Der südamerikanische Kontinent ist die am stärksten durch krasse soziale
Ungleichheit geprägte Region auf der Welt. Nirgendwo sonst geht ein derart
großer Anteil am Gesamteinkommen auf die obersten zehn Prozent der
Einkommensbezieher und nirgendwo sonst steht den untersten zehn Prozent
weniger Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft zu als hier. Der in dieser Arbeit vorliegende Fall Brasilien ist Südamerikas größtes Land bezogen, auf seine Fläche, die Zahl seiner Einwohner und seine wirtschaftliche Produktivität (vgl. CIA – The World Factbook).
Aufgrund des großen Reichtums an natürlichen Ressourcen und seines landwirtschaftlichen Potenzials erscheinen die nach wie vor in die Gesellschaft durchdringende soziale Ungleichheit und Armut widersprüchlich
und führen Brasilien zu gesondertem Interesse in dieser Arbeit.
Wie kann ein sozial so gespaltenes, aber ressourcenreiches Land wie
Brasilien seine Wirtschafts- und Sozialpolitik dahin ausbauen, dass es
möglich ist, den Armutszustand und die soziale Ausgrenzung eines großen
Teils der Bevölkerung zu überwinden? Diese Frage haben sich nicht nur
Brasilien Anfang der Jahrtausendwende, sondern auch Mexiko und
nachfolgend fast alle weiteren Länder der Großregion LAC gestellt, und so
kam es zu dieser Zeit zu den ersten Einführungen von sogenannten
konditionierten Transferprogrammen, zu Englisch Conditional Cash
Transfers, oder kurz CCTs. In Brasilien wurde demnach unter der Regierung des ehemaligen Staatspräsidenten Lula da Silvas und der von ihm gegründeten Arbeiterpartei, dem Partido dos Trabalhadores oder kurz PT, im Oktober 2003 das PBF, „Programa Bolsa Família“ eingeführt.
In dieser Arbeit stellt sich die Frage, ob diese Art von Sozialprogramm geeignet ist bzw. ob speziell das Bolsa Família als Chance gesehen werden kann, den generationsübergreifenden Kreislauf von Armut durchbrechen zu können, um so auf nachhaltige Weise das Massenphänomen der Armut in Brasilien zu bekämpfen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
2. Einleitung
3. Armut, soziale Ungleichheit und ihre Bekämpfung in Entwicklungsländern: Theoretischer Rahmen
3.1 Zum Begriff der Armut
3.2 Konzepte und Grundsicherungsprogramme in Entwicklungsländern
4. Der Fall Brasilien: Eine kurze Einführung
4.1 Historische Verwurzelung der Armut in der Gesellschaft
4.2 Armutszustand und soziale Ungleichheit in der Gegenwart
5. Das Conditional Cash Transfer-Programm: „Bolsa Família“
5.1 Entwicklung der Sozialpolitik Brasiliens im 21. Jahrhundert ¾ Politische Auflagen und Ziele der Regierung
5.2 Programminhalte, Kriterien und Bedingungen
6. Ergebnisse und Wirkungen des „Bolsa-Família“-Programms
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Verpflichtungserklärung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Lorenz-Kurve pro-Kopf-Einkommen Brasilien (2001-2011)
Abbildung 2: Vier Optionen der Grundsicherung
Abbildung 3: Landkarte der Armut Brasilien 2005
Abbildung 4: Struktur des Bolsa Família
Abbildung 5: Gini-Index Brasilien (1995-2009)
Abbildung 6: Armut und extreme Armut Brasilien (1999-2009)
Abbildung 7: Analphabetismus im Nordosten (2000-2010)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: “Entwickelte Armenhilfe” vs. “Moderne Sozialhilfe“
Tabelle 2: Entwicklung der Überweisungshöhen des Bolsa Família (2004-2011)
Tabelle 3: Wirkungen des Bolsa Família zu Ungleichheit
2. Einleitung
Der südamerikanische Kontinent ist die am stärksten durch krasse soziale Ungleichheit geprägte Region auf der Welt. Nirgendwo sonst geht ein derart großer Anteil am Gesamteinkommen auf die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher und nirgendwo sonst steht den untersten zehn Prozent weniger Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft zu als hier (vgl. CEPAL, 2010, S. 131ff.). Der in dieser Arbeit vorliegende Fall Brasilien ist Südamerikas größtes Land bezogen, auf seine Fläche, die Zahl seiner Einwohner und seine wirtschaftliche Produktivität (vgl. CIA – The World Factbook). Aufgrund des großen Reichtums an natürlichen Ressourcen und seines landwirtschaftlichen Potenzials erscheinen die nach wie vor in die Gesellschaft durchdringende soziale Ungleichheit und Armut widersprüchlich und führen Brasilien zu gesondertem Interesse in dieser Arbeit.
