Max Goldt hat, bitte sehr, mehr Beachtung verdient!
Goldt - Jahrgang 58 - hat bereits 17 Bücher geschrieben (dazu noch vier Comics mit Stephan Katz und viele weitere Texte in Literaturmagazinen und Anthologien veröffentlicht) und als Sänger, Musiker und Sprecher in diversen Projekten per dato 39 Tonträger veröffentlicht. Goldt wird aber selten gehört. Goldt wird gelesen, wie die Gesamtauflage seiner Bücher beweist, die sich gemäss der Badischen Zeitung in den Hundertausendern bewegen soll. 1 Der Autor selbst scheint auf stetiger Lesereise zwischen Berlin und Bern zu sein: Omnipräsent für sein Publikum gastiert er in gut besuchten Kulturhäusern. Auflagestärke und Popularität sind zwar zwielichtige Argumente für literarische Qualität, aber sie zeigen, dass da ein Schriftsteller zu begeistern weiss.
Und dennoch. Soll Goldt Gesprächsthema sein, so schlägt mir - und leider häufiger von Literaturprofis als von Bücheramateuren - oft Unkenntnis entgegen: Goldt wer? Er ist, wie Roland Koberg ihn in der Berliner Zeitung so treffend bezeichnete, «der berühmte Unbekannte unter den deutschsprachigen Dichtern». 2 Dies dürfte keinesfalls am literarischen Niveau seiner Texte liegen. Er braucht sich, um nochmals Auflagenzahlen zu strapazieren, auch nicht hinter bestsellenden Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange und Benjamin Lebert zu verstecken. Und doch unterscheidet sich seine Arbeit in zweierlei Weise von diesen und anderen Autoren, die sich heutzutage mit dem Prädikat des literarischen Pops brüsten: Im kritischen Umgang mit dem Literaturbetrieb und im Grad der literarischen Reflexion.
Inhalt
1. Vorwort
2. Fragen und Thesen
3. Max Goldt und sein Kulturtagebuch
3.1 Biografisches
3.2 «Neue Frankfurter Schule»
3.3 Goldts «Titanic»-Kolumne
3.4 Kolumne oder Essay?
4. Goldt und die Popliteratur
4.1 Popliteratur – eine Annäherung
4.2 Die 78er-Generation
5. Popliterarische Verfahren
5.1 Erzählverfahren und Erzählprofile
5.1.1 Textematische Inkohärenz
5.1.2 Kolumnisten-Ich
5.1.3 Mediale Erzähltechniken
5.2 Humoristische Schreibweise
5.2.1 Sprachspiel
5.2.2 Runninggag
5.3 Intertextualität
5.3.1 Markenkult
5.3.2 Enzyklopädische Verfahren der Popkultur
5.4 Funktionalität der Teile
5.4.1 Unterhaltung statt Ideologie
5.4.2 Kulturkritik
5.4.3 Neokonservatives Bewusstsein
6. Popsprache
6.1 Sprachkritik
6.2 Lexik
6.2.1 Gute Wörter – schlechte Wörter
6.2.2 Neologismen
7. Literarisierung des Profanen
7.1 Alltagsbeobachtungen
7.3 Das literarische Archiv des Profanen
8. Zusammenfassung und Synthese
9. Schlussbemerkungen
10. Literatur
10.1 Quellen
10.2 Literatur
10.3 Zeitungsartikel
1. Vorwort
«Der ideale Autor wäre ja eine Mischung aus Ernst Jünger und Robert Walser, also der berühmte kalte Blick des ersten und die Kindgebliebenheit des anderen.»
Aus einem der seltenen Interviews mit Max Goldt; Berliner Zeitung (20. 1. 2001).
Max Goldt hat, bitte sehr, mehr Beachtung verdient!
Goldt – Jahrgang 58 – hat bereits 17 Bücher geschrieben (dazu noch vier Comics mit Stephan Katz und viele weitere Texte in Literaturmagazinen und Anthologien veröffentlicht) und als Sänger, Musiker und Sprecher in diversen Projekten per dato 39 Tonträger veröffentlicht. Goldt wird aber selten gehört. Goldt wird gelesen, wie die Gesamtauflage seiner Bücher beweist, die sich gemäss der Badischen Zeitung in den Hundertausendern bewegen soll.[1] Der Autor selbst scheint auf stetiger Lesereise zwischen Berlin und Bern zu sein: Omnipräsent für sein Publikum gastiert er in gut besuchten Kulturhäusern. Auflagestärke und Popularität sind zwar zwielichtige Argumente für literarische Qualität, aber sie zeigen, dass da ein Schriftsteller zu begeistern weiss.
Und dennoch. Soll Goldt Gesprächsthema sein, so schlägt mir – und leider häufiger von Literaturprofis als von Bücheramateuren – oft Unkenntnis entgegen: Goldt wer? Er ist, wie Roland Koberg ihn in der Berliner Zeitung so treffend bezeichnete, «der berühmte Unbekannte unter den deutschsprachigen Dichtern».[2] Dies dürfte keinesfalls am literarischen Niveau seiner Texte liegen. Er braucht sich, um nochmals Auflagenzahlen zu strapazieren, auch nicht hinter bestsellenden Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange und Benjamin Lebert zu verstecken. Und doch unterscheidet sich seine Arbeit in zweierlei Weise von diesen und anderen Autoren, die sich heutzutage mit dem Prädikat des literarischen Pops brüsten: Im kritischen Umgang mit dem Literaturbetrieb und im Grad der literarischen Reflexion.
