Die Idee zur wissenschaftlichen Untersuchung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt erwuchs aus meinem fünfmonatigen Praxissemester (2011/12), das ich an einer Magdeburger Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung absolvierte. Durch den Klassenwechsel aus der Mittelstufe in die Oberstufe, bekam ich die Gelegenheit, sieben Schüler in der Anfangsphase ihrer beruflichen Orientierung zu begleiten. Erstmalig während meiner beruflichen Laufbahn kam ich dort mit Menschen mit seelischen Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Depressionen /Autismus Spektrum /Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) in Berührung. Da die Schüler signifikante Unterschiede in ihrem Leistungsniveau aufwiesen, wurden sie hauptsächlich differenziert im Rahmen von Kleinstgruppen (maximal drei Personen) beschult. Während meines zweimonatigen Einsatzes lag der Förderschwerpunkt auf der theoretisch-praktischen (anwendungsbezogenen) Beschäftigung mit typischen Berufsbildern und den damit verbundenen Qualifikationen und Kompetenzen. Um ihnen ein plastisches Bild von der Berufspraxis zu vermitteln, wurden wöchentlich Betriebserkundungen in den Plan eingeflochten, wobei sich die Wahl der Betriebe an den Interessenlagen der Schüler orientierte. Im Hinblick auf das zehnwöchige Praktikum in der Werkstufe sollte ihnen durch das Kennenlernen verschiedener Arbeitsfelder und Unternehmungen die Entscheidung für ihren Einsatzort erleichtert werden. Meine Aufgabe bestand darin, über die allgemeine Begleitung des Unterrichtsprozesses hinaus, Erkenntnisse zu arbeitsweltlichen Vorstellungen und Erwartungen zu gewinnen, wozu ich einzelne Schüler befragte und mit ihnen gemeinsam ein Interessenprofil erstellte. Um mir einen Gesamteindruck von der Persönlichkeit des Jugendlichen zu verschaffen, studierte ich die Schülerakten und konsultierte daraufhin die Lehrenden.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Entwicklungen in der Behindertenhilfe
1.1 Zum Begriff Behinderung
1.2 Menschen mit geistigen Behinderungen
1.3 Von der Exklusion zur Inklusion- ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik
2. Menschen mit (geistigen) Behinderungen in der Arbeitsgesellschaft
2.1 Der Arbeitsmarkt im Kapitalismus
2.2 Zur Bedeutung von Arbeit
2.3 Zur beruflichen Situation von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt
2.4 Das Recht auf Arbeit für Menschen mit (geistigen) Behinderungen
3. Übergang von der Förderschule in die Arbeitswelt
3.1 Entwicklungsaufgaben und Besonderheiten Jugendlicher im ÜbergangDie
3.2 Einführung in das System der Beruflichen Rehabilitation
3.2.1 Berufliche Orientierung und Integrationsförderung an der Schule
3.2.2 Schulische und nachschulische Berufsvorbereitung
3.3 Arbeitsmarktpolitische Instrumente im Rahmen zur Eingliederung
3.3.1 Arbeitgeberorientierte Förderinstrumente
3.3.2 Arbeitnehmerorientierte Förderinstrumente
4.Empirische Sozialforschung an der Schule mit dem Förderschwer- punkt Geistige Entwicklung
4.1 Methode der Datenerhebung – Experteninterview
4.2 Setting
4.3 Darstellung der Ergebnisse
4.3.1 Methodik der „Beruflichen Orientierung und Integrationsförderung“
4.3.2 Begleitung/Beratung
4.3.3 Vermittlung
5. Schlussfolgerungen /Zusammenfassung
6. Fazit/Ausblick
Literaturverzeichnis/Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das biopsychosoziale Modell des ICF 12
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einführung