So gehen in Brasilien 42,93% des Gesamteinkommens an die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung, während auf die unteren 50% bzw. fast 100 Millionen Brasilianer lediglich ein Anteil von 15,25% am gesamten erwirtschafteten Einkommen fällt. Die untersten zehn Prozent mit 0,77% am Gesamteinkommen verdienen somit knapp 1/56 des Reichtums der oberen zehn Prozent (vgl. PovcalNet, 2009). Im Vergleich hierzu Schweden, dem sozial am wenigsten gespaltenen Land weltweit. Dort standen dem ärmsten Dezil immer noch 3,6% gegenüber dem reichsten Dezil mit 22,2% im Jahre 2000 am Gesamteinkommen des Landes zu (vgl. Weltbank).
Demzufolge sind größtenteils hieraus herrührende Armutsverhältnisse auch Gewalt und Kriminalität, Defizite im nationalen Bildungsniveau, soziale Diskriminierungen von Menschen anderer ethnischer Abstammungen als der europäischen, die Ungleichstellung der Frauen zu Männern, und die regionalen Unterschiede in der Wirtschaftskraft zu nennende Krankheits-symptome des Landes. So hat die Makroregion Südosten im Jahre 2009 zu 55,3% im Gegensatz zum Norden mit 5% am BIP des Landes beigetragen. Der industrialisierte Bundesstaat São Paulo mit 33,5% Anteil am BIP steht den Bundesstaaten Acre, Roraima und Amapá mit jeweils 0,2% gegenüber und erwirtschaftet so immer noch mehr als 55 Mal so viel wie die drei wirtschaftlich schwächsten Bundesstaaten zusammen (IBGE, 2011, S. 55). Diese regionalen Unterschiede lassen sich ebenso im sozialstaatlichen Infrastrukturwesen erkennen. Folglich gibt dieser kurze Anriss Aufschluss über die Probleme Brasiliens und so über die große Herausforderung, die dem Land gegenübersteht, die Notwendigkeit, ein sozialpolitisches Mittel, einen Mechanismus zur Bekämpfung dieser sozioökonomischen Missstände einzuführen.
Die historische Verwurzelung der krassen sozialen Ungleichheit und der Armut in Brasilien ist eine große Hürde, die das Land zu bewältigen hat. So lebten im Jahr 2010 etwa 8,5%, also 16,27 Millionen Brasilianer, nach Zählung des Censo Nacional in extremen Armutsverhältnissen und Situation der Verwundbarkeit (IBGE, 2010).
Wie kann ein sozial so gespaltenes, aber ressourcenreiches Land wie Brasilien seine Wirtschafts- und Sozialpolitik dahin ausbauen, dass es möglich ist, den Armutszustand und die soziale Ausgrenzung eines großen Teils der Bevölkerung zu überwinden? Diese Frage haben sich nicht nur Brasilien Anfang der Jahrtausendwende, sondern auch Mexiko und nachfolgend fast alle weiteren Länder der Großregion LAC gestellt, und so kam es zu dieser Zeit zu den ersten Einführungen von sogenannten konditionierten Transferprogrammen, zu Englisch Conditional Cash Transfers, oder kurz CCTs (vgl. Hoffmann, 2012, S. 120f.). In Brasilien wurde demnach unter der Regierung des ehemaligen Staatspräsidenten Lula da Silvas und der von ihm gegründeten Arbeiterpartei, dem Partido dos Trabalhadores oder kurz PT, im Oktober 2003 das PBF, „Programa Bolsa Família“[1] eingeführt.