Mit Goldts folglich nicht unproblematischem Verhältnis zur Popliteratur sei das Thema dieser Arbeit gegeben. Resümierend werde ich das Instrumentarium der popliterarischen Stilistik darstellen, um daran die Kolumnen von Max Goldt zu ‹messen›. Dabei steht die Frage im Zentrum, was literarischen Pop ausmacht und wo im Überblick der literarischen Traditionen seine Grenzen liegen. Weitere wichtige Themenkreise werden in diesem Zusammenhang die literarischen Verfahren und die literarische Sprache des Pop, die Beschaffenheit der Stoffe und die popliterarisch spezifische Darstellung von Alltag und Wirklichkeit sein. Mit textanalytischem, vergleichendem Vorgehen versuche ich schliesslich der Frage auf die Spur zu kommen, ob und gegebenenfalls wo Max Goldts Texte im literarischen Pop zu verorten sind. Am Anfang dieser Arbeit scheint mir aufgrund der zu behandelnden Fragestellungen ein kurzer Blick in die Biografie und auf den literarischen Hintergrund von Max Goldt angebracht und aufschlussreich. Bleibt schliesslich noch der Hinweis, dass ich mich allein auf die Kolumnentexte von Goldt beziehe[3] und die zahlreichen sogenannten ‹Nicht-Kolumnen›-Texte[4] nicht berücksichtigen werde.
Max Goldt hat, mit den Worten von Erhard Schütz, durchaus ein «interessiertes, kundiges, vor allem breites Publikum», den «Kontrolleuren des Literaturbetriebs»[5] steht er jedoch nach wie vor im blinden Fleck. Wo aber die Analyse seiner Texte betrieben wird, scheint alles Goldt, was glänzt und es wird oft von der hochwertigen Literarizität dieses Autors gesprochen. In Moritz Basslers «Der deutsche Pop-Roman» (2002) findet sich eine aufschlussreiche Analyse der archivarischen Technik in Goldts Kolumnen. Basslers Theorie gründet auf Boris Groys Modell einer Kulturökonomie («Über das Neue» [2002]; vgl. auch Fricke [2002]), welche die Wirkungsweise zwischen Profanem und kulturell Wertvollem aufzeigt. Johannes Ullmaiers Streifzug durch die Popliteratur «Von Acid nach Adlon und zurück» (2001) zeigt Goldt als prägenden, arrivierten Autor der Popästhetik, aber zugleich als Schriftsteller mit «Sonderstatus».[6] Erhard Schütz («Tucholskys Erben oder Wiener Wiederkehr?» [1995]) stellt Goldt und seine Kolumnentexte im feuilletonistischen Zeitalter in die Tradition von Alfred Polgar und Kurt Tucholsky. Im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur umreisst schliesslich Klaus Cäsar Zehrer in einem knappen Essay Leben und Werk Goldts – übrigens der einzige Lexikoneintrag, der über Goldt zu finden war. Das war’s dann auch schon, eine ziemlich dürftige Ausbeute. In anderen Überblickswerken und literaturwissenschaftlichen Anthologien zur Pop- und Gegenwartsliteratur kommt Max Goldt nicht vor (wie zum Beispiel Ernst [2001], Hartges u. a. [1996], Gross [2000], Köhler u. Moritz [1998]; aber auch Wittstock [1994], Winkels [1997] und Politycki [1998]).
Erneut erscheint ein Fragezeichen: Wie kann ein renommierter und mit Meriten bedachter Autor wie Max Goldt so von der Literaturwissenschaft vernachlässigt worden sein? Es handelt sich – man kann es nicht anders nennen – um ein Versäumnis.
Eine mögliche Erklärung geht jedoch dahin, dass Goldt die falschen Formen benutzt. Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Literatur und speziell mit Popliteratur dreht sich hauptsächlich um den Roman. Goldt bedient sich dagegen stets der kleinen Formen. Offensichtlich so klein, um durch das Netz der aktuellen deutschsprachigen Literaturdebatte zu fallen. Eine zweite Erklärung ist die, dass Max Goldt in sprichwörtlich medialer Abstinenz selber kaum am öffentlichen Literaturdiskurs teilnimmt. Die letzte, wohl zutreffendste Erklärung gründet darauf, dass Goldt literarisch zwischen Tisch und Bank fällt. Er ist eben ein Autor mit Sonderstatus, weder vollständig zur Spassgeneration der jungen Popliteratur gehörend, noch zu den ideologisierenden Mahnern der 68er-Generation. Dadurch steht er zwangsläufig an der Peripherie der Literaturdebatten, welche vom Feuilleton ausgehend in die Literaturwissenschaft getragen werden.
In diesem Sinne zumindest häufiger, wenn auch nicht sorgsamer befasst sich die Literaturkritik der Feuilletons mit dem Autor Max Goldt. Hier zeigt sich jedoch das Gegenteil: Es wurde zwar viel geschrieben, aber leider mit bisweilen magerer ‹Ausbeute›. Oft genug versuchen sich die JournalistInnen in ihren Literaturkritiken parodistisch und dabei kläglich scheiternd selbst im Konversationsgestus von Goldt. Einzig ergiebig scheinen hier die seltenen Interviews mit Max Goldt, in denen der Autor Einblick in sein Leben und Schaffen gewährt.
Was schliesslich hüben wie drüben, in der Literaturwissenschaft wie in der Literaturkritik fehlt, ist die wirklich ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Autor, dessen literarische Kunst halt in Teufels Namen mit Unterhaltung und Komik einhergeht.
