Seit mehr als einem halben Jahrzehnt ist das Motiv der Ost-Identität, der Ost-Nostalgie oder Ostalgie ein immer wieder gern aufgegriffenes Modethema der deutschen Medienlandschaft. So mancher Journalist fühlt sich als Entdecker des Phänomens, diagnostiziert, diskutiert und kommentiert es. Als bestimmende Indizien findet man die auf allen Ebenen stattfindende Rückkehr in altvertrautes aus DDR-Zeiten und die gleichzeitige Abkehr von den zuvor bejubelten westlichen Neuerungen. Die Diskurse über die Eigenheiten der Ostdeutschen und deren identitätsstiftende Eigenschaften verlieren dabei meist einen wichtigen Punkt aus dem Auge. Im außereuropäischen Kontext ist es längst keine neue Erkenntnis mehr, dass die Betonung der Differenz vor allem einen Zweck hat und stets damit einher geht: im Anderen, im Fremden, den Abgrenzungspunkt zu schaffen, um die eigene Identität zu festigen und zu bestätigen. 1 Hinter dem Interesse für das neue Selbstbewusstsein des Ostens aber bleibt oft zurück, dass nicht nur die Ostdeutschen im Westdeutschen einen Abgrenzungspunkt sehen, sondern dass auch umgekehrt die Distanzierung in einer allumfassenden und machtvollen Form geschah und geschieht. Die Ostdeutschen wurden in den Jahren nach der Wiedervereinigung von den Medien zu einer Form von Exoten stilisiert, was sicher zur Stärkung eines ostdeutschen Gemeinschaftsgefühls beitrug, andrerseits aber vor allem zur Bestätigung der westdeutschen Identität. Durch die Dominanz westdeutscher Journalisten und Journalistinnen in den Medien blieben westliche Werte konstante, unabänderliche Faktoren, Selbstverständlichkeiten, offiziell nicht hinterfragt und kaum einen Kommentar wert. Die Existenz dieses Gegenübers, der Ostdeutschen, bestärkt vor allem den Identifikationsmechanismus mit dem Eigenen, mit westdeutschen Normen und Werten.
Inhaltsverzeichnis
1. Wir und die Anderen
1.1. Fremde im eigenen Land
1.2. (Ost-West) Deutsche Stereotypen
2. Bausteine der Grenzziehung
2.1. Die Kategorie Gewalt
2.2. Modernität und Rückständigkeit
2.3. Die Macht der Kindheit
Schluß
Literatur
Seit mehr als einem halben Jahrzehnt ist das Motiv der Ost-Identität, der Ost-Nostalgie oder Ostalgie ein immer wieder gern aufgegriffenes Modethema der deutschen Medienlandschaft. So mancher Journalist fühlt sich als Entdecker des Phänomens, diagnostiziert, diskutiert und kommentiert es. Als bestimmende Indizien findet man die auf allen Ebenen stattfindende Rückkehr in altvertrautes aus DDR-Zeiten und die gleichzeitige Abkehr von den zuvor bejubelten westlichen Neuerungen.
Die Diskurse über die Eigenheiten der Ostdeutschen und deren identitätsstiftende Eigenschaften verlieren dabei meist einen wichtigen Punkt aus dem Auge. Im außereuropäischen Kontext ist es längst keine neue Erkenntnis mehr, dass die Betonung der Differenz vor allem einen Zweck hat und stets damit einher geht: im Anderen, im Fremden, den Abgrenzungspunkt zu schaffen, um die eigene Identität zu festigen und zu bestätigen.[1] Hinter dem Interesse für das neue Selbstbewusstsein des Ostens aber bleibt oft zurück, dass nicht nur die Ostdeutschen im Westdeutschen einen Abgrenzungspunkt sehen, sondern dass auch umgekehrt die Distanzierung in einer allumfassenden und machtvollen Form geschah und geschieht. Die Ostdeutschen wurden in den Jahren nach der Wiedervereinigung von den Medien zu einer Form von Exoten stilisiert, was sicher zur Stärkung eines ostdeutschen Gemeinschaftsgefühls beitrug, andrerseits aber vor allem zur Bestätigung der westdeutschen Identität. Durch die Dominanz westdeutscher Journalisten und Journalistinnen in den Medien blieben westliche Werte konstante, unabänderliche Faktoren, Selbstverständlichkeiten, offiziell nicht hinterfragt und kaum einen Kommentar wert. Die Existenz dieses Gegenübers, der Ostdeutschen, bestärkt vor allem den Identifikationsmechanismus mit dem Eigenen, mit westdeutschen Normen und Werten.