Die Idee zur wissenschaftlichen Untersuchung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt erwuchs aus meinem fünfmonatigen Praxissemester (2011/12), das ich an einer Magdeburger Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung absolvierte. Durch den Klassenwechsel aus der Mittelstufe in die Oberstufe, bekam ich die Gelegenheit, sieben Schüler in der Anfangsphase ihrer beruflichen Orientierung zubegleiten. Erstmalig während meiner beruflichen Laufbahn kam ich dort mit Menschen mit seelischen Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Depressionen /Autismus Spektrum /Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) in Berührung. Da die Schüler signifikante Unterschiede in ihrem Leistungsniveau aufwiesen, wurden sie hauptsächlich differenziert im Rahmen von Kleinstgruppen (maximal drei Personen) beschult. Während meines zweimonatigen Einsatzeslag der Förderschwerpunkt auf der theoretisch-praktischen (anwendungsbezogenen) Beschäftigung mit typischen Berufsbildern und den damit verbundenen Qualifikationen und Kompetenzen. Um ihnen ein plastisches Bild von der Berufspraxis zu vermitteln, wurden wöchentlich Betriebserkundungen in den Plan eingeflochten, wobei sich die Wahl der Betriebe an den Interessenlagen der Schüler orientierte. Im Hinblick auf das zehnwöchige Praktikum in der Werkstufe sollte ihnen durch das Kennenlernen verschiedener Arbeitsfelder und Unternehmungen die Entscheidung für ihren Einsatzort erleichtert werden. Meine Aufgabe bestand darin, über die allgemeine Begleitung des Unterrichtsprozesses hinaus, Erkenntnisse zu arbeitsweltlichen Vorstellungen und Erwartungen zu gewinnen, wozu ich einzelne Schüler befragte und mit ihnen gemeinsam ein Interessenprofil erstellte. Um mir einen Gesamteindruck von der Persönlichkeit des Jugendlichen zu verschaffen, studierte ich die Schülerakten und konsultierte daraufhin die Lehrenden. Im Anschluss an die Zusammenführung der dabei gewonnenen Erkenntnisse stellte ich folgende Überlegungen an:
- Ist eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt realisierbar?
- Sind die beruflichen Interessen der Schüler mit den Erwartungen der Unternehmen vereinbar?
- Bestehen für alle Jugendlichen dieselben Zugänge zum ersten Arbeitsmarkt?
- Von welchen Bedingungen und Kriterien hängt eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ab?
In diese kritische Auseinandersetzung wurden ebenso die arbeitsmarktpolitischen sowie die sozialpolitischen Entwicklungen in der Behindertenhilfe einbezogen. Mit der Feststellung, dass sowohl die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt alsauch der seit den 1990er Jahren eingesetzte Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik maßgebende Einflussgrößen für die berufliche Eingliederung behinderter Menschen bedeuten kann, werde ich auch meine Untersuchung in dieses Bedingungsgefüge einbetten. Auf der Grundlage der im Jahr 2006 ratifizierten Behindertenrechtskonvention (UN – BRK), dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen und den daraus hervorgehenden politischen Forderungen zur Umsetzung der Inklusion in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, werden die Leitgedanken Selbstbestimmung - Gleichberechtigung - Teilhabe im Sinne von Partizipation im Rahmen der Prozesse der beruflichen Integration untersucht. Mit dem Anreiz, als zukünftige Sozialarbeiterin die berufliche Einmündung behinderter oder auch sozialbenachteiligter Personen professionell zu begleiten,
konzentriere ich mich insbesondere auf:
- die Methoden und Unterstützungselemente an der Schnittstelle Schule – erster Arbeitsmarkt bzw. in den Phasen der beruflichen Orientierung und der beruflichen Qualifizierung
- die Kooperation zuständiger Rehabilitationsträger und Fachdienste im Fokus einer personenzentrierten Übergangsgestaltung
- die Notwendigkeit und Verfügbarkeit arbeitsmarktpolitischer Unter- stützungselemente zu einer nachhaltigen Sicherung des Arbeitsplatzes.
Von diesen Zielsetzungen leiten sich, ergänzend zu den oben skizzierten Überlegungen, folgende Fragestellungen ab, die im Laufe meiner Bachelorarbeit erörtert werden:
- Mit Hilfe welcher Methoden wirkt die Bildungsinstitution Schule auf einen erfolgreichen Berufseinstieg hin? Berücksichtigen die angewandten Methoden die Interessenlagen der Schüler und ihrer Erziehungsberechtigten?