2. Fragen und Thesen
Inwiefern sind Max Goldts Texte Popliteratur?
Zuerst einmal gilt es, trotz der überaus heterogenen Konzepte von literarischem Pop, festzuhalten, dass diese Literatur in erster Linie der Unterhaltung des Lesers dient und sich in lockerer Form am sogenannten Zeitgeist orientiert. Gleiches lässt sich grosso modo von Max Goldts Kolumnentexten sagen. Goldts Texte basieren über weite Stellen auf popliterarischen Verfahren. Wie ich zeigen werde, bedient er sich kreativ und gekonnt dieser Verfahren, und seine Texte überwinden schliesslich den diffusen Graben zwischen Populärkultur und Hochkultur.
Wie äussert sich diese Spannung zwischen populär- und hochkulturellem Anspruch in der Qualität von Max Goldts Literatur?
Goldt bedient sich einer Poetik, die aus dem Profanen schöpft, die aus dem Banalen und Alltäglichen einen ästhetischen und künstlerischen Mehrwert abpresst.
Die letzte zentrale Frage dieser Arbeit lautet: Wie äussert sich der Einfluss zeitgenössischer und alltäglicher ‹Zeichenvorräte› (nach popliterarischer Manier) in der Sprache von Max Goldt?
Sprache ist bei Goldt nicht nur das Mittel, sondern auch der Zweck der literarischen Reflexion. Das Spiel mit der Sprache und die Entlarvung der Begriffe stehen im Zentrum seiner Literatur.
Damit sind bereits auch die drei grundlegenden Thesen dieser Arbeit bestimmt. Im folgenden Thesenkatalog ordne ich diesen Hauptthesen (sie beziehen sich explizit auf die Kapitel 5, 6 und 7) weitere Annahmen zu, die es schliesslich zu überprüfen gilt.
Thesenkatalog
1. Max Goldt ist ein Popliterat. Er ist aber aufgrund der hohen Literarizität seiner Texte ein untypischer Vertreter dieser Literatur.
1.1 Die literarische Qualität von Goldts Texten hat gleichsam populärkulturellen wie auch hochkulturellen Anspruch.
1.2 In den Texten zeigt sich diese Ambivalenz in der Kritik an einerseits elitären Kulturverständnissen, wie andererseits an trivialem Kunsthandwerk (‹Doppelfrontstellung›).
1.3 Max Goldts Kulturkritik in seinen Kolumnentexten zeugt von einem neuen konservativen Bewusstsein (wie es sich in der Popliteratur als stilbildende Wertungshaltung verbreitet hat).
(→ siehe Kapitel 5)
2. Max Goldt schreibt über das Profane. Das Banale und Alltägliche bringt er in eine sprachlich anspruchsvolle und literarische Form.
2.1 Goldts Kolumnen begründen ein kulturelles Archiv des Alltäglichen. Goldt inventarisiert mit enzyklopädischen und assoziierenden Verfahren und übt damit Zeitkritik.
(→ siehe Kapitel 7)
3. Sprache ist bei Max Goldt nicht nur das Mittel, sondern auch der Zweck der literarischen Reflexion. Das Spiel mit der Sprache und die Entlarvung der Begriffe stehen im Zentrum seiner Literatur.
3.1 Max Goldt ist ein Sprachkritiker. Seine Kritik der Gesellschaft setzt bei der Kritik der Sprache an.
3.2 Damit verbunden ergibt sich die Wirkung von Goldts Texten zumeist aus der sprachlichen Ästhetik.
(→ siehe Kapitel 6)
3. Max Goldt und sein Kulturtagebuch
«Jetzt haben Sie wieder ihr verwirrendes Lächeln im Gesicht. Man weiss manchmal gar nicht, wie Sie das meinen, was sie sagen.»
«Na ja, man nennt es Humor.»
Unsicherheit nach Max Goldts Antwort, dass er an Lesungen am liebsten Stacheldraht zwischen Bühne und Zuschauersaal ziehen möchte; Interview in der Berliner Zeitung (20. 1. 2001).
Goldt ist im Hinblick auf seine Texte nicht nur ein Meister der Verfehlung, sondern er ist als Autor auch ein Meister der Verweigerung. In Anbetracht der « Geschlossenheit des Medienkreislaufs unter Literatur- und Popsignet»[7] ist Max Goldt wohl eine popliterarische Ausnahmeerscheinung, denn er verzichtet auf die heute gängigen Marketinginstrumente der multimedialen Literatur-PR. Goldt verweigert generell Fernsehauftritte – «das Medium der Zweit- und Drittbesten»[8] – und Interviews gewährt er nur sehr selten. Damit entspricht er kaum dem popliterarischen «Autorendarsteller»[9], der immer auch ein mediales Produkt ist. In einer Zeit, in der literarische Hypes medial geschaffen werden, in der Schriftsteller mit Popstarallüren retortenartig ins Rampenlicht gerückt werden, hat sich Goldt im Ausverkauf der Popliteratur allein durch das Gewicht seiner Texte eine überaus starke Reputation erarbeitet.
Literaturprodukte, die in erster Linie für den Absatz geschrieben werden, gehorchen marktorientierten Genrekonventionen: Möglichst in Romanform mit kurzen Sätzen und reichlich Dialogen, dazu in leicht verständlicher, aber flotter Sprache, damit eine straffe Handlung und Kurzweil garantiert sind. Diesbezüglich bewegt sich Max Goldt formal und thematisch auf anderen literarischen Bahnen, obwohl die Wirkungen seiner Texte auch in kurzweilige Unterhaltung münden.
