[...] Zu diesem Vergleich werden die industriellen Spitzenverbände
Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika herangezogen. Es soll
dargestellt werden, inwieweit der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und
die National Association of Manufacturers (NAM) in ihrer organisatorischen Struktur
und in den von ihnen angewandten Methoden der Interessenvermittlung den
erarbeiteten Kriterien entsprechen. Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in folgende Abschnitte:
Zunächst soll anhand der Entwicklung der Konzepte von Korporatismus und
Pluralismus ein theoretischer Bezugsrahmen bereitgestellt werden. Nach einem
chronologischen Abriss der theoriegeschichtlichen Evolution vom Pluralismus hin zum
Korporatismus werden beide Theorien miteinander verglichen.
Im nächsten Teil wird ein Überblick über das deutsche und das amerikanische
Verbandswesen gegeben. Es wird dabei auch überprüft, inwieweit die zu
vergleichenden Interessenverbände über eine Exklusivstellung auf dem industriellen
Sektor verfügen.
Darauf folgt eine kurze Übersicht über die historische Entwicklung von BDI und NAM,
die verdeutlichen soll, wie das heutige Selbstverständnis beider Verbände schon durch
ihre Wurzeln geprägt wird.
Im empirischen Teil der Studie wird die Organisation von BDI und NAM auf ihre
Struktur und auf die interne Willensbildung hin analysiert. Dabei wird auch auf die
Rolle des Mittelstandes im jeweiligen Verband und auf die Dienstleistungen, die
Mitgliedern angeboten werden, eingegangen. Die Ergebnisse werden miteinander
verglichen und in Bezug zur Theorie gesetzt.
Einblicke in die praktische Arbeit der beiden Verbände soll der letzte Hauptteil der
Arbeit gewähren. Hier werden an konkreten Beispielen die Methoden der Einbringung
in den politischen Prozess untersucht. Für den BDI werden dazu die Konzertierte Aktion
von 1967 bis 1977 und das Bündnis für Arbeit von 1998 bis 2003 herangezogen. Für die
NAM soll näher beleuchtet werden, auf welche Weise sie sich für die Gewährung der
Trade Promotion Authority eingesetzt hat und was sie mit dem Business Industry
Political Action Committee verbindet. Auch hier soll die Theorie auf die praktischen
Ergebnisse bezogen und gezeigt werden, wie korporatistisch oder pluralistisch der BDI
und die NAM sind.
Eine zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse erfolgt schließlich im Fazit.
Inhalt
I. Einleitung und Fragestellung
II. Die zugrunde liegenden Theorien: Pluralismus und Korporatismus
1. Die Pluralismustheorie
2. Kritik an der Pluralismustheorie
2.1. Machtverteilung im Pluralismus
2.2. Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“
3. Die Korporatismustheorie
4. Zusammenfassung: Das Verhältnis zwischen Pluralismus und Korporatismus
III. Das Verbandswesen in Deutschland und den USA
1. Das Verbandswesen in Deutschland
1.1. Gesamtzahl der Verbände
1.2. Verbände im Wirtschaftsbereich
1.3. Exklusivität des BDI
2. Das Verbandswesen in den USA
2.1. Gesamtzahl der Verbände
2.2. Verbände im Wirtschaftsbereich
2.3. Exklusivität der NAM
3. Vergleich
IV. Historische Entwicklung von BDI und NAM
1. Historische Entwicklung des BDI
2. Historische Entwicklung der NAM
3. Vergleich
V. Organisatorische Struktur von BDI und NAM
1. Organisatorische Struktur des BDI
1.1. Struktureller Aufbau
1.2. Niederlassungen und Personal
1.3. Organe
1.3.1. Mitgliederversammlung
1.3.2. Präsidium
1.3.3. Vorstand
1.3.4. „Vizepräsidium“
1.3.5. Präsident
1.3.6. Geschäftsführung
1.3.7. Ausschüsse und Arbeitskreise
1.4. Mittelständische Unternehmen im BDI
1.5. Dienstleistungen für Mitglieder
1.6. Verdeckte Einzelmitgliedschaften im BDI
2. Organisatorische Struktur der NAM
2.1. Struktureller Aufbau
2.2. Niederlassungen und Personal
2.3. Mitgliedsverbände in der NAM
2.4. Organe
2.4.1. General Membership Meeting
2.4.2. Board of Directors
2.4.3. Executive Committee
2.4.4. Finance Committe
2.4.5. President and CEO
2.4.6. Policy Committees
2.5. Mittelständische Unternehmen in der NAM
2.6. Dienstleistungen für Mitglieder
3. Zusammenfassung
VI. Methoden der politischen Einbringung
1. BDI: Privilegierte Einbringung in Gremien
1.1. Die Konzertierte Aktion
1.2. Das Bündnis für Arbeit
1.3. Gründe für das Scheitern korporatistischer Institutionen in Deutschland
2. NAM: Direktes Lobbying
2.1. Trade Promotion Authority
2.2. Die NAM und BIPAC
3. Zusammenfassung
VII. Fazit
VIII. Anhang
1. Satzung des BDI (Stand: 26. November 2001)
2. Constitution of the NAM (Stand: 31. Oktober 2001)
IX. Literaturverzeichnis
1. Bücher und Artikel
2. Websites
3. E-Mails und Telefonate
I. Einleitung und Fragestellung
Kanzlerkandidat Gerhard Schröder machte das Bündnis für Arbeit 1998 zum zentralen Thema im Bundestagswahlkampf. Im „Zusammenwirken von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften“ sollte – zum Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft – im Rahmen einer „korporativen Politik … dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen“.[1] Viele Erwartungen, die an das Bündnis gestellt worden waren, sind letztendlich nur Programm geblieben und am 4. März 2003 war auf der Titelseite der Financial Times Deutschland zu lesen: „Schröder erklärt Bündnis für tot.“[2]
In der von jeher als „pluralistisch“ bezeichneten Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika wäre ein solches Bündnis von Spitzenverbänden und Regierung völlig undenkbar. Interessengruppen wenden hier ausgefeilte Techniken wie grass roots lobbying oder die Bildung von Political Action Committees an, um einzelne Politiker in ihrem ganz eigennützigen Interesse zu beeinflussen.
