Kaum ein Filmemacher der letzten Jahrzehnte ist so umstritten wie der US-Dokumentarfilmer und Autor Michael Moore. Seine explizit aus subjektiver Sichtweise erzählten Arbeiten unterhalten die Zuschauer entgegen der herkömmlichen Meinung von Dokumentarfilmen nicht nur mit beißender Ironie und Sarkasmus, sondern lassen viele Kritiker und Theoretiker auch an den gängigen dokumentarischen Begriffselementen von objektiver Ernsthaftigkeit, Authentizität, Wahrheit und Glaubwürdigkeit der Aussagen und damit an der Einordnung seiner Werke als „filmische Dokumente“ zweifeln. Doch was heißt Wahrheit, wie glaubwürdig sind Aussagen zur Wirklichkeit der Welt und wie authentisch können Dokumentarfilme überhaupt sein? Inwieweit kann „Bowling For Columbine“ in dieser Tradition als ein filmisches Dokument angesehen bzw. abgelehnt werden?
Kaum ein Filmemacher der letzten Jahrzehnte ist so umstritten wie der US-Dokumentarfilmer und Autor Michael Moore. Seine explizit aus subjektiver Sichtweise erzählten Arbeiten unterhalten die Zuschauer entgegen der herkömmlichen Meinung von Dokumentarfilmen nicht nur mit beißender Ironie und Sarkasmus, sondern lassen viele Kritiker und Theoretiker auch an den gängigen dokumentarischen Begriffselementen von objektiver Ernsthaftigkeit, Authentizität, Wahrheit und Glaubwürdigkeit der Aussagen und damit an der Einordnung seiner Werke als „filmische Dokumente“ zweifeln. Doch was heißt Wahrheit, wie glaubwürdig sind Aussagen zur Wirklichkeit der Welt und wie authentisch können Dokumentarfilme überhaupt sein? Inwieweit kann „Bowling For Columbine“ in dieser Tradition als ein filmisches Dokument angesehen bzw. abgelehnt werden?
Michael Moores Werk „Bowling For Columbine“ zählt zu einer der kommerziell erfolgreichsten Dokumentarfilme der letzten Jahrzehnte (Im Nachfolgenden werde ich bei der Analyse von Filmsequenzen die Zeitangabe als Timecode im Text nennen).1 Sein Film beleuchtet die Waffentradition der Amerikaner und dessen Ursprung sowie untersucht die Frage, wer Schuld an der amerikanischen Gewaltkultur und den Amokläufen - wie an dem Schulmassaker vom 20. April 1999 an der Columbine Highschool - hatte. Moores Recherchen - deren Aufzeichnungsprozess immer teil seiner Filme sind - führen ihn zu den höchsten Regierungs-, Organisations- und Lobbyistenkreise. Von der skrupellosen Lobby-Arbeit der Waffen-Organisation „NRA“ über die hysterische, angsterfüllte Nachrichtenpolitik der amerikanischen Medien und der Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bis zum vernachlässigten Sozial-und Gesundheitssystem zieht Moore in seiner Analyse verschiedene Grundübel für die Gewalteskalation im Land und die Waffenvernarrtheit der amerikanischen Gesellschaft heran und macht einzelne Personen dieses Apparats - wie NRA-Waffenlobbyist und Schauspiellegende Charlton Heston - als symbolische Sündenböcke für diese Entwicklung verantwortlich.
All das lässt den Betrachter auf den ersten Blick am dokumentarischen Charakter von „Bowling For Columbine“ zweifeln. Weder hält er sich an die dokumentarischen Gesetzmäßigkeiten einer objektiven Betrachtung der Welt, noch scheut er sich vor Eingriffen in die Realität, wenn er Collagen und Montagesequenzen einsetzt oder Institutionen und Persönlichkeiten persönlich angreift, um deren Absurdität und Obskurität an Handlungen zu entlarven.