- Welche Teilhabemöglichkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt werden Absolventen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung im Übergang offeriert?
- Sind diese Unterstützungsmöglichkeiten auch für einen weiteren Verbleib am allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend? Bedarf es weiterer Förderinstrumente für die Absicherung eines Beschäftigungsverhältnisses?
Mit der Konkretisierung auf schulische Übergänge geistig behinderter Absolventen und deren Ersteingliederung in die Betriebe des regulären Arbeitsmarktes, konzentriere ich mich auf ein klar umrissenes Klientel. Dabei grenze mich ab von der Rehabilitation behinderter Menschen aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in reguläre Beschäftigungsformen und auch von der Problematik der Wiedereingliederung von Menschen, die im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit wegen Erkrankung nicht am Arbeitsprozess teilnehmen können oder wegen einer Behinderung aus dem Arbeitsprozess ausscheiden.
Methodisch gehe ich folgendermaßen vor:
Das erste Kapitel soll dazu dienen die Begriffe Behinderung und Geistige Behinderung zu definieren. Mit Hilfe des Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollen Zusammenhänge zwischen den vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen und den daraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigungen erklärt werden, denn diese Systematik bildet die Grundlage für Leistungsansprüche aus folgenden Sozialgesetzbüchern (SGB):
- SGB III (Arbeitsförderung)
- SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen)
- SGB XII (Sozialhilfe).
Diese drei Rechtskreise sind für die Teilhabe am Arbeitsleben zuständig. Im Anschluss daran werde ich die historische Entwicklung der Behindertenhilfe im Bezug auf den Vollzug des Paradigmenwechsels, von der Segregation bis hin zur gesellschaftlichen Inklusion, beleuchten. Im Hinblick auf die Verwirklichung einer inklusiven Gemeinschaft (in der Arbeitswelt), werde ich meinen Blick auf die aufgestellten sozialpolitischen Forderungen und Zielsetzungen aus der der UN – BRK lenken, die dem Schutz der Menschenrechte dienen sollen.
Zu Beginn des zweiten Kapitels werden die Rahmenbedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes anhand geltender Leistungserwartungen aus dem Blickwinkel der Unternehmen/öffentliche Betriebe beleuchtet. In Form einer Gegenüberstellung soll der Blick auf die Position der Arbeitnehmer gerichtet werden, um die Bedürfnisse beider Interessengruppen miteinander abzugleichen. Ausgehend von einer Betrachtung der individuellen Bedeutung von Arbeit, sowohl für den Arbeitnehmer als auch für Nicht - Erwerbstätige, beleuchte ich mögliche Folgen von Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit auf die individuelle Lebensqualität. Vor diesem Hintergrund werden die Konsequenzen diskutiert, die mit dem Ausschluss aus der Arbeitsgesellschaft korrelieren und dabei besondere Risikogruppen fokussieren. Gezielt gehe ich auf die berufliche Situation von Menschen mit (schweren und schwersten) geistigen Behinderungen ein und erörtere ihre Teilhabechancen am Arbeitsleben mit Bezug auf die aktuellen arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen. Im Kontrast dazu ist mit Hilfe des Artikels 27 der UN – BRK aufzuzeigen, worin die konkreten Zielstellungen einer inklusiven Arbeitsgesellschaft bestehen.
Gegenstand des dritten Kapitels ist der Übergangsprozess von der Schule in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach einer systemischen Betrachtung der Problematik von Schulabgängern im Übergang in das Arbeitsleben, führe ich den Leser in das System der beruflichen Integration ein. Dahingehend werden die Phasen des Bildungsweges fokussiert, beginnend mit der Berufsorientierung an der Schule, weiterführend bis hin zur beruflichen Ausbildung und Qualifizierung. Zu analysieren sind in diesem Verlauf zunächst die Methoden der Vorbereitung des nachschulischen Weges durch die Bildungsinstitutionen. Weiterhin sind die Instrumente zur Berufsausbildung aus der Arbeitsförderung (SGB III) und die Methoden der betrieblichen Qualifizierung aus dem Rehabilitationsgesetz (SGB IX) zu begutachten.