Schon seit den frühen Jahren der Bundesrepublik treten in Deutschland korporatistische Einrichtungen in zyklischen Abständen auf. Angesichts der politischen Relevanz, die solchen Institutionen immer wieder beigemessen wird, stellt sich die Frage nach der theoretischen und praktischen Bedeutung von „Korporatismus“.
Stellt er das Gegenstück zu „Pluralismus“ dar?
In dieser Arbeit sollen die Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der Interessenvermittlung im politischen Prozess untersucht werden. Dies geschieht zum einen anhand eines Vergleichs der beiden theoretischen Konzepte. Zum anderen soll an konkreten Beispielen analysiert werden, in welchem Ausmaß sich die theoretischen Definitionsmerkmale von „korporatistischen“ und „pluralistischen“ Verbänden in der Praxis wieder finden. Zu diesem Vergleich werden die industriellen Spitzenverbände Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika herangezogen. Es soll dargestellt werden, inwieweit der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die National Association of Manufacturers (NAM) in ihrer organisatorischen Struktur und in den von ihnen angewandten Methoden der Interessenvermittlung den erarbeiteten Kriterien entsprechen.
Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in folgende Abschnitte:
Zunächst soll anhand der Entwicklung der Konzepte von Korporatismus und Pluralismus ein theoretischer Bezugsrahmen bereitgestellt werden. Nach einem chronologischen Abriss der theoriegeschichtlichen Evolution vom Pluralismus hin zum Korporatismus werden beide Theorien miteinander verglichen.
Im nächsten Teil wird ein Überblick über das deutsche und das amerikanische Verbandswesen gegeben. Es wird dabei auch überprüft, inwieweit die zu vergleichenden Interessenverbände über eine Exklusivstellung auf dem industriellen Sektor verfügen.
Darauf folgt eine kurze Übersicht über die historische Entwicklung von BDI und NAM, die verdeutlichen soll, wie das heutige Selbstverständnis beider Verbände schon durch ihre Wurzeln geprägt wird.
Im empirischen Teil der Studie wird die Organisation von BDI und NAM auf ihre Struktur und auf die interne Willensbildung hin analysiert. Dabei wird auch auf die Rolle des Mittelstandes im jeweiligen Verband und auf die Dienstleistungen, die Mitgliedern angeboten werden, eingegangen. Die Ergebnisse werden miteinander verglichen und in Bezug zur Theorie gesetzt.
Einblicke in die praktische Arbeit der beiden Verbände soll der letzte Hauptteil der Arbeit gewähren. Hier werden an konkreten Beispielen die Methoden der Einbringung in den politischen Prozess untersucht. Für den BDI werden dazu die Konzertierte Aktion von 1967 bis 1977 und das Bündnis für Arbeit von 1998 bis 2003 herangezogen. Für die NAM soll näher beleuchtet werden, auf welche Weise sie sich für die Gewährung der Trade Promotion Authority eingesetzt hat und was sie mit dem Business Industry Political Action Committee verbindet. Auch hier soll die Theorie auf die praktischen Ergebnisse bezogen und gezeigt werden, wie korporatistisch oder pluralistisch der BDI und die NAM sind.
Eine zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse erfolgt schließlich im Fazit.
II. Die zugrunde liegenden Theorien: Pluralismus und Korporatismus
Bisher existiert in den Sozialwissenschaften keine umfassende Gesellschaftstheorie. Aus diesem Grund gibt es auch keine einheitliche Theorie der organisierten Interessen. Vielmehr wurden im Laufe der Zeit mehrere Ansätze zur Bestimmung der Rolle von Interessengruppen im politischen System erarbeitet, die teilweise aufeinander aufbauen, die Materie aber dennoch aus den verschiedensten wissenschaftlichen Blickwinkeln betrachten. Pluralismus und Korporatismus stellen hierbei die beiden Hauptströmungen dar. Im Folgenden soll ein theoriegeschichtlicher Abriss über einige wichtige Ansätze sowie über konkurrierende und harmonierende Aspekte von Pluralismus und Korporatismus gegeben werden. Entscheidend ist hierbei, dass „beide Theorien … als Reaktion auf die Entwicklung organisierter Interessen zu verstehen“ sind.[3]
Beide Theorien haben sowohl eine normative als auch eine deskriptive Seite. Aus politisch-philosophischer Sicht sollen Normen für das Verhältnis zwischen Staat als politisch-territoriale Organisation der Gesellschaft und den die Gesellschaft konstituierenden Individuen mit ihren verschiedenen Ambitionen gesetzt werden. Die empirisch deskriptive Seite untersucht dagegen die Organisation und die Vermittlung von Interessen sowie deren Einfluss auf politische Prozesse.[4]
1. Die Pluralismustheorie
Der Franzose Alexis de Tocqueville stellt in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ bereits 1835 aus empirischer Sicht die Umsetzung des Gruppengedankens in den Vereinigten Staaten sowie deren positive Effekte dar: „Amerika ist das Land, in dem man aus dem Verein am meisten Nutzen gezogen hat“[5] und „in dem man von der uneingeschränkten Freiheit der Vereinigung für politische Absichten täglich Gebrauch macht“.[6] Als positive Effekte der freien Vereine hebt de Tocqueville hervor, dass sie dem Einzelnen Verhaltens- und Orientierungsmuster bieten sowie das Gemeinwesen festigen.
Die Konflikttheorie des (Gruppen-)Pluralismus hat ihre Wurzeln seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in der amerikanischen und englischen, aber auch in der deutschen Diskussion über die Rolle von gesellschaftlichen Interessen – organisiert in Verbänden und sonstigen Vereinigungen – gegenüber dem Staat. Der deutsche Jurist und Gesellschaftswissenschaftler Otto von Gierke beschrieb als erster das Verbandswesen als unverzichtbaren Bestandteil von Gesellschaft und Politik. Als Reaktion auf den monarchischen, von oben geeinten deutschen Obrigkeitsstaat verfolgt er im ausgehenden 19. Jahrhundert das Ziel, „den Staat in die bürgerliche Gesellschaft zurückzuverlegen“.[7] Gierke sieht die Aufgabe der „Genossenschaften“ darin, die „große und umfassende Staatseinheit mit einer tätigen bürgerlichen Freiheit, mit der Selbstverwaltung zu vereinen“.[8]
In den USA war es Arthur F. Bentley, der bereits 1908 in seinem Buch „The Process of Government – A Study of Social Pressures“ ein concept of groups, also einen gruppentheoretischen Erklärungsansatz der Gesellschaft erarbeitete. Nach Bentleys Theorie ist es ein natürliches Phänomen, dass Menschen sich in Gruppen organisieren, wobei keine Gruppe den Anspruch darauf erheben darf, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln. Da das Gemeinwohl im Sinne aller Individuen einer Gesellschaft ist, kann darüber laut Bentley schon per definitionem keine Diskussion entstehen. Die Gesellschaft ist für ihn also lediglich die Summe rivalisierender Gruppen, die ihre partikularen Interessen durchzusetzen versuchen: „The society itself is nothing other than the complex of groups that compose it“.[9] Das Gemeinwohl ergibt sich laut Bentley erst als Ergebnis dieses bargainings, also des Aushandelns organisierter Interessen.