Doch wenn man Michel Foucaults Theorie einer Wahrheit folgt, die nicht auf uns wartet, entdeckt zu werden, sondern die sich durch Rituale produziert und an „priviligierten“ Orten aufhält, die man zusammengeballt als „Geographie der Wahrheit“ bezeichnet, die wiederum durch aktive Handlungsereignisse und Prozesse selbst wieder neue Wahrheiten offenlegt - dann kann man daraus folgern, dass Wahrheit nicht durch reine neutrale, objektive Beobachtung erkannt wird, sondern jeder selbst sich subjektiv auf die Suche nach Wahrheit begeben muss.2 Wenn Foucault in einer seiner Wahrheits-Analysen daraus weiterleitend die Erkenntnis der Wahrheit in Form der „Wahrheit qua Konstatierung“ mit dem Aufzeichnen von Beweismaterial zur Wahrheitsfindung und dem daraus sich bildenden Geständnis aus einem gerichtlichen Prozess vergleicht und erkennt, dass die „Wahrheit qua Konstatierung“ keine „Wahrheit an sich“ sein, sondern lediglich logisch nachzuvollziehen und nach bestimmten Regeln angeordnet sein muss - dann ergibt sich die Frage, ob Wahrheit wirklichkeitsgetreu abgebildet werden muss - wie die meisten früheren Dokumentarfilm-Lehren predigten - vernünftig erscheint oder ob man „Bowling For Columbine“ als Vertreter einer Wahrheitstheorie anerkennen sollte, die legitimiert ist, eine übergeordnete Wahrheit über die amerikanische Gesellschaft zu offenbaren?3
Wenn Kritiker Moore vorwerfen, dass seine subjektiven Thesen der Welt keiner umfassenden allgemeingültigen Legitimations-Kontrolle unterliegen, so mutet die Argumentationskette in „Bowling For Columbine“ Zweischneidiges an. So verwendet Michael Moore zwar selektiv nur jene Interviewausschnitte, Filmausschnitte und Archivaufnahmen, die die Thesen seiner Argumentationskette stützen, doch unterlegt er diese jeweils mit praxisrelevanten Beweismaterial aus dem Alltagsleben der US-amerikanischen Gesellschaft. Bestes Beispiel dafür sind seine Überlegungen zur stark abweichenden Kriminalitäts- und Gewalttatquote verschiedener, den USA angrenzenden Nachbarländern (Timecode: 01:08:36 - 01:18:56). Seine These, dass Kanada trotz der ähnlich hohen Quoten an Waffenbesitzern ein gewaltfreieres und friedliebenderes Land sei, weil die Medien keinen Sensationsjournalismus betreiben, sondern die Bürger mit sachlichen, nüchternen Nachrichten bedienen, die Vertrauen und Sicherheitsgefühle innerhalb der Bevölkerung schaffen, wirken im ersten Moment zwar naiv gedacht, aber wenn Moore das Vertrauen der Bürger mit Interviewausschnitt-Aneinanderreihungen von kanadischen Einwohnern belegt, die das Abschließen der eigenen Haustür zum Schutz vor Fremden und Einbrechern nicht für notwendig erachten, muss dieser These - trotz seiner Klischees - ein Stück allgemeingültiger Wahrheit zuerkannt werden - auch wenn den Betrachtern klar sein dürfte, dass nicht jeder kanadischer Bürger seine Haustür offenstehen lässt bzw. in jeder kanadischen Kleinstadt geringe Kriminalitätsquoten herrschen. Dass er diese Unerschrockenheit kanadischer Bürger durch ein Selbstexperiment überprüft, soll die Glaubwürdigkeit seiner Thesen unterstreichen - ob die Hausbesuche in fremden Häusern allerdings nur zur Unterstreichung seiner Thesen inszeniert oder aber authentisch sind, kann der Zuschauer nur vermuten.
Ähnlich geht Moore mit historischem Archivmaterial um, wenn er diese aus dem historischen Zusammenhang reißt und mittels der Montagetechnik neu zusammensetzt. Ob Moore verschiedene Aufnahmen von Angriffskriegen der USA auf unterschiedliche Länder oder aber Bilder von gewalttätigen Entmachtungen US-fremder Regierungen und deren Folgen zusammenlegt (Timecode:00:24:48 - 00:27:06), um einen Zusammenhang zwischen den Gewalttaten Einzelner und der „Unterdrückungspolitik“ der amerikanischen US-Regierung herzustellen - Provokation ist für Moore ein Mittel, um politische Debatten heraufzubeschwören. Dass dabei historische Geschehnisse umgedeutet werden, um - nach Moores Überzeugung - großangelegte, allgemeingültige Wahrheiten zu enthüllen - diese Vorgehensweise scheint Moore als legitim zu erachten.
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1 Michael Moore: Bowling For Columbine. USA 2002. 115 Min.
2 Michel Foucault: Technologien der Wahrheit. In: Botschaften zur Macht. Hrsg. von Jan Engelmann. Stuttgart 1999. S. 133-139, hier: S.133
3 Ebd. S.137
- Arbeit zitieren
- Daniel Voigt (Autor:in), 2013, Dokumentarismus in Michael Moores Film „Bowling For Columbine“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229463
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