach das Kino gegenüber dem Theater im Vorteil.
Weiterhin stammen einige strukturellen Grundlagen des Films ursprünglich aus der klassischen Dramaturgie des Theaters. Mit der Dramaturgie des Films bezeichnet man aufgrund der Gebundenheit an die Kameraperspektive jedoch mehr ein filmisches Erzählen (also „narrative Cinema“) als eine filmische Aufführung[27], wobei im Grunde sowohl die Dramaturgie des Theaters als auch die des Films die dramatische Gestaltung einer Erzählung meinen. Die Ansicht, den „Film könnte man als die Fortsetzung der Theaterentwicklung in neuer Qualität bezeichnen, zumindest in Bezug auf die dramaturgischen Regeln“[28], wird mit den folgenden Beziehungen begründet. Bis auf die Einstellung, setzt sich der Film ebenso wie das Drama aus Akten und Szenen zusammen. Der filmische Akt bezeichnet, wie im Drama, den größten in sich geschlossenen Handlungsabschnitt. Hollywood-Drehbücher haben sich auf der Basis von Aristoteles´ „Poetik“ auf das Paradigma der 3-Akt-Struktur festgelegt. Diese setzt sich aus der Exposition, der Konfrontation und der Auflösung typischerweise in einem 1:2:1 Verhältnis zusammen.[29] „The Children`s Hour“ hingegen beginnt mit der Exposition (00:00:00-00:45:40), in der zunächst der Schulalltag und die Charakterisierung der Figuren vorgestellt werden. Dem folgt die Zuspitzung zum Konflikt in Mrs. Tilfords Haus (00:45:40-01:03:15) und schließlich die Auflösung mit dramatischem Ausgang, wobei der Handlungsort wieder die Schule darstellt (01:03:15-01:43:40). Die Erzählzeit der Exposition nimmt demnach das meiste Gewicht ein, wobei sich bereits hier konfliktfördernde Elemente andeuten.
Im Drama bezeichnet die Szene „eine unveränderte Figurenkonstellation auf der Bühne [...] als fiktionaler Ort [...].“[30] In der Filmdramaturgie zeichnet sich parallel dazu eine Szene durch „eine[...] kleinere[...] in sich durch Handlungsort und Personenkonstellation geschlossene Handlungseinheit“[31] aus. Der Begriff Sequenz wird in der Filmwissenschaft oft wie eine kürzere Form von Szene gehandhabt. Das einzige Element, das im medialen Vergleich nur dem Film zugänglich ist, stellt die Einstellung als Montagetechnik dar. Sie wird meist nur als Bewegung innerhalb eines Kontextes wahrgenommen, ist aber als verbindendes Element zur Wahrnehmung der Zuschauer von großer Bedeutung.[32] In der Filmpraxis kommt aus dem aristotelischen Tragödienprinzip der drei Einheiten als Einziges, das der Handlung, zu tragen. Mit dem Ausschluss des obligatorischen Einsatzes der Einheit des Ortes und der Zeit geht schließlich auch Lessings Dramentheorie einher.
[...]
[1] Vgl. Faulstich, Werner/Korte, Helmut: Der Film zwischen 1961 und 1976: ein Überblick. In: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte. Band 4: Zwischen Tradition und Neuorientierung 1961 – 1976. Frankfurt am Main: Fischer 1992, S. 12 ff.
[2] Vgl. Wyler, William (Dir.): Infam [film]. United Artist. USA: Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc. 1961.
[3] Die damit angedeutete „sexuelle Perversion“, worunter auch die Nennung des Wortes „lesbisch“ zählte, durfte Wyler aufgrund einer Vorgabe des Production Code Office im Film nicht zeigen. Vgl. Belach, Helga/Grob, Norbert/Jacobson, Wolfgang (Hrsg.): William Wyler. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek/Argon 1996, S. 239. Und Wulff, Jürgen (Hrsg.): Lexikon der Filmbegriffe. Erschienen am 27.01.2012. URL: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=198. Aufgerufen am 25.07.2012.
[4] Vgl. Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Weissberg, Lilian (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt am Main: Fischer 1994. Der Originaltitel im Englischen lautet „Visual Pleasure an Narrative Cinema“. Er wurde 1975 in der Zeitschrift Screen veröffentlicht. Vgl. Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen Vol.16,Nr.3. 1975, S. 6-18.
[5] Zit. Ebd. S. 50. Mulvey räumt zwar ein, dass bereits ein alternatives Kino entstanden ist, geht aber davon aus, dass es „nie über eine formale mise-en-scène hinaus[kam].“ Zit.: Ebd. S. 50.
[6] Zit. Ebd. S. 51.
[7] Zit. Ebd. S. 64.
[8] Vgl. Borstnar, Nils/Pabst, Eckard/Wulff, Hans Jürgen: Einführung in die Film-und Fernsehwissenschaft. 2. Aufl. Konstanz: UVK 2008, S. 226.
[9] Zit. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Freud, Anna (Hrsg.): Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1904-1905. Band 5. Aufl.3. London: Fischer 1961, S. 55.
[10] Aus der „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ (1905) entnahm Freud das empirische Material zur Beschreibung der phallischen Phase.
[11] Zit. Freud, Sigmund: Fetischismus. In: Freud, Anna (Hrsg.): Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1925-1931. Band 14. Aufl. 7. Frankfurt am Main 1991, S.383 f.
[12] Vgl. Hesse, Christoph: Filmform und Fetisch. Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 198 f.
[13] Zit. Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo Da Vinci. In: Studienausgabe. Band 10. Frankfurt am Main: Fischer 1969, S. 104.
[14] Vgl. Berkel, Irene: Sigmund Freud. Paderborn: Fink 2008, S. 35 f.
[15] Vgl. Lacan, Jaques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Haas, Norbert (Hrsg.): Jaques Lacan. Schriften 1. 3. Aufl. Berlin: Quadriga 1991. S.61 ff. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf derselben Schrift.
[16] Zit. Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino, S. 51.
[17] Vgl. Ebd. S. 52.
[18] Zit. Ebd. S. 54 f.
[19] Zit. Ebd. S. 55.
[20] Vgl. Ebd. S. 49.
[21] Zit. Ebd. S. 55.
[22] Zit. Ebd.
[23] Zit. Ebd. S. 57.
[24] Zit. Ebd. S. 64.
[25] Zit. Lessing, G. E.: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. 3. Aufl. Stuttgart: Kröner 1978, S. 295.
[26] Vgl. Metz, Christian: Semiologie des Films, S. 29 f.
[27] Vgl. Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam 2002, S. 130.
[28] Zit. Ebd, S. 13.
[29] Vgl. Ebd, S. 14 ff.
[30] Zit. Fischer-Lichte, Erika/ Kolesch, Doris/ Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 321.
[31] Zit. Stutterheim, Kerstin/ Kaiser, Silke: Handbuch der Filmdramaturgie, S. 15.
[32] Vg. Ebd. S. 17 ff.
- Quote paper
- Luzie Komm (Author), 2012, Blickstrukturen und Dramaturgie im Film, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231093
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