Radikale Pluralisten wie Harold J. Laski gingen so weit, Staat und Gesellschaft nur als einen Marktplatz für Interessen zu sehen. Dabei wird der Staat nicht mehr als übergeordnete, sondern als gleichwertige Organisation unter vielen betrachtet: „The state is but one of the groups to which the individual belongs.“[10]
43 Jahre nach der Theorie Arthur F. Bentleys veröffentlichte 1951 David B. Truman sein Werk „The Governmental Process“. Der Sozialpsychologe und Anthropologe greift darin wesentliche Argumente Bentleys wieder auf und liefert außerdem eine umfassende Erklärung des amerikanischen Regierungssystems unter Miteinbeziehung der Interessengruppen. Truman stellt die Interessengruppen aus einer positiven Sichtweise als grundlegenden Bestandteil des demokratischen Prozesses dar. Auch Truman sieht die Gesellschaft als ein Konglomerat verschiedener Gruppen. Er unterscheidet dabei zwischen latenten Gruppen, deren Mitglieder gemeinsame Ansichten teilen und die sich organisieren könnten, wenn es erforderlich sei, und organisierten Gruppen, die ihre Interessen in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen zum Ausdruck bringen.[11] Eine wichtige Rolle spielt in dieser Theorie der Zusammenhang zwischen Geschichtsprozess und der Bildung von Interessengruppen. Laut Truman bilden sich neue Gruppen vor allem dann, wenn etablierte Muster des gesellschaftlichen Zusammenspiels gestört werden. Er geht in seiner Theorie sogar soweit, die Rate der Gruppenneubildungen als möglichen Index für die Stabilität einer Gesellschaft und die Anzahl der Gruppen als Index für ihre Komplexität zu bezeichnen.[12]
David Trumans Arbeit führte zu einer Wiederbelebung der Gruppentheorie in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Trumans Thesen wurden zum Beispiel auf empirische Weise unterstützt von Earl Latham, der mit seiner Fallstudie „The Group Basis of Politics“ von 1952 zu dem Schluss gelangte, dass die für Individuen wichtigsten Werte in einer modernen Gesellschaft durch Interessengruppen realisiert werden.[13]
2. Kritik an der Pluralismustheorie
2.1. Machtverteilung im Pluralismus
Galt in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts und zu Beginn des Kalten Krieges Pluralismus als positiver Gegenentwurf zu totalitären Regimes, so wurde in den 1960er Jahren Kritik an der Dogmatisierung und der Reduzierung der Theorie auf ein Modell des Gruppenkonflikts laut.[14] Zwischen den theoretischen Konzepten und der Realität der Interessengruppen wurden nun Widersprüche erkennbar. Einer der Haupteinwände bezog sich auf die empirisch feststellbare „sozial und ökonomisch bedingte ungleiche Machtverteilung und die daraus folgenden Probleme für die pluralismustheoretischen Ansätze“.[15] Oft wurde dem Konzept des Pluralismus vorgeworfen, die Frage der Macht nicht zu beantworten oder sie sogar zu verschleiern.
Henry S. Kariel kritisierte 1961 den „Ausverkauf staatlicher Souveränität“[16], während Elmer E. Schattschneider im Jahre 1960 die Grundannahme monierte, dass alle Interessen repräsentiert werden.[17] Claus Offe wandte ein, dass nicht alle Interessen konfliktfähig seien, da viele Gruppierungen nicht über die materiellen Ressourcen oder das gesellschaftlich relevante Verweigerungspotential, wie zum Beispiel Streiks, verfügten, um in den Entscheidungsprozessen Bedeutung zu erlangen.[18] Unter anderem von Wolf-Dieter Narr und Frieder Naschold wurde auf das Problem des unterschiedlichen Zugangs zu Entscheidungsarenen und der daraus resultierenden ungleichen Machtverteilung für Interessengruppen verwiesen: Es werden „zu viele Entscheidungen (strukturell u.a.) vorweggenommen. Auf der anderen Seite kommen offensichtlich ganze Schichten … zu kurz.“[19]
2.2. Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“
Die von empirisch feststellbarer sozio-ökonomischer Ungleichheit ausgehende Kritik wurde im Rahmen der Rational-Choice-Theorie von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson auch auf logische Weise unterstützt. Dieser Ansatz, der auch als Neue Politische Ökonomie bezeichnet wird, stellt eine „ganz extreme Form der vergleichenden und abstrahierenden … Erforschung der Interessenverbände“ dar.[20] In Olsons 1965 veröffentlichtem Werk „The Logic of Collective Action“ geht er vom Menschenbild des rational man aus, also von der Annahme, dass jedes Individuum in jeder Situation bestrebt ist, seinen eigenen Nutzen nach Gesichtspunkten der subjektiven Vernunft zu maximieren.[21] Dieser Verhaltensgrundsatz wirft allerdings das Problem des Trittbrettfahrers (free rider) auf: Für einen rein rational handelnden Menschen gibt es scheinbar keinen Grund, zum Beispiel einer Gewerkschaft, die für höhere Löhne kämpft, beizutreten, da Lohnerhöhungen immer ein kollektives und damit unteilbares Gut sind. Das heißt, auch Nichtmitglieder profitieren von den Aktivitäten einer Gewerkschaft, allerdings, ohne einen Beitrag zu zahlen, was für den Einzelnen vernünftiger ist. Damit weist Olson nach, dass die Organisierbarkeit mit zunehmender Gruppengröße und Allgemeinheit des Interesses abnimmt.[22]
Nach Olson hängt der Antrieb für den Einzelnen, einer Gruppe beizutreten, von der Erfüllung mindestens einer der folgenden Bedingungen ab:[23]
(a) Eine Gruppe muss relativ klein sein, so dass der Beitritt eines Einzelnen die Macht der Gruppe merklich steigert.