Die Kernfragen zu diesem Kapitel lauten:
- Welche Fördermöglichkeiten ergeben sich aus den genannten Rechtskreisen zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt für das Klientel mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung ?
- Welche rechtlichen, personellen und institutionellen Rahmenbedingungen sind notwendig, um die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit geistigen Behinderungen in Einklang mit den Erwartungen der Arbeitgeber zu bringen?
Mit dem vierten Kapitel schließt sich eine qualitative empirische Studie an. Das Experteninterview, als Methode der qualitativen Sozialforschung, soll zur Erforschung der praktischen Umsetzung berufsorientierender und -qualifizierender Methoden dienen. Zu diesem Zweck befrage ich sowohl die Schulleiterin der Brandenburger Havelschule, eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, als auch einen Berater des Potsdamer Integrationsfachdienstes. In der Funktion eines von mehreren Netzwerkpartnern steht dieser Berater der Havelschule in der Vorbereitung des nachschulischen Bildungsganges unterstützend zur Seite. Im Zusammenhang mit der Auswertung der Ergebnisse werden aufgrund deren eng begrenzter Gültigkeit (fallspezifisch) Parallelen zur deutschlandweiten Praxis gezogen.
1. Entwicklungen in der Behindertenhilfe
1.1 Zum Begriff Behinderung
Grundsätzlich ist das Wesen einer Behinderung und deren Bewertung einerseits von subjektorientierten, anderseits von umweltbedingten- (sozialen und baulichen) Faktoren abhängig, die zudem im historischen und wissenschaftlichen Kontext stehen. Alle diese Bedingungen tragen zur Prägung des Menschenbildes bei. Bevor ich mich den geschichtlichen Entwicklungen des 19./20. Jahrhunderts widme, werden die Begriffe Behinderung und speziell Geistige Behinderung näher erläutert.
Die traditionellen fachlichen Disziplinen, insbesondere die medizinische Sichtweise, verorten Behinderungen vor allem im Subjekt, indem sie die Ausprägung der Krankheitssymptomatik offenlegen (vgl. Abschnitt 1.2). Ulrich Bleidick erweitert diese Definition um systemische Aspekte. Als behindert gelten seiner Ansicht nach Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft erschwert werden (vgl. Röh 2005, zit. nach Bleidick 1999).
Klassifikation nach dem System der WHO(ICD X)
In seiner Betrachtung lehnt sich Bleidick an das klassische Klassifikationssystem der WHO aus dem Jahr 1980 an. Das vorrangig personenorientierte Modell, das ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities und Handicaps), beschreibt eine Folgekette. Aus einer angeborenen oder erworbenen gesundheitlichen Schädigung (impairment) erwächst eine Beeinträchtigung physischer und psychosozialer Funktionen (disability), die sich im Ergebnis als soziale Behinderung (handicap) in unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Ausprägung innerhalb der Lebenswelt äußern kann (vgl. Neuer-Miebach 2008). In der erweiterten Fassung (2002), dem ICF (International Classification of Functioning), erfahren die Aspekte der sozialen Teilhabe eine besondere Gewichtung. Erst wenn die drei oben markierten Items in Beziehung zu den Umweltfaktoren des Individuums gesetzt werden, wird der tatsächliche Grad der Behinderung messbar. Im Gegensatz zu der Folgekette im medizinischen Modell (ICIDH), wird der Begriff Behinderung im ICF erst infolge negativer Wechselwirkungen, mit der Beeinträchtigung der Teilhabe durch aktivitätshemmende Umweltbedingungen (Barrieren) thematisiert (vgl. Röh 2009, zit. nach DIMDI 2005; Fritzsche 2005). Die nachfolgende Darstellung soll diese Zusammenhänge veranschaulichen:
Abb. 1: Das biopsychosoziale Modell der ICF (vgl. Röh 2009, S. 55)
1.2 Menschen mit geistigen Behinderungen
Im Jahr 1958 wurde der Begriff Geistige Behinderung durch die „Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“, als Reaktion auf die tradierten Ausdrücke Idiotie oder Schwachsinn in die Fachsprache eingeführt und gesetzlich verankert (vgl. Mühl 2006). Trotz der beabsichtigten Abschwächung des diskriminierenden Wortgehaltes, lag das Gewicht im Sinne des medizinischen Erklärungsmodells auf einem personenzentrierten Defizit, einem mit intellektuellen Mängeln behafteten Zustand, der gesellschaftlich als eine mentale Unzulänglichkeit stigmatisiert wird (vgl. Speck 2005). Mit dieser Definition treten die Defizite, als eine der vielen Eigenschaften der menschlichen Persönlichkeit, gewichtend in den Vordergrund, während Charaktermerkmale, Begabungen und die durch gezielte Förderung zu verwirklichenden Entwicklungschancen in ihrer Wertigkeit lediglich mindere Beachtung finden (vgl. ebenda).Um diesem Stigmata entgegenzuwirken, und damit eine größtmögliche soziale Eingliederung zu unterstützen, wurde die defizitär belastete Begrifflichkeit „Geistige Behinderung“ nochmals korrigiert und in Menschen mit geistigen Behinderungen umgewandelt. Der neue Wortlaut sollte wiederholt darauf aufmerksam machen, dass diese spezielle Beeinträchtigung nur einen speziellen Bestandteil der Gesamtpersönlichkeit ausmacht. Speck zufolge erfordert diese besondere Problematik eine lebenslange pädagogische und psychosoziale Unterstützung in allen ihn tangierenden Lebensbezügen (vgl. ebenda).
Merkmale und Grade geistiger Behinderungen
Das primäre Merkmal einer geistigen Behinderung besteht in einer unterschiedlich ausgeprägten Beeinträchtigung der kognitiven Leistungen. Im Kapitel Psychische- und Verhaltensstörungen (F00 - F99) des ICD X – GM 2009 (Gruppe F 70 - F 79) besteht eine Intelligenzminderung in Form eines Zustands von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, die zur Prägung des Intelligenzniveaus maßgebend sind. Exemplarisch zu nennen sind kognitive Leistungen (z.B. Analyse- und Synthesefähigkeit) sowie Konzentration, Sprache und Kreativität (www.dimdi.de, Zugriff am 14.09.12, 12:00 MEZ). Nach dem ICD X (International Classification of Diseases) lassen sich vier Schweregrade unterscheiden (vgl. ebenda):
1. leichte geistige Behinderung – IQ: 50/55 bis 70
2. mäßige geistige Behinderung – IQ: 35/40 bis 50/55
3. schwere geistige Behinderung– IQ: 15/20 bis 35/40
4. schwerste geistige Behinderung– IQ: < 15/20
Speck (vgl. Röh 2005, zit. nach Speck 2008) kritisiert jedoch, dass Intelligenz lediglich durch das Ergebnis der Intelligenzmessung definiert wird. Der Intelligenzquotient (IQ) trifft damit ausschließlich Aussagen über die Funktionalität spezifischer Bereich menschlicher Kognition. Folge des Auswertungsprozesses ist die Klassifizierung in normal und anormal, die eine Einordnung geistiger Funktionen nur durch die Abstufung der Intelligenzgrade vornimmt. Durch diese absolute bzw. eingegrenzte Definition bestehe nach Speck die Gefahr voreingenommener Haltungen Dritter, die sich in der Bewertung des beeinträchtigten Individuums nur durch die Abstufung der Intelligenzgrade vornimmt.