Diese Programme setzen auf einen Geldtransfer an normalerweise Mütter armer berechtigter Familienhaushalte unter der Prämisse, dass diese in das Humankapital ihrer Kinder investieren müssen. Es werden gewisse einzuhaltende Vorgaben an die Familien gestellt, die bei mehrmaliger Nichteinhaltung zu einer vorläufigen Sperrung bzw. sogar zu einem Ausschluss des Geldempfangs führen können. So müssen etwa die Kinder im schulpflichtigen Alter eingeschult sein und mit in den meisten Fällen mindestens 85% Anwesenheit die Schule besuchen. Sie müssen regelmäßig zu Gesundheitskontrollen und Impfungen geschickt werden, schwangere Mütter zu pränatalen Vorbereitungskursen und stillende Mütter zu Ernährungskursen (vgl. Rawlings/Rubio, 2003, S.3).
Hier stellt sich die Frage, ob diese Art von Sozialprogramm geeignet ist bzw. ob speziell das Bolsa Família als Chance gesehen werden kann, den generationsübergreifenden Kreislauf von Armut durchbrechen zu können, um so auf nachhaltige Weise das Massenphänomen der Armut in Brasilien zu bekämpfen.
Nach ersten positiven Anzeichen der Wirkungen von CCTs und im Hinblick auf positive Erfahrungen zu nachhaltigen Investitionen in Humankapital ihrer Bevölkerung bei Sozialstaaten Nordwest-Europas, ist die Hypothese, dass diese Art von bedingten Zahlungstransfers, gekoppelt an eine Steigerung der intellektuellen und gesundheitlichen Befähigung auf Nachfrageseite, zur nachhaltigen Verminderung sozialer Disparitäten und Armut beitragen können.
Um diese Hypothese ¾ argumentativ begründet auf dem aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand ¾ tendenziell zu verifizieren, wird sich die vorliegende Literaturarbeit in folgende Gliederung aufteilen:
Kapitel 3 ist vorangestellt an die nachfolgenden Kapitel und liefert den theoretischen Rahmen der Arbeit. Dieser soll dem Leser ein grundlegendes Verständnis zum theoretischen Konzept von Armut mit besonderer Hinsicht auf die multidimensionalen Aspekte der Armut, ihrer verschiedenen Methoden zur Messbarkeit und zu der damit verbundenen Problematik ermöglichen. Des Weiteren werden mögliche Konzepte zur Grundsicherung in Entwicklungs- und Übergangsländern, die sozialpolitischen Handlungs-optionen von Regierungen dargestellt und kurz miteinander verglichen.
Das Kapitel 4 behandelt den Fall Brasilien. So wird im ersten Abschnitt darauf eingegangen, welche historischen Ursachen für die Verwurzelung der Massenarmut und sozialer Exklusion eines Großteils der Bevölkerung in dem eigentlich so ressourcenreichen Land verantwortlich sind. Dies soll im nächsten Punkt dazu dienen, die aktuelle Situation dieser beiden Phänomene zu beschreiben und für den Leser verständlich zu machen, wie es dazu kam, dass Brasilien heute mit diesem schweren Erbe, welches seit seiner Kolonialzeit und den nachfolgenden Epochen bis hin zum Ende des Neoliberalismus davongetragen wurde, zu kämpfen hat.
Im Kapitel 5 wird überleitend davon auf die Erkennung der Notwendigkeit zur Einführung von Sozialprogrammen und ihrer Entwicklung in Brasilien und den verfolgten Absichten seitens der Regierung in der neueren Zeit eine Zusammenfassung geliefert. Im Anschluss hierzu wird auf das Bolsa Família eingegangen, und es erfolgt eine kurze Darstellung des Programms mit seinem institutionellen und konzeptionellen Rahmen.
Das Kapitel 6 untersucht auf Grundlage der bereits erforschten Gegenstände zum Programm die verschiedenen Wirkungen und Ergebnisse, welche direkt oder indirekt auf dieses zurückgeführt werden können. So werden einerseits soziale und wirtschaftliche Indikatoren wie Einkommensungleichheit, Armut, Konsum, Erwerbstätigkeit und Kinderarbeit und andererseits Indikatoren des Humankapitals wie Bildung, Gesundheit und Ernährung auf ihre Entwicklung untersucht.