(b) Das Individuum ist eine mächtige Person, deren Beitritt die Macht auch einer größeren Gruppe steigern würde.
(c) Es besteht die Möglichkeit, eine Mitgliedschaft zu erzwingen.
(d) Die kollektiven Güter werden mit dem Angebot selektiver Güter gekoppelt.
Im Gegensatz zu kollektiven sind selektive Güter den Mitgliedern vorbehalten. Zu den selektiven Gütern kann man laut Olson neben materiellen, wie beispielsweise verbilligten Rechtschutzversicherungen oder dem kostenlosen Abonnement einer Verbandszeitschrift, auch immaterielle Güter zählen. Sie können sozialer oder psychologischer Natur sein. Ein typisches selektives soziales Gut, das von den meisten Gruppen bereitgestellt wird, wäre beispielsweise die Möglichkeit, freundschaftliche Beziehungen mit Gleichgesinnten zu entwickeln. Zu den psychologischen Faktoren gehört unter anderem die Beruhigung eines schlechten Gewissens, das entstehen würde, wenn man zum Beispiel einer Umweltschutzorganisation nicht beitreten würde. Dieser Effekt kann für den einzelnen durchaus subjektiv den Wert der Beitragszahlungen übertreffen.
Einige von Olsons spezielleren Thesen gelten mittlerweile als widerlegt. Größere Gruppen sind zum Beispiel nicht zwangsläufig schlechter organisierbar als kleinere. Von wesentlicher Bedeutung sind hierbei auch Faktoren wie Eigenschaften des fraglichen Kollektivgutes oder Erreichbarkeit und Kontrollmöglichkeit der Gruppenmitglieder.[24] Im Wesentlichen gilt jedoch Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ auch heute noch als eine der wichtigsten ökonomischen Theorien der Politik und als Grundlage der modernen Verbändeforschung.
3. Die Korporatismustheorie
Ab Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts kam es vor allem in Deutschland zu einem Perspektivenwechsel in der Verbändeforschung. Beziehungen zwischen Verbänden und Staat wurden nun nicht mehr als Einbahnstraßen gesehen, in denen die Politik lediglich auf den Druck der diversen Verbände reagiert. Vielmehr wurden nun geordnete und dauerhafte Beziehungen beschrieben, in denen es nicht nur den „Druck der Verbände“ sondern auch das „Ziehen des Staates“ gibt.[25] Dem Staat kommt dabei eine aktive Rolle als Entscheidungs- und Machtzentrum zu. Dieser Paradigmenwechsel basierte auf der Beobachtung, dass Verbände in starkem Maße unmittelbar in Entscheidungsprozesse eingebunden sind und den Staat durch ihre Beteiligung an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben entlasten.[26] Eine wichtige Rolle spielen Verbände bei der Versorgung des Staates mit Fachinformationen, die als Grundlage für politische Entscheidungen dienen. Es kommt dadurch zwangsläufig zu einer zunehmenden Institutionalisierung der Kontakte, die durch eine Senkung der Transaktionskosten, wie sie beispielsweise für die Kontaktaufnahme entstehen, begründet ist.[27] Aus dieser Verschränkung von Verbänden und Staat entstehen spezifische Austauschbeziehungen, die durch Aushandlung gekennzeichnet sind. Ist diese Aushandlung erfolgreich, so resultieren die Beziehungen in einer Konzertierung, also einem abgestimmten Handeln der beteiligten Interessengruppen und des Staates. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die gegenseitige Information sowie die Kontrollierbarkeit der gegenseitigen Verpflichtungen, „die von den beteiligten Akteuren ein hohes Maß an Rationalität, Überzeugungskraft, gegenseitiges Vertrauen und Bereitschaft zum Konsens erfordern“.[28] Für den demokratischen Korporatismus ist zudem charakteristisch, dass die verschiedenen Interessengruppen nicht nur in die Erfüllung staatlicher Aufgaben und Leistungen[29], sondern auch in die Formulierung politischer Ziele und die Entscheidungen darüber eingebunden werden.
Die intensive Beschäftigung der Politikwissenschaft mit der Theorie des Korporatismus wurde im Jahre 1974 von drei voneinander unabhängigen Arbeiten ausgelöst. Philippe C. Schmitter veröffentlichte in der Fachzeitschrift „The Review of Politics“ seinen Aufsatz „Still the Century of Corporatism?“.[30] Einen zweiten wichtigen Ansatz lieferte Gerhard Lehmbruch mit seinem Aufsatz „Consociational Democracy, Class Conflict, and the New Corporatism“.[31] Auch Ray Pahl und Jack Winkler trugen mit ihrer Arbeit „The Coming Corporatism“[32] zur ersten Welle der Korporatismusforschung bei. Schmitter und Lehmbruch veröffentlichten 1979 gemeinsam das Werk „Trends Toward Corporatist Intermediation“[33], wobei Schmitter eher strukturelle, Lehmbruch eher prozessuale Gesichtspunkte in den Vordergrund stellt.[34]
Philippe C. Schmitter verwies mit seinem Aufsatz darauf, dass auch in modernen kapitalistischen Demokratien ständestaatliche Elemente weiterhin eine bedeutende Rolle bei der Vermittlung zwischen ökonomischen Interessen und politischen Entscheidungen spielen können. Er charakterisiert Korporatismus dadurch, dass nur eine begrenzte Anzahl von Verbänden an politischen Entscheidungen beteiligt wird, diese intern hierarchisch strukturiert und deren Mitglieder zwangsweise organisiert sind. Weiterhin sind laut Schmitter die Verbände funktional differenziert und verhalten sich gegenüber anderen Verbänden nicht kompetitiv. Im Austausch dafür, dass der Staat die verbandliche Führungsauslese und die Interessenartikulation zumindest teilweise kontrolliert, sieht Schmitter die Verbände als „recognised or licensed, if not created by the state“.[35] Oft sind sie außerdem mit einem Repräsentationsmonopol ausgestattet.[36]
Dagegen sieht Gerhard Lehmbruch Korporatismus vor allem als eine Art der Politikabstimmung. Grundlage sind dabei die gestiegenen und komplexen Aufgaben des aktiven modernen Staates. Für das Funktionieren einer korporatistischen Demokratie müssen laut Lehmbruch folgende Bedingungen erfüllt sein: Die Produzenteninteressen sind in Dachverbänden organisiert, Parteien und Verbände sind miteinander vernetzt und die Beziehungen zwischen Verbänden und Regierungen sind institutionalisiert. Hierbei nehmen die Gewerkschaften eine Schlüsselposition ein und die Regierung trägt die Verantwortung für die ausgehandelten Ergebnisse. Für das Zustandekommen korporatistischer Vereinbarungen müssen zudem noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Regierungen müssen über ausreichende Mehrheiten und fiskalpolitische Handlungsspielräume verfügen, um den Verbänden etwas anbieten zu können. Andererseits müssen die Verbandsführungen in ausreichendem Maße in der Lage sein, ihre Mitglieder zu verpflichten, um die getroffenen Vereinbarungen verbandsintern durchsetzen und nach außen hin einhalten zu können. Dieser Zusammenhang wird auch als neo-korporatistische Austauschhypothese bezeichnet.