Zur Erweiterung des Leistungsprofils sind seiner Ansicht nach weitere Merkmale des Phänomens Geistige Behinderung in das Verfahren einzubeziehen. Beispielsweise erörtert Mühl (2006), dass eine Störung in der Verarbeitung sinnlicher Eindrücke vorliegt, wodurch zwar die eigentliche Rezeption visueller, auditiver oder taktiler Reize erhalten bleibt, jedoch die Deutung des Informationsgehaltes, sowie das assoziative und das schlussfolgernde Denkvermögen eingeschränkt sind. In direkter Beziehung dazu steht zumeist eine verzögerte Sprachentwicklung. Nach Piagets‘ Theorie der kognitiven Entwicklung ist die Bildung von konkreten Begriffen infolge der verminderten Reizverarbeitung erschwert, wodurch die Reifung auf dem Niveau des symbolischen, vorbegrifflichen Denkens verbleiben kann, welches der sprachlichen Entwicklung eines vierjährigen Kindes entspricht (www.kindergarten- paedagogik.de, Zugriff am 14.09.2012, 12:15 MEZ). Mit einer schrittweisen Heranführung an das Sprachsystem mittels unterstützter Kommunikation, z. B. durch Symbole und Bilder, lassen sich sowohl die Sprachförderung, als auch die soziale Interaktion auf Dauer positiv beeinflussen (vgl. Mühl 2006). Auch grob- und feinmotorische Fertigkeiten sind im pädagogischen Kontext durch ein Bewegungstraining und Fingerfertigkeitsübungen erlernbar. Auffälligkeiten im Verhalten und der psychischen Verfassung hingegen stehen in keiner monokausalen Verbindung und sind daher als sekundäre Merkmale zu werten. Treten zwei oder mehrere dieser Merkmale in einem direkten oder indirekten Zusammenhang auf, handelt es sich um eine Mehrfachbehinderung (vgl. ebenda).
Für die Klassifizierung einer geistigen Behinderung im ICD ist eine Kopplung des Intelligenzgrades mit auftretenden Störungen in der Anpassung an Alltagsvollzüge (z.B. am Arbeitsplatz) entscheidend, während körperliche und psychische Nebendiagnosen keine kausale Bedingung darstellen (www.dimdi.de, Zugriff am 15.09.12, 13:00 MEZ). Eine derartig präzisierte Einstufung des Phänomens Geistige Behinderung, in Verbindung mit der genauen Bestimmung der Ausprägung der individuellen Teilhabebeeinträchtigung durch das biopsychosoziale Modell (ICF), bilden das Fundament des Anspruchs, beispielsweise auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aus dem SGB III und aus der Eingliederungshilfe des SGB XII.
1.3 Von der Exklusion zur Inklusion- ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik
Anhand eines Zeitstrahls wird im Folgenden der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe, beginnend mit der Ausgrenzung kranker und behinderter Menschen, bis hin zu deren Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen Lebensvollzüge skizziert.
1. Phase: Exklusion/Segregation
Exklusion leitet sich aus dem lateinischen Wort excludere für ausschließen ab (www.pons.eu, Zugriff am 06.09.12, 14:00 MEZ). Aktive Bestrebungen zu einer systematischen Auslese und Marginalisierung kranker und behinderter Menschen an den Rand der Gemeinschaft prägten die Epoche des 19./ 20. Jahrhunderts (Jhrd.), die die Zeit der Industrialisierung, sowie beide Weltkriege einschließt.
Der Erklärung körperlicher, seelischer und geistiger Beeinträchtigungen lag eine rein medizinische Sichtweise zugrunde, die Störungen, seien sie durch genetische Einflüsse oder im Laufe des Lebens erworbener Schicksale hervorgerufen, lediglich dem Individuum zuschreibt (vgl. Hermes o. J., zit. nach Waldschmidt 2003). Sie kennzeichnet einen defizitären Zustand, der gezielte fachärztliche Behandlungs- methoden erfordert, um dem Mangel entgegenzuwirken (vgl. Hermes, zit. nach DIMDI 2002). Der Bewertung liegt ein definierter Maßstab, ein Normalzustand, zugrunde, der sich an der Konstitution der Masse der Bevölkerung orientiert (vgl. Hermes o. J., zit. nach Waldschmidt 2003).