Bei Goldt fehlt dazu als eine weitere Erscheinung des multimedialen Kulturkapitalismus die «popkulturindustrielle Synergie-Maximierung»[10], die darauf basiert, dass zum Buch auch gleich der Film, das Hörbuch und wenn möglich noch eine eigene TV-Show konzipiert werden. Dass Goldt aber kein ‹Synergie-Maximierer› ist, mag bisweilen nur auf den Aspekt der resoluten Kommerzialisierung zutreffen, denn schliesslich betreibt der Autor mit seinen Kolumnentexten eine mindestens vierfache Verwertungskette: Die originalen «Titanic»-Kolumnen sind von Zeit zu Zeit kompiliert in Buchform erschienen. Max Goldt trug seine Texte an zahlreichen Lesungen vor und einige Texte erschienen in gesprochener Version auf Tonträgern. Eine fünfte Verwertung ergibt sich ansatzweise in den Comicwitzen des Comicduos «Katz & Goldt», in die nachweislich so manche Idee aus den Kolumnentexten eingeflossen ist.
Man muss, um eine erste marktorientierte Einschätzung der Goldtschen Poetik zu geben, der folgenden These von Bodo Kirchhoff also widersprechen:
Wer [...] sich selbst ausloten will, muss dies im Schatten der Banalität tun oder sich dem Licht der Banalität aussetzen, den Medien. Tun wir das erste, wird es still um uns, tun wir das zweite, lassen wir Federn.[11]
Was auf der einen Seite für viele Autoren der seriösen E-Literatur (→ von der Öffentlichkeit vergessen zu werden) und auf der anderen Seite für die Vertreter der U-Literatur (→ durch mediale Konformität weich gespült zu werden) gilt, dem hat sich Goldt elegant entzogen: Seine Literatur ist erfolgreich, hat in – keineswegs banaler – populärkultureller Hinsicht eine grosse, treue Lesergemeinde, ohne sich hochkulturellen Ansprüchen zu verschliessen. Goldt braucht sich für den literarischen Erfolg in einer konsumgeleiteten Mediengesellschaft weder zu vermarkten noch zu inszenieren und wird dadurch auch nicht genötigt, in seinem Schreiben marktübliche Kompromisse einzugehen.
3.1 Biografisches
Max Goldt ist ein Literat des Publikums, wie seine häufigen Lesungen beweisen. Umso erstaunlicher, dass sich die Person Goldt trotz ihrer direkten Publikumsnähe bis anhin sehr erfolgreich der Öffentlichkeit entzogen hat. Das will heissen, dass trotz der Beliebtheit der Lesungen und trotz der zunehmenden Bekanntheit der Goldtschen Texte so gut wie nichts über den Menschen (und eben nicht Autoren) bekannt ist.
Die wenigen, bekannten Biografiesplitter über Max Goldt sollen hier kumuliert wiedergegeben werden. Geboren ist er am 15. September 1958 in Göttingen. Es kursiert (vornehmlich auf diversen Internetportals) das Gerücht, dass Max Goldt ein Künstlername und Matthias Ernst sein Taufname sei. 1977, nach dem Abitur, zog Goldt nach West-Berlin, wo er – mit einer Hamburger Unterbrechung – noch immer lebt. Er begann eine Ausbildung zum Fotografen und finanzierte seinen Lebensunterhalt mit Stadtrundfahrten für den Berliner Senat. Im Berliner Kleinverlag a-verbal erschien 1984 Goldts erstes Buch «Mein äusserst schwer erziehbarer schwuler Schwager aus der Schweiz». Zwischen 1987 und 1989 schrieb er Kolumnen im Berliner Fanzine «Ich und mein Staubsauger». Der literarische Durchbruch erfolgte ab 1989 mit einer monatlich erscheinenden Kolumne in der Satirezeitschrift «Titanic». Als «charmanter Anwalt des Bizarren»[12] schrieb er diese Kolumne bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1998 mit beachtlichem Erfolg.
Max Goldt ist auch Musiker. Seit 1979 spielte er in verschiedenen Bands und Musikprojekten. Als die singende und textende Hälfte des Elektro-Duos «Foyer des Arts» war er mit dem Song «Wissenswertes über Erlangen» massgeblich am Erfolg der Neuen Deutschen Welle beteiligt und sogar in der Hitparade. In Eigenregie bringt Goldt sogenannte ‹Sprechplatten› und Hörspiele seiner eigenen Texte heraus. Deren Anzahl ist inzwischen beachtlich, gepresst wird aber in Kleinstauflagen und aufgenommen im Homerecording-Verfahren. Zudem textet Goldt in Zusammenarbeit mit dem Witzzeichner Stephan Katz Comics («Katz & Goldt»). Als Herausgeber publizierte er 1999 das Literatur-Magazin «Der Rabe» (Nr. 57) zum Thema «Verweigerung» und 2000 mit dem «Titanic»-Zeichner Tex Rubinowitz den «Punk und Härte-Rabe» (Nr. 60).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Cartoon aus «Ich Ratten» von «Katz & Goldt»
(© Carlsen Verlag, GmbH / Katz & Goldt. Hamburg 2001)
Max Goldt ist seit 1988 freischaffender Künstler. Er heiratete 1989 die Performancekünstlerin Else Gabriel. 1997 erhielt Goldt den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und 1998 den Schönfeld Preis der Hamburgischen Kulturstiftung.[13]
Der Überblick zeigt, dass Goldts Schaffen überaus vielfältig ist, dass er es in verschiedenen Künsten und Kultursparten zu Ansehen gebracht hat, welches über den Insiderstatus hinaus reicht und dass er sich «vom avancierten Songtexter zum sogenannten Kultautor und schliesslich weithin arrivierten Schriftsteller»[14] transformiert hat. Die Synergien, die sich aus diesen verschiedenen Kunstgefässen bilden, werden jedoch vom Publikum selten ganzheitlich wahrgenommen. Das heisst, dass ein «Titanic»-Abonnent zwar mit Inbrunst und Fleiss Goldt-Kolumnen gelesen haben mag, ohne vom musikalischen Schaffen Goldts einen Deut zu wissen, oder dass ein «Foyer des Arts»-Popfan noch nie etwas von «Katz & Goldt»-Comics gehört hat. Allein schon auf Goldts Literatur bezogen spalten sich die Gemüter und damit auch die Konsumgruppen, was gemäss Ullmaier «sowohl die Lockerung wie auch den Fortbestand der Grenzen zwischen Pop-, Humor- und Literatur-Szene»[15] bewirkt.