Auch die nachfolgende und bis heute andauernde wissenschaftliche Diskussion um das Konzept des Korporatismus wurde maßgeblich durch die Arbeiten Schmitters und Lehmbruchs bestimmt.
Ursprünglich bezog sich die Korporatismusforschung auf die gegenseitigen wirtschaftspolitischen Abstimmungs- und Konzertierungsprozesse zwischen Regierungen und Groß- und Dachverbänden. Die korporatistischen Strukturen kapitalistischer Gesellschaften wurden bei diesem makroökonomischen Ansatz vor allem durch die drei Akteure Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände geprägt. Bald wurde das Prinzip allerdings mit jeder Form von Beziehung zwischen Staat und Verbänden verbunden. Die in sektoralen und regionalen Kontexten sowie einzelnen Politikfeldern analysierten Politikmuster werden dabei oft als Meso-Korporatismus bezeichnet. Beispiele solcher Analysen finden sich in den Bereichen Gesundheitspolitik oder technische Normung.[37]
4. Zusammenfassung: Das Verhältnis zwischen Pluralismus und Korporatismus
Der Pionier der Korporatismustheorie, Philippe C. Schmitter, war ursprünglich der Auffassung, dass Korporatismus den Pluralismus als alternatives System ablöst. Der Macht der Verbände in Deutschland wurde vor allem in den 1980er Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt. Bald schon regte sich allerdings auch Widerspruch zu Schmitters Standpunkt. Dies hatte eine lange wissenschaftliche Diskussion, die so genannte „Pluralismus-versus-Korporatismus-Debatte“[38], zur Folge, die hauptsächlich in Deutschland geführt wurde. Die Diskussion erklärt sich dadurch, dass beide Theorien dasselbe Erkenntnisobjekt aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Schwerpunkten untersuchen. Pluralismus betont die Input-Faktoren der politischen Interessenvermittlung. Es wird beschrieben, wie verschiedene pressure groups am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess partizipieren, die Betrachtung findet also „bottom up“[39] statt. Im Korporatismus kommt die Perspektive des „top down“[40] hinzu und rückt in den Vordergrund. Betrachtet werden hier vor allem die Output-Funktionen, also die Reaktionen des modernen aktiven Staates auf die Interessenverbände mit besonderer Betonung auf Ordnungs- und Leistungsaspekte.
Folgende Definitionen Gerhard Lehmbruchs sollen die beiden Konzepte noch einmal gegenüber stellen. Unter Pluralismus versteht Lehmbruch
„… the predominance of ‘pressure group’ politics and the lobbying of government agencies and parliament by fragmented and competing interest groups, and by a low degree of effective participation by unions in policy-making.“[41]
Seine Definition von Korporatismus lautet folgendermaßen:
„Corporatism is more than a peculiar pattern of articulation of interests. Rather, it is an institutionalized pattern of policy-formation in which large interest organizations cooperate with each other and with public authorities not only in the articulation (or even ‘intermediation’) of interests, but – in its developed forms – in the ‘authoritative allocation of values’ and in the implementation of such policies. It is precisely because of the intimate mutual penetration of state bureaucracies and large interest organizations that the traditional concept of ‘interest representation’ becomes quite inappropriate for a theoretical understanding of corporatism.“[42]
Idealtypisch kann man die Definitionsmerkmale von Pluralismus und Korporatismus wie folgt gegenüberstellen:
Tabelle 1: Pluralismus und Korporatismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Werner Reutter, Korporatismustheorien, 1991, S. 73.
In den letzten Jahren scheint die Pluralismus-versus-Korporatismus-Debatte zu einem Abschluss gekommen zu sein. Die meisten Politologen sind sich heute darin einig, dass Korporatismus eher eine Variante des Pluralismus ist als eine Alternative dazu. Ulrich von Alemann formuliert dies so: „Korporatismus war kein neues oder altes Zeitalter …, sondern nur eine Strategie, ein Instrument, manchmal auch nur eine kleine politische Taktik.“[43]
Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, ist es von zentraler Bedeutung, die Konzepte Pluralismus und Korporatismus sowie deren historische Entwicklung vor dem Hintergrund des jeweiligen politischen Systems zu sehen. Beide Konzepte treten in modernen kapitalistischen Demokratien vermischt auf. Ein rein pluralistisches oder rein korporatistisches politisches System wird in der Realität kaum zu finden sein. Obige Tabelle stellt also auf keinen Fall eine „pluralistische Demokratie“ einer „korporatistischen“ gegenüber, sondern soll lediglich zwei abstrahierte Idealtypen der Interessenvermittlung vergleichen.
Das Verhältnis zwischen beiden Theorien lässt sich am besten folgendermaßen zusammenfassen: „Pluralismus ist die übergreifende Kategorie, Korporatismus nur ein möglicher, durch historisch bestimmte Konstellationen begünstigter Unterfall.“[44] Zu beachten ist hierbei, dass beiden Theorien der deskriptive Ursprung gemeinsam ist. So begründet Georg Pfeifer die Dominanz des pluralistischen Ansatzes in den Vereinigten Staaten durch seinen „Beitrag zur deskriptiven Aufarbeitung des politischen Systems insbesondere der USA der Nachkriegszeit“.[45]
Unabhängig davon, ob Korporatismus eine Alternative oder eine Variante des Pluralismus darstellt, ist das Verhältnis von Verbänden und Staat in den USA eher pluralistischer, in Deutschland eher korporatistischer Natur. Es ist somit kennzeichnend, dass die Erforschung des Pluralismus hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika und England, die des Korporatismus hingegen in Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, beheimatet ist. Auf diesen Sachverhalt soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.