Meine Arbeit wird sich daher weniger mit der sogenannten Ost-Identität als mit einer neuen West-Identität befassen, die ihr Potential aus den Differenzen zwischen Ost und West schöpft.
Werte wie Religion, Geschichte, Kultur oder Zivilisation, in der ethnographischen Tradition für die Projektion von Selbst- und Fremdbildern unverzichtbar, werden im innerdeutschen Vereinigungsprozess ebenso oft bemüht. Durch sie werden die Anderen definiert und qualifiziert, nicht selten über eine Typisierung von kulturellem Süden oder Norden hinaus.
Im Folgenden möchte ich nachvollziehen, wo die Abgrenzungspunkte ganz massiv offensichtlich wurden und wie dabei Westdeutsche ihre eigene Identität bestärkt sehen.
Ich spreche dabei vor allem von Bildern, die die Medien übermitteln, die jedoch, wie Rolf Lindner betont, „einen integralen Bestandteil des Selbstbildes und der Selbstdarstellung“ bilden.[2] Ich möchte mich dabei auf ausgewählte Artikel aus dem Spiegel beziehen. Der Spiegel als wichtigstes deutsches Nachrichtenmagazin erscheint mir symptomatisch für die Abgrenzung, die sich - auf höherem oder niedrigerem Niveau - durch die gesamte deutsche Medienlandschaft zieht.
1. Wir und die Anderen
1.1. Fremde im eigenen Land
Das Fremde hatte schon immer und überall eine besondere Faszination. Das Fremde ist der Ort, in dem man Verbotenes, Phantastisches, Unmögliches, Unvorstellbares suchen und finden kann. Jede Gesellschaft hat ihre Fremden. Die Ethnologie, deren Gegenstand das Fremde ist, hat in den letzten Jahren Abstand genommen von der Vorstellung eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Vielmehr lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Prozess, der durch die Abgrenzung das Andere und Fremde schafft und es gleichzeitig eben deswegen zum Gegenstand des Interesses macht. So wurde deutlich, das das Fremd und das Selbst Projektionen sind, die sich immer und überall wiederholen. Deshalb kann das Fremde auch nicht bestimmte Merkmale oder Eigenschaften aufweisen[3].
In der Beschreibung wird die Fremde stets als ein Gegenentwurf zum Selbst konstruiert und zumeist als ein negativer. So schreibt Gottowik in seiner Arbeit über die Konstruktionen des Anderen: „...in jedem Fall wird das Fremde auf eine Weise zum Eigenen in Beziehung gesetzt, die auf ein Defizit auf Seiten der Beschriebenen verweist: Dem anderen wird Religion, Zivilisation oder eine historische Entwicklung abgesprochen.“[4]
Solchermaßen disqualifiziert wurde das Fremde auch aus der Gegenwart und aus einem Dialog ausgeschlossen. Gottowik faßt als Folge dieser ethnographischen Praxis zusammen: „Durch die Ausgrenzung des Anderen und seine Abdrängung an den Rand eines gemeinsamen raum-zeitlichen Kontinuums werden die Bedingungen für einen Dialog mit dem Anderen zugunsten eines ungestörten Diskurses über den Anderen in Abrede gestellt.“[5] Der oder das Fremde nimmt innerhalb eines ethnographischen Diskurses also nur den Platz des Beschriebenen ein. Selbstständigkeit wird ihm abgesprochen, seine eigene Wahrnehmung bleibt unberücksichtigt. Selbst wenn der oder das Andere an dem Diskurs theoretisch teilnehmen kann, so wird seine Qualifikation doch ganz nach den Maßstäben der Ethnographen beurteilt und praktisch in den herrschenden Diskurs mit einbezogen, mit ihm aber kaum ein Dialog eingegangen.
Bei Aussagen eines bestimmten Kulturkreises über „seine“ Fremde finden sich folglich weniger Informationen über die Beschriebenen, vielmehr lassen sich vor allem Rückschlüsse über das Selbstbild der beschreibenden Gesellschaft und Kultur ziehen, über seine Maßstäbe und seine Wertvorstellungen.