3.2 «Neue Frankfurter Schule»
Dieses Kapitel soll sich mit eventuellen Ansätzen literarischer Traditionen befassen, denen Goldts Kolumnentexte nahe stehen. Es zeigt sich – wie auch im nächsten Kapitel, das sich mit gattungsspezifischen Eigenheiten seiner Texte befasst –, dass Goldts Kolumnen aus den Blickwinkeln der Hochliteratur, der Popliteratur und der Feuilletonliteratur betrachtet werden müssen.
Max Goldt ist ein (mittlerweile summa-cum-laude graduierter) Schüler der «Neuen Frankfurter Schule». Diese ‹Schule› – eine Anspielung auf die philosophische Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno – wurde durch die Satirezeitschrift «Pardon» (heute «Titanic») begründet. Mit einem satirischen Ansatz der Sprach- und Kulturkritik ging es Autoren wie Robert Gernhardt, Chlodwig Poth und Eckhard Henscheid darum, neue Sprachformen gegen die herrschenden Jargons zu entwickeln. Obwohl durchaus reflektiert, äusserte sich in der «Neuen Frankfurter Schule» der Umgang mit ‹etabliertem› Kulturgut und Autoritäten in humoristischer Respektlosigkeit. Die nachfolgende Generation im Zuge der «Neuen Frankfurter Schule» – Autoren wie Wiglaf Droste, Gerhard Henschel, Jürgen Roth und allen voran Max Goldt – findet sich immer noch polemisierend in Feuilletons und zwischen Buchdeckeln, jedoch hat sich bei diesen Schriftstellern die sozialkritische und politische Satire zunehmend auf die Bereiche des Alltags, der (Unterhaltungs-)Kultur und der Medien verlagert.
Die sarkastische Respektlosigkeit von «Pardon» und später «Titanic» hat in den 90er Jahren in banaler und ungleich zynischer Form Eingang in die Comedy-Formate des Privatfernsehens gefunden. Während aber Stefan Raab und Anke Engelke vor Millionenpublikum blödeln, hält sich die «Titanic» trotz Subkultur-Status und regelmässigen Gerichtsprozessen tapfer über Wasser. In ähnlicher Weise lässt sich das Verhältnis von Max Goldt zum Phänomen der neuen Popliteratur der 90er Jahre beschreiben. Tun einige Popliteraten alles für Popularität und produzieren mit kommerziellem Erfolg kurzatmige Literatur, schreibt Goldt zwar auch für eine grosse, aber sorgfältig definierte Leserschaft: «Ich wehre mich entschieden gegen die angestrebte Vermantawitzung oder Verbröselung meines lediglich minderheitswirksamen Wirkens!» (Okay Mutter, 54) Goldt stellt sich also gegen die Kommerzialisierung seiner Literatur, welche für ihn mit populärkultureller Verflachung einhergeht (hier dargestellt am banalen Schenkelklopfhumor von Manta-Witzen und Filmen, wie am Gag-Comic-Guru Brösel [«Werner»]). Wo ist aber dann Goldts Literatur einzureihen?
Selbst unter den zeitgenössischen kolumnierenden Autoren, die sich wie Goldt nicht von vornherein von deutschsprachiger Popliteratur vereinnahmen lassen, nimmt er eine Sonderstellung ein. Der Vergleich mit den in mancher Hinsicht durchaus vergleichbaren Schriftstellern Maxim Biller und Wiglaf Droste zeigt dies. Gegenüber Billers Kolumnentexten («Hundert Zeilen Hass» in «Tempo»; «Junges Deutschland» im «ZEIT-Magazin») fehlt in jenen von Goldt der Zwang zur Aktualität. Billers Urteile sind darob vernichtend, polarisierend schwarz oder weiss. Bei Goldt fehlen solche forschen Wertungen oder sie sind ironisch zu handhaben.[16] Auch der Vergleich mit dem renommierten Kolumnisten Wiglaf Droste (z.B. auf der «Wahrheitsseite» der «taz», aber auch in «Titanic» und «tip») zeigt denselben Unterschied. Goldt geht mit weniger Radikalität und sarkastischer Kraftmeierei ans Werk. Trotzdem unterhält er – entgegen Drostes Pointenverliebtheit – weit besser mit seinem Witz.