III. Das Verbandswesen in Deutschland und den USA
1. Das Verbandswesen in Deutschland
1.1. Gesamtzahl der Verbände
Da es weder eine zentrale Erfassungsstelle für Verbände noch ein Forschungsinstitut gibt, das alle Daten systematisch sammelt, ist eine genaue Bezifferung des deutschen Verbandswesen schwierig. Jürgen Weber schätzt die Zahl der bundesweit tätigen Verbände im Jahre 1980 bereits auf etwa 5.000.[46] Allerdings sind damit alle Arten von Verbänden gemeint, vom Deutschen Skatverband bis zu etwa 700 Wohlfahrtsverbänden. Aus politologischer Sicht sind jedoch nur die Organisationen von Interesse, deren „Tätigkeit dauerhaft darauf ausgerichtet ist, den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen“.[47] Ulrich von Alemann schätzt deren Zahl im Jahre 1996 auf über 2.500.[48] Als Richtlinie kann in jedem Fall auch die so genannte „Lobbyliste“[49] des Bundestages gelten, in der sich alle Bundesverbände registrieren müssen, die zu offiziellen Anhörungen in Ausschüssen und Ministerien geladen werden wollen. Zum 1. Juli 2003 waren in dieser Liste 1.797 Verbände aufgeführt.[50]
1.2. Verbände im Wirtschaftsbereich
Im internationalen Vergleich weisen die Wirtschafts- und Arbeitsinteressen in der Bundesrepublik einen relativ hohen Organisationsgrad auf und sind sehr zentralisiert.[51] Die Seite der Unternehmerschaft gliedert sich arbeitsteilig in die drei Gruppen Arbeitgeberverbände, Kammerbereich und Wirtschaftsverbände, die jeweils zentral unter einem Dachverband organisiert sind.
Die Arbeitgeberverbände sind für die Interessenvertretung im sozialpolitischen Bereich zuständig und in erster Linie Tarifpartner der Gewerkschaften. Die Mitgliedschaft für Unternehmen ist freiwillig. Der Organisationsgrad in den über 1.000 Einzelverbänden liegt bei etwa 80 Prozent.[52] Den Dachverband bildet die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA), die von 52 Branchenverbänden und 15 Landesvereinigungen getragen wird.[53]
Die in 83 Bezirke gegliederten Industrie- und Handelskammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Mitgliedschaft ist für alle Gewerbetreibenden mit Ausnahme des Handwerks, das über eine ähnliche Kammerorganisation verfügt, verpflichtend.[54] Die Kammern erfüllen vor allem vom Staat delegierte Aufgaben, wie zum Beispiel im Bereich der beruflichen Bildung. Den Dachverband, in dem sich die einzelnen Industrie- und Handelskammern auf freiwilliger Basis zusammenschließen, bildet der Deutsche Industrie- und Handelstag e.V. (DIHT).[55]
Die Wirtschaftsverbände der einzelnen Branchen und Wirtschaftszweige vertreten die wirtschaftspolitischen Interessen ihrer freiwilligen Mitglieder. Sie sind regional und fachlich vielfältig gegliedert. Zu den Dachverbänden zählen beispielsweise der Bundesverband Deutscher Banken oder der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels. Der BDI ragt hier in seiner Bedeutung heraus, da er den gesamten industriellen Sektor in sich vereinigt.
Die obersten Dachverbände der Deutschen Wirtschaft schließen sich wiederum gemeinsam mit BDA und DIHT im Gemeinschaftsausschuss der Deutschen gewerblichen Wirtschaft zusammen.
Aufgrund dieser Dreiteilung ist der Großteil der Unternehmen in Deutschland verbandsmäßig mehrfach organisiert. Neben die Zwangsmitgliedschaft in der jeweiligen Kammer tritt in aller Regel die freiwillige Mitgliedschaft im jeweiligen wirtschaftspolitischen Fachverband und im jeweils zuständigen Arbeitgeberverband.
1.3. Exklusivität des BDI
Das deutsche Verbandssystem im Wirtschaftsbereich ist insgesamt sehr hierarchisch gegliedert, die Einzelverbände münden gemeinhin in einen Dachverband. Rivalitäten zwischen den herausragenden Dachverbänden BDI, BDA und DIHT werden weitestgehend durch die vereinbarte Arbeitsteilung vermieden. Durch diese komplementäre Repräsentation der wirtschaftspolitischen Interessen konkurrieren die drei Verbände auch nicht um Mitglieder. Bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben droht dem BDI eher Konkurrenz von den eigenen Mitgliedsverbänden: Auch sie beanspruchen die Vertretung aller wirtschaftspolitischen Interessen ihrer Mitglieder auf Bundesebene.[56] Die gesamtindustriellen Interessen nimmt jedoch vor allem der BDI wahr, da nur er die Legitimation dazu besitzt. Auch wenn es hier gelegentlich Widersprüche zwischen BDI und einzelnen Mitgliedern gibt, ist die generelle Übereinstimmung in gesamtindustriellen Fragen durch die Möglichkeit des Austritts von Branchenverbänden gesichert. Der BDI ist somit zur intensiven Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedern gezwungen. Die Mitgliedsverbände konzentrieren sich hauptsächlich auf branchenspezifische Interessen, vertreten aber auch die gemeinsam ausgearbeiteten Positionen des BDI, wodurch ein „mitunter beträchtlicher Synergieeffekt“ entstehen kann.[57]
2. Das Verbandswesen in den USA
2.1. Gesamtzahl der Verbände
Eine Gesamtzahl ist auch für die Organisationen im US-amerikanischen Verbandswesen schwer zu nennen. Als Grundlage für Schätzungen dienen vor allem Adressbücher wie die „Encyclopedia of Associations“. Martin Sebaldt rechnet die Zahl der US-amerikanischen Interessenorganisationen für das Jahr 1995 auf 24.000 hoch.[58]
2.2. Verbände im Wirtschaftsbereich