So wird auf dem argumentativ begründeten Fundament der vorange-gangenen Gliederungspunkte im nächsten und letzten Kapitel 7 das Fazit zum Bolsa Família gestellt und die Frage beantwortet, ob das Programm als Chance zur nachhaltigen Bekämpfung von Armut in Brasilien gesehen werden kann.
3. Armut, soziale Ungleichheit und ihre Bekämpfung in Entwicklungsländern: Theoretischer Rahmen
Einleitend und vorangestellt an die folgenden Kapitel soll dem Leser in diesem Kapitel ein grundlegendes theoretisches Verständnis zu den Begriffen Armut, soziale Ungleichheit und soziale Exklusion vermittelt werden. Wissenschaftliche Standpunkte zu Armut werden im Laufe der Zeit verändert und versuchen so, verschiedene „wahrere“ Sichtweisen zu Armut, angepasst an die spezifischen Gegebenheiten der zu untersuchenden Regionen, wie zum Beispiel soziokulturelle Verschiedenheiten oder unterschiedliche Entwicklungsstände, zu definieren.
So ist es zwar möglich, die Armut nur in Bezug auf finanzielle Not des Betroffenen darzustellen, wird in der aktuellen wissenschaftlichen Welt aufgrund der Komplexität des Armutsbegriffs jedoch oft unter Berück-sichtigung soziologischer, politischer und kultureller Faktoren versucht zu erfassen und zu bemessen. Globalere, die Realität besser abbildende Konzepte zu Armut sollen schließlich dazu dienen, effizientere Bekämpfungs-mechanismen zu entwickeln und einzusetzen. Um folglich eine passende Armutsdefinition beispielsweise für Brasilien zu formulieren, benötigt es der Rücksichtnahme der landeseigenen soziokulturellen und ökonomischen Umstände.
Des Weiteren erfolgt eine prägnante Einführung in die Typologie der verschiedenen Sozialprogramme, die auf die Bekämpfung von uner-wünschten sozialen Disparitäten in sich entwickelnden Gesellschaften zielen. So soll der zweite Punkt des Kapitels schließlich dazu dienen, durch die zuerst beschriebenen negativen Auswirkungen sozialer Missstände auf das Individuum und den Staat, die Existenz und Notwendigkeit sozialer Programme zu ihrer Bekämpfung zu erklären. In der Folge können so zuletzt die CCT-Programme konzeptionell im Gesamtgebilde der Sozialprogramme in Entwicklungsländern eingegliedert werden.
3.1 Zum Begriff der Armut
In diesem Abschnitt werden die wichtigsten theoretischen Ansätze und Konzepte zum Begriff Armut dargestellt und erläutert. So werden die gängigen Armutsdefinitionen einerseits unterteilt in wirtschaftliche Armut als Ausdruck unzureichender Einkommensverhältnisse und andererseits in mehr-dimensionale Armut, bei der ebenso nicht-wirtschaftliche Aspekte einfließen, die zur Erfassung der Qualität menschlichen Lebens dienen. Folglich gibt es keine eindeutige und allgemeingültige Armutsdefinition und Messung von Armut. Es ist vielmehr ein soziales Konstrukt, welches sich abhängig vom geschichtlichen und politischen Kontext immer wieder verändert.