Die effektwirksame Radikalität des Urteils und der Bezug auf Aktualitätsgeschehen, das im Rahmen der Kolumne auch stets durch die Medienagenda vorgegeben ist, sind in Goldts Kolumnentexten also die Ausnahme, obwohl sie in der zeitgenössischen deutschsprachigen Produktion oft wichtige Zutaten dieser Textsorte sind. Sanfte Kritik statt barsche Polemik, Alltäglichkeit statt thematischer Aktualität zeichnen Goldts Kolumnen aus. Das erstaunt. Nicht zuletzt deswegen, weil Goldts Publikationsorgan, die Satirezeitschrift «Titanic», für radikale Satire berüchtigt ist.
Die familiäre Privatheit von Max Goldts Texten mit ihren onkelhaften Belehrungen (nicht umsonst nennt sich der Kolumnist «Onkel Max») scheint also nur wenig in der gegenwärtigen Tradition der beissend sarkastischen Feuilletonliteraten verwurzelt. Seine Literatur hat vielmehr etwas dezent Biedermeierliches. Dieser Vergleich mag waghalsig erscheinen, aber Goldts mikrologische Beobachtungen, die stets Urteile über Schicklichkeit, Geschmack und Anstand in sich bergen, finden sich programmatisch auch in der Literatur des Biedermeier. Der Rückzug aus dem umfassend Politischen in die privaten Erfahrungsbereiche und in die Kultur zeigt sich bei Goldt – nun anders als im Biedermeier – aber keineswegs als Bruch, sondern es entstehen Synergien dieser Bereiche: Kritik an der Gesellschaft, an der Kultur und an der Politik wird geübt, indem von einem Bereich spielerisch zu den anderen gewechselt wird. Erhard Schütz erkennt in diesem zuweilen moralischen Gebaren Goldts, seinem Chronikalismus und seiner Insistenz auf die mitteilbare Erfahrung schliesslich eine Wesensverwandtschaft zum ‹Kalendermann› Johann Peter Hebel, dem grossen Dichter kleiner Texte.[17]
Wesensverwandtschaften von Goldt lassen sich aber auch zu Autoren des gehobenen Feuilletons zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkennen, in direkter Linie zum grossen Wiener Feuilletonisten der Zwischenkriegszeit Alfred Polgar. Mit derselben Bescheidenheit, mit der Polgar seine literarische Genialität tiefstapelt, indem er über sich selbst schrieb, dass er zwar mannigfaltig studiert, aber nichts gelernt habe und dass in seinem Leben auch sonst nichts Markantes zu finden sei, in dieser Bescheidenheit umreisst auch Goldt in ironischer Genügsamkeit seinen Werdegang: «[Ich] beschritt die klassische Langweilerlaufbahn: Pubertät, Abitur, Berlin, Titanic.» (Quitten, 126) Mit der sprachlichen Behutsamkeit Alfred Polgars analysiert auch Max Goldt mit unbestechlich kritischem Blick, aber nur milde anprangerndem Ton die alltäglichen Blüten des Zeitgeists.
DILEMMA. Der Dichter ist mit der Wahrheit verheiratet, er hat aber daneben eine zärtliche Beziehung zur Phantasie. War er bei der Freundin, kehrt er doppelt liebevoll zur Legitimen heim.
So betrügt er beide.[18]
Die Allegorie aus Polgars «Handbuch des Kritikers» zeigt in ihrer ausgeprägt sprachlichen Sorgfalt den Kern seiner und eben auch Max Goldts Literatur: Die Ambivalenz von Belehrung und literarisch anspruchsvoller Unterhaltung, von sozusagen didaktischem Amusement.
Diese kurze (literaturgeschichtlich orientierte) Situierung von Max Goldt zeigt, dass er sich kaum von einer literarischen Tradition oder Schule vereinnahmen lässt: Weder von der schreibenden ‹Fungeneration› in der neuen Popliteratur der 90er Jahre, noch von der ‹Sozialguerilla› der 70er-Popliteratur, auch nicht von der zeitgenössischen Feuilleton-Szene, schon gar nicht von der literarischen Comedy-Fraktion und auch kaum vom (politisch-sozialkritischen) Satiriker-Stand. Aus all diesen Schubladen bedient sich Goldt zwar querbeet, aber seine Kolumnentexte sind – das Stichwort für das nächste Kapitel – in keiner Weise gattungsspezifisch.
3.3 Goldts «Titanic»-Kolumne
Zwischen 1989 und 1998 erschienen in der Satirezeitschrift «Titanic» unter dem Namen «Onkel Max Tagebuch»[19] (zwischenzeitlich aber auch unter «Diese Kolumne hat vorübergehend keinen Namen», «Manfred Meyer berichtet aus Stuttgart» und «Informationen für Erwachsene») 108 Kolumnentexte von Max Goldt. In ‹Best-of›-Anthologien wurden diese Texte häufig in überarbeiteter Fassung periodisch zu Büchern kompiliert.
Goldts «Longue-durée-Projekt»[20] zeichnet sich unter anderem durch die «Erweiterung des Textbegriffs zu integrierten Text-Bild-Ensembles»[21] aus. Als ein Kennzeichen popliterarischer Ästhetik wurden von Goldt ausgesuchte oder selbst fotografierte Bilder samt zugehöriger Bildlegende in die Kolumnen integriert, wobei sie jedoch «eine höchstens metaphysische Beziehung zum Text haben» (Okay Mutter, 81). Diese Text-Bild-Integration findet meist also nur auf formaler Ebene statt, da es zu Goldts Verfahren der ‹Komik durch absurde Kontrastierung› (siehe Kap.: 5.1.1 Textematische Inkohärenz) gehört, dass sich die drei Informationsgefässe Text – Bild – Bildlegende weder gegenseitig kommentieren noch – in ausserordentlichen Fällen – überhaupt aufeinander Bezug nehmen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In: Titanic 19 (1997) H. 217. S. 44.