Genau wie in allen anderen Bereichen sind Interessenorganisationen auch im Bereich der Wirtschaft in den USA sehr zahlreich, vielfältig und dabei äußerst fragmentiert. Allumfassende, zentralistische und mächtige Unternehmensverbände gibt es nicht.[59] Großunternehmen vertreten ihre Interessen daher in der Regel selbständig, das heißt durch eigene Büros oder über beauftragte Anwaltskanzleien, nach außen, auch wenn sie einem Verband angeschlossen sind. Unternehmen jeder Größenordnung schließen sich meist in spezialisierten trade associations zusammen. Diese sind jedoch sehr autonom und gehören nicht einer Verbandshierarchie mit Spitzenverbänden, wie sie in Europa oder Japan existieren, an.[60]
Neben diese funktionale Fragmentierung tritt eine geographische Zersplitterung. Auf regionaler und lokaler Stufe existieren ebenfalls trade associations, die überwiegend sehr selbständig agieren. Sie konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf die lokale und einzelstaatliche Ebene, können im Einzelfall aber auch versuchen, die Politik auf Bundesebene zu beeinflussen, um spezifische regionale Interessen durchzusetzen. Regionale Verbände treten also in Konkurrenz zu nationalen Organisationen, denen sie unter Umständen selbst angehören können.[61]
Anders als zum Beispiel in europäischen Ländern sind in den Vereinigten Staaten aufgrund der fehlenden Verbandshierarchie auch die so genannten umbrella organizations[62] auf Direktmitglieder angewiesen. Nicht die Mitgliedsverbände, sondern Einzelfirmen tragen diese Organisationen, wodurch der Begriff „Spitzenverbände“ hier im eigentlichen Sinn nicht zutrifft. Die treffendere Bezeichnung wäre „große nationale Wirtschaftsverbände mit umfassendem Interessenvertretungsanspruch“.[63]
Die zweite wichtige nationale Großorganisation neben der NAM, die ausschließlich für den industriellen Sektor zuständig ist, stellt die U.S. Chamber of Commerce dar. In ihr sind rund 2.700 lokale, regionale und einzelstaatliche Chambers of Commerce, 1.300 Unternehmensverbände und 84.000 Einzelunternehmen zusammengeschlossen.[64] Die Mitgliedschaft in den amerikanischen Handelskammern ist wie in allen Unternehmensverbänden freiwillig. Die U.S. Chamber of Commerce beschäftigt über 500 hauptamtliche Mitarbeiter in Washington. Da in der Organisation Unternehmen aus allen Wirtschaftsbereichen vertreten sind, sind auch die Interessen ihrer Klientel sehr heterogen und neutralisieren sich oft gegenseitig.[65]
Als dritte übergreifende Organisation ist der Business Roundtable zu nennen, dem etwa 200 Großunternehmen angehören. Der Verband wurde vor allem aus der Überzeugung heraus gegründet, dass bekannte Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft durch direktes Lobbying mehr Einfluss auf Regierungsbeamte und Abgeordnete nehmen können als die hauptberuflichen Mitarbeiter eines Verbandes mit vielen kleinen Mitgliedsfirmen.[66]
2.3. Exklusivität der NAM
Aufgrund der Zersplitterung der Verbandslandschaft in den Vereinigten Staaten gibt es in jedem Bereich der Interessenvertretung mehrere Gruppen, die um dieselbe Klientel wetteifern. Hauptkonkurrent der NAM auf dem Gebiet der übergreifenden nationalen Wirtschaftsverbände ist die U.S. Chamber of Commerce. Da viele Firmen traditionell sowohl in der NAM als auch in der Chamber Mitglied sind, unternahmen die beiden Organisationen 1976 den Versuch zu fusionieren. Hauptgrund für das Scheitern dieses Versuchs war die berechtigte Angst vieler NAM-Funktionäre, die geplante Fusion würde sich am Ende eher als eine Übernahme der NAM durch die Chamber herausstellen.[67]
Da eine Verbandshierarchie in den USA nicht existiert, droht der NAM zusätzlich Konkurrenz von branchenspezifischen, aber auch von regionalen trade associations. Diese können oft gezielter auf die Interessen der wesentlich kleineren und homogeneren Klientel eingehen. Da die Willensbildung in der NAM oft nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners funktioniert, sehen sich viele Unternehmen in einem spezialisierten Verband aus der eigenen Branche oder Region besser repräsentiert.[68]
[...]
[1] Gerhard Schröder, Das Bündnis als Fokus unserer Politik der neuen Mitte, in Hans-Jürgen Arlt / Sabine Nehls (Hrsg.), Bündnis für Arbeit, 1999, S. 50.
[2] Financial Times Deutschland, 4.3.2003.
[3] Georg Pfeifer, Eurolobbyismus, 1995, S. 22.
[4] Vgl. Klaus Schubert, Pluralismus versus Korporatismus, in Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze, (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, 1995, S. 407f.
[5] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1987, S. 216.
[6] Ebenda, S. 604.
[7] Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1, 1954, S. 654.
[8] Ebenda, S. 833.
[9] Arthur F. Bentley, The Process of Government, 1949, S. 222.
[10] Harold J. Laski, Studies in the Problem of Sovereignty 1917, S. 11. Diese Position wurde allerdings von Laski in seinen späteren Werken wieder zurückgenommen.
[11] Vgl. David B. Truman, The Governmental Process, 1971, S. 114.
[12] Truman erklärt die Gruppenbildung in einer Gesellschaft vor allem mit dem Zweck der Arbeitsteilung. Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto mehr wird die Arbeit auf verschiedene Gruppen aufgeteilt. Vgl. ebenda S. 24ff.
[13] Vgl. Earl Latham, The Group Basis of Politics, 1952.
[14] Vgl. Klaus Schubert, Pluralismus versus Korporatismus, in Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, 1995, S. 413.
[15] Werner Reutter, Korporatismustheorien, 1991, S. 30.
[16] Henry S. Kariel, The Decline of American Pluralism, 1961. Gemeint ist die Gleichstellung des Staates mit allen anderen Interessengruppen.
[17] Vgl. Elmer E. Schattschneider, The Semi-Sovereign People, 1960.
[18] vgl. Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, 1969.
[19] Wolf D. Narr / Frieder Naschold, Einführung in die moderne politische Theorie, 1972, S. 157.