In der heutigen wissenschaftlichen Debatte zum Armutsbegriff findet sich eine Vielzahl an Definitionen über das Phänomen Armut. In den Wirtschafts-wissenschaften ist die Vorstellung bis heute dominierend geblieben, Armut sei ein Zustand der Gesellschaft, der durch Wirtschaftswachstum schritt-weise behoben werden kann. So ist eine typische Definition aus einem Lehrbuch[2] der Volkswirtschaft: „Armut ist ein Zustand, indem Menschen unzureichende Einkommen beziehen“ für Karl-Heinz Brodbeck (vgl. 2005, S. 59ff.) aus drei Gründen fragwürdig. Erstens stellt er fest, die Armut ist nicht nur gegeben, sondern sie wird auch erzeugt, ist also nicht nur ein Zustand, sondern ein Prozess oder ein Teil eines Prozesses. Zweitens ist unklar und kontrovers, was genau „unzureichend“ für Menschen ist, also wie Armut interpretiert, erfasst oder gemessen werden soll. Den dritten Kritikpunkt sieht er in der Verwendung des Begriffs Einkommen. Dieser reduziere alle übrigen Dimensionen, welche Armut beinhalten kann, auf lediglich eine geldwerte, durch Märkte vermittelte Größe.
So hat die Unterscheidung zwischen Armut als Zustand und Armut als Ergebnis des ökonomischen Prozesses zu völlig unterschiedlichen Erklärungen und Messungen der Armut geführt (vgl. Brodbeck, 2005, S. 60f.). Alle Messungen versuchen jedoch, in der Regel die Armut objektivier-bar und quantitativ messbar zu machen.
Die international bekanntesten und gebräuchlichsten Definitionen kommen von der Weltbank und des UNDP. Die Weltbank bezieht sich in ihrer Armutsdefinition auf das geldwerte Einkommen, das einer Person für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse zur Verfügung steht. So gilt nach dieser Auffassung global als arm, wer eine Einkommenslinie von 1,25 US-Dollar bzw. 2 US-Dollar pro Tag[3] nicht überschreitet bzw. diese Maße an Konsumausgaben nicht erreicht. Diese internationalen Grenzen betrachten keine landeseigenen Gegebenheiten, sondern sind willkürlich festgelegt. Der Vorteil liegt jedoch darin, dass sich mit ihnen bei internationalen Landes- oder Regionalvergleichen Verhältnisse und Veränderungen ziemlich zuverlässig messen lassen. So sind diese Armutslinien aufgrund ihrer einfachen Messbarkeit in ihrer Aussagekraft zwar sehr limitiert, aber zur Messung des Entwicklungsstandes eines Landes bzw. zur Ermittlung von Armut nach wie vor einer der Hauptindikatoren, speziell bei Vergleichen von Ländern oder großen Regionen.
Nach Definition der UN (1998) wird Armut weiter gefasst als in einen Mangel von Einkommen und versucht so, sich einer ganzheitlicheren Betrachtung von Armut zu nähern:
„Grundsätzlich ist Armut eine Vorenthaltung von Chancen und Möglichkeiten, eine Verletzung der menschlichen Würde. Es bedeutet Mangel an grundlegenden Fähigkeiten um effektiv in der Gesellschaft teilzunehmen. Es bedeutet, nicht genug zu haben, um eine Familie zu nähren und zu kleiden, nicht zu einer Schule oder einem Krankenhaus gehen zu können, nicht das Land zu haben, auf dem man seine Nahrung anbauen kann oder eine Arbeit, um sein Lebensunterhalt verdienen zu können und keinen Zugang zu Krediten haben. Es bedeutet Unsicherheit, Ohnmacht und Ausgrenzung von Einzelnen, Haushalten und Gemeinden. Es bedeutet Anfälligkeit für Gewalt, und beinhaltet oft das Leben in Randzonen oder benachteiligten Umgebungen, ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen“ (vgl. Gordon, 2005, S. 4).[4]
Es gibt zudem zwei unterschiedliche Typen von Armut, die von dem European Anti-Poverty Network (EAPN, 2012) in absolute oder extreme Armut und in relative Armut unterteilt werden. So ist laut Definition des EAPN jemand absolut oder extrem arm, wenn es ihm an Grundbedürfnissen zum Überleben mangelt. Relative Armut hingegen bezieht sich auf die Situation derer, welche im Verhältnis wesentlich schlechtere Lebensverläufe und Einkommen haben als der generelle Lebensstandard des betreffenden Landes oder Region aussagen würde. Laut Daniel Eichler (vgl. 2001, S. 18) sind im Mangelbegriff der relativen Armut bereits Komponenten beinhaltet, die über ein absolutes Subsistenzminimum hinausgehen. So definiert er die relative Armut als soziokulturelles Existenzminimum, das je nach Gesellschaft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Bedürfnissen variiert, also relativ in seiner Bemessung ist. Relative Armut wird in aller Regel über einen bestimmten Prozentsatz des Medianeinkommens, der hier als Armutsgrenze dienen soll, definiert.