Der Diskurs innerhalb der eigenen Gesellschaft über die Anderen bestätigt also vor allem das Selbstbild der ethnographierenden Gesellschaft. Durch die Erfindung des Anderen wird die eigene Identität bestätigt und gestärkt. Sie bestimmt die Maßstäbe und verwissenschaftlicht dabei nicht selten die Vorurteile gegenüber anderen innerhalb des eigenen Wertesystems.
Als Beispiel dafür mag Gabriele Goettles hochgelobte und vielgelesene Sammlung von Reportagen stehen, die in der tageszeitung erschienen.[6] Der Band, obwohl Ermittlungen in Ost und West untertitelt, handelt im wesentlichen vom Osten. Die Texte zeichnen sich aus durch eine bestechende Poetik des Düsteren, des Hoffnungslosen, des Untergangs. Die Erwähnung jeder Einzelheit, die Beschreibung der belanglosesten Nebensächlichkeiten verleiht dem Alltag im Osten eine besondere Bedeutsamkeit, betont seine Exotik und Fremdheit, die bis ins letzte Detail festgehalten werden muss. Nach der Lektüre bleibt ein schwer zu definierendes Gefühl der Betroffenheit; geballt sind die Texte kaum zu ertragen.
Texte wie dieser sind Standard in westdeutschen Medien zu Beginn der neunziger Jahre. Wohl kaum eine größere Zeitung in den westlichen Bundesländern ließ es sich nehmen, Reportagen über den Osten, die fünf neuen Bundesländer, zu veröffentlichen und ihn dabei zu erklären. Umgekehrt war es äußerst ungewöhnlich, eine ähnliche Reportage über den Westen aus ostdeutscher Sicht zu lesen. Der Osten war das unbekannte Land, zu dem Erklärungsbedarf bestand, der Westen dagegen blieb Normalfall und Norm. Auch wenn diese Beiträge in Qualität und Inhalt sehr unterschiedlich sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Der Osten wird darin zu einer Art Sonderfall deklariert. Gleichzeitig wurde ihm dabei auch die Autonomie abgesprochen. Westliche Maßstäbe galten in seiner Beurteilung, er selbst kam kaum zu Wort.
Der Sozialpsychologe Wolfgang Ludwig Schneider sieht in dieser Flut von Erklärungen eine gängige Strategie des Menschen, den anderen, der sich den eigenen Erwartungen nicht anpasst, zu deuten. Gelte der abweichende Akteur dabei als der Vertreter einer sozialen Gruppe, so würden die Abweichungen generalisiert und auf die gesamte Gruppe rückprojiziert. Stehen sich in einem solchen Prozeß jeweils verschiedene Kollektive gegenüber, so Schneider, verfestige sich des Bild des Anderen noch, weil „die soziale Resonanz den eigenen Beobachtungsresultaten den Status der Objektivität verleiht“. Ähnliches sei innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Nachwendezeit zu beobachten. Die Dikurse fänden vor allem innerhalb der beiden Gruppen der Ost- und Westdeutschen statt, man erklärt sich und die Anderen jeweils in Abgrenzung zur anderen Gruppe. Dabei verfestigen sich die Bilder, ein tatsächlicher Austausch findet nur begrenzt statt. „Soziale Selbst- und Fremdkategorisierungen ... bilden so die Ausgangs- und Rückbildungsstufe für die Konstruktion kollektiver Identitäten,“ kommentiert Schneider.[7]
Schneider theoretisiert jedoch über ein idealtypisches Modell zweier gleichberechtigter Gruppen, die sich gegenüberstehen. Die Begegnung der Deutschen Ost und der Deutschen West fügt sich nur begrenzt in dieses Muster. Die Medien als ein Ost und West umfassender Machthaber über Meinungen setzten die Akzente und die Medien wiederum waren Ausdruck einer Meinungshoheit vor allem des Westens. Die Beschäftigung mit der sozialen und sozialpsychologischen, der geistigen und „mentalen“ Situation unter den Ostdeutschen etablierte sich zu einer Form der Minoritätenforschung, innerhalb der eine gewissermaßen offizielle Autorität die Normen der Westdeutschen als allgemeingültig setzte.