An diesem Bild zeigt sich die in dieser Radikalität nur selten auftretende Diskrepanz zwischen Bild und Bildlegende. Der Bild-Text-Kontrast bedingt dabei – je nach der ‹Humorreizschwelle› des Rezipienten – ein Leseerlebnis zwischen Belustigung durch absurde Komik und Verwirrung durch unvereinbare Bild- und Textinformationen.
In den Kolumnentexten selber werden häufig ähnliche Verfahren der Kontrastierung angewendet. Goldts «Lach- und Sachgeschichten»[22] haben meist einen inkohärenten Aufbau. Das Fehlen einer textematisch logischen Sukzession wird bei Goldt also nicht nur in Kauf genommen, sondern sie ist ein kennzeichnendes Verfahren in seinen Kolumnen. Diese scheinbare Beliebigkeit und Bruchstückhaftigkeit des Erzählens findet in der Tagebuchstruktur der Texte ihre adäquate Form. In Goldts Kolumnen geht es vermeintlich absichtslos, locker plaudernd, ja geradezu ‹privat› zu. Das zeigt sich auch in der Wahl der Kolumnenthemen, die – oft ‹pseudobiografisch› verankert – keinerlei gesellschaftlich-politischer Aktualitätsagenda oder textimmanenter Themenverträglichkeit gehorcht. Entgegen dem heutigen popliterarischen Marketing sind damit Goldts Texte nach eigenem Bekunden weder markt- noch leserorientiert: «Nein, ich habe das seltene Privileg, dass ich mir beim Schreiben keinen Leser vorstelle. Ich denke immer nur an den Text.»[23]
3.4 Kolumne oder Essay?
Interessantes zeigt der Blick auf gattungsspezifische Merkmale von Max Goldts Kolumnen. Dabei ist die Zuordnung zu einer bestimmten Textsorte problematisch.
Die neuen Popliteraten arbeiten häufig auch als Kultur- und Lifestylejournalisten. Neben dem Buch ist das Feuilleton ein wichtiges Medium dieser Literatur. Maxim Biller deutet diesen Zusammenhang zwischen Popliteratur (bzw. postmoderner Literatur) und Feuilletonjournalismus, indem er beidem die Qualität der benutzerfreundlichen Textverständlichkeit zugrunde legt: «Denn als Reporter, der auch literarisch arbeiten will, lernt man vom Journalismus [...], dass es einen Sinn hat, so zu schreiben, dass der Leser einen begreift.»[24]
Es zeigen sich in Goldts «Titanic»-Kolumnen durchaus Anzeichen, sie der publizistisch-literarischen Textsorte Feuilleton zuzuordnen. Bassler spricht vom «hochidiosynkratischen Feuilleton-Stil»[25] Max Goldts und verweist damit auf den berüchtigten ‹Feuilletonismus› als eine besondere Art des Sehens und Betrachtens. Goldts Kolumnen als eine Form des Feuilletons zu bezeichnen, ist sicherlich bezüglich der zentralen Unterhaltungsfunktion, der subjektiven, persönlichen Form und der stilistisch ausgefeilten Sprache zutreffend. Dennoch fällt es schwer, Goldts Texte dieser hybriden Textsorte zuzuordnen. Wie der Autor selbst mit Recht zu bedenken gibt, ist das Feuilleton in der Regel in einem journalistischen Zusammenhang zu betrachten. Die «Titanic» sei dagegen streng genommen keine journalistische Publikation – «Im Gegenteil: Man macht sich dort über Journalismus lustig».[26] Auch wenn diese Aussage in dieser Form zu salopp formuliert ist, lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass in der «Titanic» aufgrund der stetigen satirischen Verfremdung von einem journalistischen Wahrheitsanspruch nicht die Rede sein kann, auch wenn aufgegriffene Themen durchaus der Aktualitätsagenda entsprechen und politischen wie gesellschaftskritischen Zündstoff bieten. Um aber nochmals auf das Feuilleton zurück zu kommen: Es bleibt einzuwenden, dass es sich bei diesem definitionsgemäss nicht um eine journalistische, sondern vielmehr um eine literarisch-publizistische Textsorte handelt. So betrachtet erfüllen Goldts Texte – in langjähriger Serie im «Titanic» publiziert – durchaus den Tatbestand, ein ‹Feuilleton› zu sein.
Ähnliche Zweifel lässt der Autor an der rigorosen Bezeichnung seiner Texte als Kolumnen aufkommen, indem er beteuert, dass ihn die «Ironie am Wickel»[27] hatte, als er sie so bezeichnete:
Kolumnen sind ja etwas Furchtbares! [...] Ich habe auch gehört, dass Kolumnisten ihre Themen oft mit der Redaktion absprechen – ein Verfahren, das dem Sinn und der Tradition des Mediums Kolumne zuwiderläuft.[28]
Die Kolumne ist per definitionem leicht konsumierbare Kurzprosa in der Form eines veröffentlichten Meinungsbeitrags ausserhalb der redaktionellen Einflussnahme und erscheint regelmässig an einer bestimmten Stelle einer Zeitschrift. So weit, so zutreffend für Goldts Texte. Redaktionelle Zurechtweisungen erlebte Goldt nach eigenem Bekunden äusserst selten. Auch pflastern im Sinne des Meinungsbeitrags Wertungen und Urteile seine Texte. Trotzdem scheint die Bezeichnung ‹Kolumne› aber nur bedingt passend. Zum einen gehen Goldts Texte weit über den Anspruch des publizistisch-literarischen Meinungsbeitrags hinaus, indem auch hochkarätige Formen literarischer Ästhetik und poetisch-fiktionaler Erzählweisen Anwendung finden. Zum anderen ist die Bezeichnung ‹Kolumne› irreführend, da sie in erster Linie nicht als literarische Textsorte, sondern als ‹Gefäss› für einen regelmässig erscheinenden Text in einem Printmedium zu verstehen ist. Erscheint der Text an einem anderen Ort – wie im Falle von Goldts «Titanic»-Kolumnen als Textsammlungen in Buchform –, wird die Bezeichnung ‹Kolumne› streng genommen hinfällig.