Ausgehend von der Notwendigkeit einer professionellen Fürsorge, bestand der staatliche Auftrag darin, die bislang von den Familien gepflegten Angehörigen institutionell zu verwahren. Einerseits zielten die für die Verwahrung vorgesehenen Anstalten im Stil von Großpflegeeinrichtungen auf eine ganzheitliche familiäre Entlastung ab, andererseits sollte die gesunde, leistungsfähige Bevölkerung die Möglichkeit bekommen, vollwertig am Arbeitsleben teilzuhaben, um ihren Lebensbedarf decken zu können (vgl. Hermes, zit. nach Dörner 1999). Dem Gedanken der Segregation (lat. segregatio = Trennung) obliegt die Theorie, eine optimale Betreuung und Förderung anormaler und missgebildeter Gesellschaftsmitglieder gelinge ausschließlich auf dem Wege der Isolierung, in Form einer Massenunterbringung in denen am Rande der Städte errichteten Verwahranstalten für geistig Behinderte und psychisch Kranke, (vgl. Hermes o. J., zit. nach Polloway et al. 1996).
Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Jahr 1934 mit dem, unter Regie der Nationalsozialisten, in Kraft getretenen „Erbgesundheitsgesetz“ zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Zur Erwirkung eines systematischen und kontrollierbaren Vorgehens, wurden Frauen flächendeckend unter Zwang sterilisiert. Um den Prozess der Vernichtung unwerten Lebens zu beschleunigen, wurden gleichzeitig unheilbar kranke Insassen in den Anstalten und Familien, zuerst durch Gabe einschläfernder Medizin, später durch Erschießung und Vergasung von ihrem qualvollen Leidensweg erlöst. Ausgehend von der Sichtweise, kranke und behinderte Menschen würden ein lebensunwürdiges Dasein fristen und sich daher nach einer Befreiung von ihrem Leiden sehnen, sah man die Tötung als einen Akt humaner Menschlichkeit an. Diese Überzeugung gewann seitens weiter Teile der Fachöffentlichkeit (z.B. Kirchenbedienstete/ Mediziner/ Heimpersonal) und der Zivilbevölkerung große Anerkennung. Dem NS – Erlass fielen rund 400.000 Menschen zum Opfer (vgl. Dörner 2006).
2. Phase: Integration
Die von lateinamerikanischen Bürgerrechtlern (Vereinigungen behinderter Menschen) geforderte selbstbestimmte Lebensführung, als Reaktion auf die Diskriminierung und Entwürdigung, war mit Bestrebungen einer gemeindenahen Wohnkultur verbunden, die unter dem Leitgedanken der Normalisierung Mitte der 1970er Jahre aus den USA und Skandinavien in den deutschen Sprachraum überführt wurde (vgl. Theunissen 2002). Entsprochen wurde diesem Ansatz in Deutschland jedoch nur insofern, als dass die inhumanen Lebensumstände, welche innerhalb der Großeinrichtungen herrschten und seit der Bürgerrechtsbewegung unter scharfer Kritik standen, an den Lebensstandard und den Lebensrhythmus der umliegenden Gesellschaft angeglichen wurden (vgl. ebenda). Nirje, ein skandi- navischer Vertreter, bekräftigt dies in seiner Überzeugung, die Anpassung an eine durchschnittliche Wohnkultur einerseits, sowie die Unterstützung einer regulären biografischen Laufbahn - im Zusammenhang mit der Verwirklichung individueller Lebensentwürfe andererseits- genüge, um ein Leben so normal, wie möglich zu führen (vgl. Röh 2009, zit. nach Nirje 1994). Diese Philosophie von Eigenverantwortung und freier Entscheidung, stand jedoch im Konflikt mit den hierzulande geltenden normativen Maßstäben, welche zur Bewertung eines als angemessen erklärten Zustandes beitrugen (vgl. Röh 2009, zit. nach Thimm 2005). Bedingt durch das weitläufig vertretene Menschenbild, Behinderte seien durch ihr Handicap in einer von Barrieren geprägten Umwelt, zu einer selbständigen Lebensführung nicht in der Lage, dominierte in den Heimen eine standhaltende Praxis der Bevormundung und Fürsorge. Schlussfolgernd wurde das Machtgefälle zwischen dem Heimpersonal und dem der Hilfe Bedürfenden konstant aufrechterhalten.