Undine Kramer analysiert in einem Aufsatz, wie sich diese Haltung auch in der Sprache ausdrückt, selbst wenn sie sich mit einem ganz anderem Thema befassen.[8] Die Betonung des Ostdeutschen gegenüber dem Deutschen, womit gemeinhin bundesrepublikanische Normen, Geschichte, Alltag bezeichnet wurde, sieht sie als „Mittel von Identifikation und Distanzierung“, die - wie sie sich vorsichtig ausdrückt - „die Gefahr der Ausprägung einen Stereotyps in sich“ bergen kann, „daß letztlich zu einer Nichtakzeptanz der Mitglieder der so markierten Gruppe führen kann.“ In der alltäglichen Flut von Informationen, Werbung und Unterhaltung, der sich zu entziehen fast unmöglich ist, findet so eine allmähliche Stigmatisierung statt, die sich - auch durch die Autorität, die eine gedruckte oder elektronisch übermittelte Botschaft haben kann - mehr und mehr verfestigt, statt sich aufzulösen.
1.2. (Ost-West) Deutsche Stereotypen
Edward Said kritisierte in seinem Buch Orientalismus die Praxis, einen Diskurs über den Anderen zu führen und vorzugeben, man könne dessen Ansichten von sich und der Welt angemessen repräsentieren. Said forderte dazu auf, „nach den historischen und sozialen Bedingungen zu fragen, unter denen solche Konstruktionen des Anderen entstehen.“[9]
Die Bundesrepublik Deutschland definierte während ihres Bestehens ihre Identität immer wieder in der Abgrenzung zu zwei Gegenübern. Ihre Verfassung sollte als deutliches Zeichen der Ablehnung von Nationalsozialismus, Diktatur und Rassenhaß verstanden werden.
Das zweite deutliche Gegenüber der Bundesrepublik war der sozialistische Block, vor allem die DDR. Die vollständige Anerkennung der DDR als rechtmäßiger und demokratischer Staat fiel selbst linken Kreisen, die sich für Elemente des Sozialismus begeistern konnten, schwer. Auch hier war vor allem die diktatorische Staatsform offizieller Abgrenzungspunkt. Beide Gegenüber waren jedoch nicht nur in räumlicher Ferne; durch die Vielzahl persönlicher Verflechtungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und mit dem anderen deutschen Staat waren sie Elemente des Eigenen. Gerade deshalb waren Auseinandersetzungen mit dem „Anderen“ stets heftig und emotionsgeladen, sie boten sie immer wieder den Abgrenzungspunkt, der Ort für Diskussionen und neue Standortbestimmungen war.
Ganz deutlich positionierte sich die Linke, ihre Maxime von Gewaltlosigkeit, Toleranz und Basisdemokratie fanden durch die Friedensbewegung der achtziger Jahre einen breiten Widerhall in der Bevölkerung. Dabei setzte man sich deutlich ab von dem, was man als Relikte nationalsozialistischer und totalitärer Vergangenheit begriff. Rechtsorientierte Organisationen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft bildeten den Abgrenzungspunkt.
[...]
[1] Bitterli, Urs 1976. Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. München. Buch, Hans-Christoph 1991. Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik deskolonialen Blicks. Frankfurt/M. Kohl, Karl-Heinz 1987. Abwehr und Verlangen: Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt/M.
[2] Lindner, Rolf 1995. Kulturtransfer. Zum Vehältnis von Alltags-, Medien- und Wissenschaftsstruktur. In Kulturen - Identitäten - Diskurse. Perspektiven Europäischer Ethnologie. Wolfgang Kaschuba (Hg.). Berlin. S. 31-44. S. 39.
[3] Kohl, Karl-Heinz 1993. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München. S. 17ff.
[4] Gottowik, Gottowik, Volker 1997. Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation. Berlin. S. 136f.
[5] Ebenda.
[6] Goettle, Gabriele 1994. Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West. Frankfurt/M.
[7] Schneider, Wolfgang Ludwig 1997. Ossis, Wessis, Besserwessis. Zur Kodierung der Ost/West-Differenz in der öffentlichen Kommuikation. In Soziale Welt 48 (1997), SS. 133-150. S. 134ff.
[8] 1996. Von Ossi-Nachweisen und Buschzulagen. Nachwendewörter oder bewußte Ettikettierungen? In Von Buschzulage und Ossi-Nachweis. Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Berlin. S. 55-69.
[9] Said, Edward 1981. Orientalismus. Frankfurt/M. & Berlin. S. 30.
- Citation du texte
- Christiane Reichart-Burikukiye (Auteur), 1998, Gewalt, Modernität und Pathologie. Stereotypen über Ostdeutsche im Prozess westdeutscher Identitätsbildung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22849
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