Neben dem absoluten und dem relativen Armutsbegriff zieht Daniel Eichler noch zwei weitere Armutsbegriffe hinzu: den subjektiven und den objektiven (vgl. ebd. S. 18f.). Der subjektive Armutsbegriff tritt auf, wenn mangelnde Ausstattung mit Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung, definiert nach eigenen oder für die Person wahrgenommenen anerkannten Maßstäben, vorliegt. Wohingegen jemand objektiv arm ist, wenn die Bedürfnisse und Mittel zur Bedürfnisbefriedigung an objektiven und vergleichbaren Kriterien einem Mangel unterliegen.
Während das Problem der relativen Armut eher in reicheren Gesellschaften erfasst wird, betrifft das Problem der absoluten oder extremen Armut meist unterentwickelte, Entwicklungs- oder Schwellenländer. So wurde die Verringerung der extremen Armut (<1,25 US-Dollar in PPP von 1993) und des Hungers um die Hälfte bis zum Jahr 2015 als erstes von acht Entwicklungszielen (MDGs) auf dem Millennium-Gipfel 2000 von 189 UN-Staaten unterzeichnet (vgl. UNDP, 2012).
Wie oben bereits erwähnt, hängt es vom begrifflichen Rahmen ab, was als Armut erfasst wird und wie sie gemessen werden soll. Neben der schon genannten Einkommenslinie als Armutsdefinition versuchen andere Methoden, die Armut anhand von definierten Güterbündeln eines Mindest-lebensstandards zu erfassen. Hierunter fällt die cost-of-basic-needs Methode, welche sich an Grundbedürfnissen orientiert, die jeweils durch die lokalen Gegebenheiten definiert werden. Als andere Methode dieser Art ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) alternativ verwendete food energy method zu nennen. Sie funktioniert auf Basis der Nahrungsaufnahme in kcal pro Person und wird noch differenziert in unterschiedliche Bedarfs-größen von Stadt zu Land (vgl. Brodbeck, 2005, S. 62f.).
Alle bisher genannten Methoden versuchen durch Feststellung objektiver und erschöpfender Bedarfsstandards Fakten wiederzugeben, können dadurch allerdings jeweils nur einen kleinen Teilausschnitt der Realität betrachten. So verkennen sie, dass Armut mehr Dimensionen hat als den bloßen Mangel an entweder Einkommen, Güterbündeln oder ausreichender Nahrungszufuhr. Folglich kann beispielsweise das objektive Kriterium Einkommen direkte Auswirkungen in den Bereichen Wohnen, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Sozialprestige und politische Partizipation haben (vgl. Eichler, 2001, S. 20).
Der indische Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen (vgl. 1999, S. 87) stellt hierzu fest, die Ursache von Armut liegt im Rahmen der vorenthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten bzw. Ver-wirklichungschancen einer Person. Es sind nach Sen die wesentlichen Freiheiten, die jemand genießt, um die Art Leben zu führen, die er oder sie meint wertzuschätzen. Aus dieser Perspektive müsse Armut vielmehr als Mangel von grundsätzlichen Verwirklichungschancen, denn als Mangel von Einkommen verstanden werden. Er streitet nicht ab, dass Einkommens-mangel nicht auch einen Mangel an Verwirklichungschancen bedingen kann, sagt aber, Einkommen sei eben nicht das einzige Instrument, um Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.