Auch im Bildungssystem, in dessen Rahmen in den 1980er Jahren engagierte Elternvereinigungen die gemeinsame Beschulung bewirkten (vgl. Hermes o. J.), lag das Gewicht auf der traditionellen, medizinischen Perspektive, wodurch rigide zwischen normalen Schülern und Kindern, denen ein Mangel an kognitiven und lebenspraktischen Leistungen anlastete, unterschieden wurde (vgl. Hermes o. J.) zit. nach Hinz o. J.). Ihre Anpassung an den integrativen Unterricht war demnach an ein Mindestmaß an Leistungsvoraussetzungen geknüpft (vgl. ebenda). Trotz der geforderten generellen Rationalisierung aller Sondersysteme und Bewertungsmaßstäbe, zielte Integration auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Personengruppen ab, die zu einem früheren Zeitpunkt der Gemeinschaft bereits angehörten. Vor dem Hintergrund dieses Anspruches bewertet Hinz die Umsetzung von Integration - lat. integrare = wieder aufnehmen - (www.pons.eu, Zugriff am 18.09.12, 15:00 MEZ) - insofern als kritisch, dass bestehende Strukturen aller gesellschaftlichen Bereiche lediglich verändert, an Einstellungen bezüglich der Beurteilung von Behinderung jedoch festgehalten wird (vgl. Hermes o.J., zit. nach Hinz o. J.). Eine bedingungslose Aufnahme sei damit ausgeschlossen.
Silvia Schmidt, Behindertenbeauftragte der SPD – Bundestagsfraktion, beklagt die bis in die Gegenwart hineinreichende Wirksamkeit bestehender Sondersysteme, wie das der Förderschulen oder der Werkstätten für behinderte Menschen, die darauf aufmerksam machen, dass sie für die Teilhabe benachteiligter Gruppierungen unverzichtbar seien. Über das Ausmaß von Teilhabechancen in den Bereichen Freizeit, Wohnen, Bildung und Arbeit entscheiden ungeschriebene Normen, wonach Menschen in Abhängigkeit ihrer Ethnie, ihres Aussehens oder des sozio-ökonomischen Status‘ in Ordnungssysteme klassifiziert werden. Daraufhin obliege die vollwertige Mitgliedschaft ausschließlich der Gruppe, die der Normalität entspreche (www.silvia-schmidt.de, letzter Zugriff am 11.09.12, 15:15 MEZ).
3. Phase: Inklusion
Von einer bewusst praktizierten Selektion und der Manifestierung dichotomer Denk- und Verhaltensweisen, wendet sich der Gehalt des Inklusionsgedanken - lat. includere = einschließen - ab (www.pons.eu, Zugriff am 11.09.12, 15:30 MEZ). Stattdessen verlangt sie nach einer Auflösung normierter Teilsysteme, die zu einem ganzen Kern zusammenschmelzen sollen. Eine vereinigte Gesellschaft soll dem Anspruch gerecht werden, die Vielfalt innewohnender Kulturen und Wesenszüge nicht nur als gleichwertig anzusehen, sondern vor allem als Bereicherung im Miteinander anzuerkennen. Diesem Gleichstellungsgebot wurde in der Verfassung (GG Art. 3, Absatz 3 durch den folgenden Ergänzungssatz im Jahr 1994 Nachdruck verliehen:
Darin heißt es:
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
( Artikel 3 UN – BRK )
[...]
- Citation du texte
- Franziska Haas (Auteur), 2013, Soziale Inklusion. Integration von Menschen mit geistiger Behinderung in den Arbeitsmarkt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212991
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