[20] Ulrich v. Alemann, Verbände im Blick von Wissenschaft und Politik, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung. Interessengruppen, 1996, S. 44.
[21] Vgl. Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, 1968.
[22] Dieses Problem wird auch als „Olsonsches Dilemma“ bezeichnet. Vgl. dazu auch Franz Traxler / Philippe C. Schmitter, Perspektiven europäischer Integration, verbandlicher Interessenvermittlung und Politikformulierung, in Volker Eichener / Helmut Voelzkow (Hrsg.), Europäische Integration und Interessenvermittlung, 1994, S. 46.
[23] Vgl. hierzu Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, 1968, S. 52-64.
[24] Vgl. Katharina Holzinger, Ökonomische Theorien der Politik, in Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, 1995, S. 387.
[25] Bernhard Weßels, Die Entwicklung des deutschen Korporatismus, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, 23.6.2000, S. 17.
[26] Vgl. hierzu Wolfgang Kirberger, Staatsentlastung durch Verbände, 1978.
[27] Vgl. hierzu Martin Sebaldt, Organisierter Pluralismus, 1996, S. 88-92.
[28] Klaus Schubert, Korporatismus, in Dieter Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 2002, S. 266.
[29] Gemeint sind z.B. das Disziplinierungsrecht von Mitgliedern, das Normierungsrecht für Produkte oder das Anbieten von für die Produktion essentiellen Dienstleistungen. Vgl. Georg Pfeifer, Eurolobbyismus, 1995, S. 28.
[30] Philippe C. Schmitter, Still the Century of Corporatism?, in The Review of Politics, 1974.
[31] Gerhard Lehmbruch, Consociational Democracy, Class Conflict, and the New Corporatism, in Philippe C. Schmitter / Gerhard Lehmbruch, Trends Toward Corporatist Intermediation, London, 1979.
[32] Ray E. Pahl / Jack T. Winkler, The Coming Corporatism in Britain, in New Society, 10.10.1974.
[33] Philippe C. Schmitter / Gerhard Lehmbruch, Trends Toward Corporatist Intermediation, London, 1979.
[34] Vgl. dazu auch Klaus Schubert, Korporatismus, in Dieter Nohlen (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 2002, S. 266.
[35] Philippe C. Schmitter, Still the Century of Corporatism?, in The Review of Politics, 1974, S. 93.
[36] Vgl. hierzu Wilfried Steffani, Vom Pluralismus zum Neopluralismus, in Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Pluralismus, 1980, S. 87.
[37] Vgl. hierzu auch Georg Pfeifer, Eurolobbyismus, 1995, S. 28f sowie Klaus Schubert, Pluralismus versus Korporatismus, in Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, 1995, S. 419ff.
[38] Klaus Schubert, Pluralismus, in Dieter Nohlen et al. (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 7: Politische Begriffe, S. 484.
[39] Klaus Schubert, Pluralismus versus Korporatismus, in Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, 1995, S. 407.
[40] Ebenda.
[41] Gerhard Lehmbruch, Concertation and the Structure of Corporatist Networks, in John H. Goldthorpe (Hrsg.), Order and Conflict in Contemporary Capitalism, 1984, S. 65.
[42] Gerhard Lehmbruch, Liberal Corporatism and Party Government, in Comparative Political Studies. Vol. 10, 1977, S. 94.
[43] Ulrich v. Alemann, Vom Korporatismus zum Lobbyismus?, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, 23.6.2000, S. 3. Als „politische Taktik“ bezeichnet v. Alemann hier auch das „Bündnis für Arbeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder“.
[44] Ebenda.
[45] Georg Pfeifer, Eurolobbyismus, 1995, S. 22.
[46] Jürgen Weber, Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1981, S. 91.
[47] Ebenda.
[48] Ulrich v. Alemann, Die Vielfalt der Verbände, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung. Interessengruppen, 1996, S. 17.
[49] Die offizielle Bezeichnung lautet „Öffentliche Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“.
[50] E-Mail von Ursula Beck, Referat Parlamentsarchiv im Deutschen Bundestag, 1.7.2003.
[51] Vgl. hierzu Karsten Ronit / Volker Schneider, Organisierte Interessen in nationalen und supranationalen Politökologien, in Ulrich v. Alemann / Bernhard Weßels (Hrsg.), Verbände in vergleichender Perspektive, 1997, S. 41.
[52] Siegfried Mann, Macht und Ohnmacht der Verbände, 1994, S. 37.
[53] Werner Reutter, Organisierte Interessen in Deutschland, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, 23.6.2000, S. 15.
[54] Siegfried Mann, Macht und Ohnmacht der Verbände, 1994, S. 37.
[55] Ebenda.
[56] Vgl. Siegfried Mann, Macht und Ohnmacht der Verbände, 1994, S. 94-100.
[57] Siegfried Mann, Macht und Ohnmacht der Verbände, 1994, S. 98.
[58] Martin Sebaldt, Transformation der Verbändedemokratie, 2001, S. 46f.
[59] Vgl. hierzu Peter Lösche, Verbände, Gewerkschaften und das System der Arbeitsbeziehungen, in Willi P. Adams / Peter Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA, 1998, S. 340-374.
[60] Vgl. Karsten Ronit / Volker Schneider, Organisierte Interessen in nationalen und supranationalen Politökologien, in Ulrich v. Alemann / Bernhard Weßels (Hrsg.), Verbände in vergleichender Perspektive, 1997, S. 34f.
[61] Martin Sebaldt, Transformation der Verbändedemokratie, 2001, S. 46.
[62] Charles S. Mack, Business, Politics, and the Practice of Government Relations, 1997, S. 14.
[63] Martin Sebaldt, Transformation der Verbändedemokratie, 2001, S. 45.
[64] Peter Lösche, Verbände, Gewerkschaften und das System der Arbeitsbeziehungen, in Willi P. Adams / Peter Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA, 1998, S. 344.
[65] Ein Profil der U.S. Chamber of Commerce findet sich bei Charles S. Mack, The Executive’s Handbook of Trade and Business Associations, 1991, S. 163-168.
[66] Vgl. ebenda, S. 169.
[67] Vgl. ebenda, S. 168f.
[68] Vgl. dazu auch Kap. V, Abschnitt 2.4.7.
- Citation du texte
- Erwin Berger (Auteur), 2003, Korporatismus und Pluralismus in Theorie und Praxis , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22547
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