Unter anderen und durch die Argumentationen Sens haben sich neue Konzepte zu Armut inspirieren lassen. So ist ein erster Schritt in Richtung einer differenzierteren und facettenreicheren Armutserfassung und Be-messung der Human Development Index (HDI) des UNDP aus den 90er Jahren gewesen. Die vorangenommenen Auswirkungsbereiche der Einkommensarmut wurden hier großenteils versucht zu berücksichtigen. So wurden in ihm vier einzelne Indikatoren zusammengefügt: die Lebenserwartung, die erfolgte Schulbildung in Jahren, die erwartete gesamte Ausbildungszeit in Jahren und das Einkommen gemessen in Kaufkraftparität. Das UNDP versuchte so erstmalig unter den Indikatoren zur Armut einen mehrdimensionalen Armutsbegriff mit dem HDI zu erfassen, der dennoch in großen Skalen objektiv zu bemessen ist und Ländervergleiche in Bezug auf ihren Entwicklungsstand zulässt (vgl. UNDP, 2012).
Aufbauend auf dem HDI und der Argumentation, menschliche Entwicklung sei der Ausbau von Selbstbestimmungsrechten, Armut also die Vorenthaltung der grundlegendsten Möglichkeiten und berechtigten An-sprüche für die menschliche Entwicklung, wurde 1997 erstmalig der Human Poverty Index (HPI) vom UNDP veröffentlicht. Dieser wurde wiederum vom Multidimensional Poverty Index (MPI) im Jahre 2010 abgelöst. Die Verwendung von 10 einzelnen Teilindikatoren zusammen ergibt den MPI. Damit soll ein noch umfassenderes und differenzierteres Bild der Armut gemessen werden, was folglich den Machern von Entwicklungsprogrammen besser dienen kann, um ihre Mittel effektiver und zielgerichteter verwenden zu können.
Um schließlich die möglichen Formen von Armut und Verteilung im Rückgang messbar machen zu können, haben Foster, Greer und Thorbecke 1984 eine der meistgebrauchten Indikatoren entwickelt, den FGT-Index. Sie benutzen drei grundsätzliche Konzepte: P0 ist der Anteil Armer in einer gegebenen Population und variiert zwischen null bei keiner Armut und eins, wenn alle arm sind. P1 ist das Mittel der Armutslücke, normiert im Sinne, dass bei keinen Armen in der Bevölkerung ihr Minimalwert null, und wenn niemand über Einkommen verfügt, ihr Wert das Maximum von eins erreicht. In der Praxis ist P1 das Resultat der Multiplikation von P0 mit der relativen Armutslücke, also die Differenz zwischen gegebener Armutslinie und des mittleren Einkommens der Armen. Die Messung P2 ist der Mittelwert der genormten Armutslücke zum Quadrat. Wenn P0 nur den Anteil Armer berücksichtigt und P1 den Anteil und die Armutslücke, so berücksichtigt P2 auch den Grad der Einkommens-ungleichheit zwischen den Armen (IPEA, 2012, S. 32f.).
Wie bereits erwähnt, kann Armut auch Folge sozialer Ausgrenzung, Exklusion der Betroffenen von der Gesellschaft, bzw. kann umgekehrt soziale Exklusion ebenso Folge von Armut bedeuten. So wird seit etwa den 1970er Jahren die Armutsproblematik mehr und mehr mit Konzepten zu sozialer Exklusion, Marginalisierung, Prekarität und Vulnerabilität in Verbindung gebracht. Armut wird hier zwar nicht gleichgesetzt mit sozialer Exklusion, aber als ihr wichtigstes Beispiel von Ausgrenzungsprozessen verstanden (vgl. Brodbeck, 2005, S. 73f.).
[...]
[1] Im fortlaufenden Text wird sich hauptsächlich auf den Begriff Bolsa Família aus Gründen der vereinfachten Lesbarkeit beschränkt.
[2] Nordhaus/Samuelson: Volkswirtschaftslehre (1998, S. 427) apud Brodbeck (2005, S. 59).
[3] Verwendet wird hier der bereinigte Dollar in Kaufkraftparität (PPP – Purchasing Power Parity) in Werten von 1993, um die Einkommen in verschiedenen geografischen Räumen mit unterschiedlichen Währungsräumen miteinander vergleichen zu können. D.h. die Währungen werden an den Preisen für Waren des jeweiligen Binnenmarktes gemessen.
[4] Eigene freie Übersetzung des Autors
- Arbeit zitieren
- Mischa Wurzbach (Autor:in), 2013, Das „Bolsa Família“-Programm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214293
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