In Hervorhebung der literarischen Komponente gegenüber der publizistischen Prägung seiner Texte spricht Max Goldt selber von «humoristischen Prosadichtungen»[29] oder von «Aufsätzen».[30] Dahinter steckt gattungsspezifizierendes Kalkül, denn er bezieht sich damit auf den Essay, bezeichnet sich selbst als Essayist oder – ohne die «nobeltuende Schleimsprache» – als «Aufsatzschreiber».[31] Wahrlich spricht einiges für den Essay, denn das Charakteristische dieser Textsorte zeigt sich auch in Goldts Texten. So zeichnet sich ein Essay durch folgende Merkmale aus:[32]
- stilistisch anspruchsvoller Prosatext
- Beliebigkeit der Themenwahl
- unsystematische Erarbeitung des Stoffs
- formale Geschlossenheit trotz gedanklich-strukturaler Offenheit
(zur bewusst reizvoll künstlerischen Spannungserzeugung)
- assoziative Gedankenführung und Abschweifung
- absichtsvoller Subjektivismus
- Wechsel der Perspektiven
- Offenheit des Fragens und Suchens
- Methode der Erkenntnisvermittlung: Denken als Prozess, als
Experiment
Ich werde diese Liste nicht weiter erörtern, da die genannten Aspekte spätere Gegenstände dieser Arbeit sein werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Max Goldts Texte, die sich unter der Bezeichnung ‹Kolumne› ‹eingebürgert› haben, aus literaturwissenschaftlicher Sicht zutreffender der Textsorte Essay zugeordnet werden. Dennoch werde ich die Bezeichnung ‹Kolumne› aus folgenden zwei Gründen in dieser Lizentiatsarbeit beibehalten: Zum Ersten erfüllen die Texte durch ihre auf Serialität ausgelegte Produktion und mit den zur Erkennung dienenden Formattiteln («Onkel Max Tagebuch» et al.) grundlegende formale Bedingungen der Kolumne. Zum Zweiten hat sich diese Bezeichnung für Goldts Texte festgesetzt: Seine Textsammlungen werden als ‹Kolumnen› angepriesen und in Rezensionen sowie in der Fachliteratur wird auch diese Bezeichnung verwendet. Literaturwissenschaftlich ist meine Entscheidung gewiss nicht optimal, aber sie dient der Verständlichkeit.
[...]
[1] Vgl. Schulte (1998), S. 1.
[2] Koberg (2001), S. 6.
[3] Vornehmlich aus der Kompilation: Goldt, Max: Okay Mutter, ich mache die
Aschenbechergymnastik in der Mittagsmaschine. Beste »Kolumnen« & beste Nicht-
»Kolumnen« in einem Band. Frankfurt a. M. 2001.
[4] Diese Kurztexte, Dialogskizzen und «Dramolette», wie Goldt sie nennt, finden sich in
der Kompilation: Goldt, Max: Die Aschenbechergymnastik. Beste Nicht-»Kolumnen«.
Zürich 2000.
[5] Schütz (1995), S. 103.
[6] Ullmaier (2001), S. 90.
[7] Ullmaier (2001), S. 24.
[8] Prill (1994), S. 8.
[9] Winkels (1998), S. 11.
[10] Ullmaier (2001), S. 16.
[11] Kirchhoff (1994), S. 213.
[12] Ullmaier (2001), S. 90.
[13] Vgl. die Angaben zu Leben und Werk von Max Goldt: Zehrer (1998), S. 1ff.
[14] Ullmaier (2001), S. 89.
[15] Ebd., S. 93.
[16] Eine der seltenen Ausnahmen zeigt sich in Goldts vernichtendem Urteil der
Kolumne «Hundert Zeilen Hass» des eben genannten Kollegen Biller: «Wie
vollkommen idiotisch!» (Okay Mutter, 101)
[17] Vgl. Schütz (1995), S. 119.
[18] Polgar (1980), S. 114.
[19] Zur Herkunft des Titels von Max Goldts Kolumne siehe: Quitten, 179.
[20] Bassler (2002), S. 21.
[21] Ullmaier (2001), S. 18.
[22] Fricke (2001), S. 13.
[23] Koberg (2001), S. 6.
[24] Biller (1993), S. 287.
[25] Bassler (2002), S. 17.
[26] Goldt (1998), S. 179.
[27] Goldt (1998), S. 180.
[28] Ebd.
[29] Maisch (1999), S. 10.
[30] Hier z.B. Goldt (1998), S. 183.
[31] Ebd.
[32] Quellen: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. überarb. Aufl. Hg. v.
Günther u. Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990. / Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen
Literaturgeschichte. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Berlin u. New York 1997.
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