Nach Ende des Ersten Weltkrieges ergab sich eine internationale Konstellation, in der sowohl das besiegte Deutschland als auch das bolschewistische Russland in eine Außenseiterrolle gedrängt wurden: Keines der vormals mächtigen Mitglieder des Europäischen Konzerts war an der Pariser Friedensordnung beteiligt, welche die Zustände in Europa regeln sollte. Um aus der gefährlichen Isolation zu entkommen, bemühte man sich auf beiden Seiten um Wiederaufnahme der abgebrochenen Beziehungen, wobei der Schwerpunkt deutscher Außenpolitik weiterhin im Westen lag.
Wie sich die deutsch-russischen Beziehungen konkret im Hinblick auf die Konferenz von Locarno gestalteten ist Thema dieser Arbeit.
Inhalt
1. Deutsch-russische Annäherung nach dem Ersten Weltkrieg
2. Deutsch-russische Beziehungen unter dem Eindruck von ‚Locarno’
2.1 Außenpolitische Ziele des Deutschen Reiches
2.2 Außenpolitische Ziele der UdSSR
2.3 Im Vorfeld von Locarno
2.3.1 ‚Dezember-Initiative’ / Das russische Vertragsangebot
2.3.2 Gespräch zwischen Stresemann und Tschitscherin
2.4 Ergebnisse der Konferenz von Locarno
2.5 Das deutsch-russische Wirtschaftsabkommen
2.6 Verhandlungen zum ‚Berliner Vertrag’
2.6.1 Fortsetzung der politischen Verhandlungen
2.6.2 Ansichten der deutschen Botschafter in London und Paris
2.6.2.1 Sthamer
2.6.2.2 Hoesch
2.6.3 Endphase der Vertragsverhandlungen
2.7 Der ‚Berliner Vertrag’
2.7.1 Inhalt
2.7.2 Reaktionen
3. Politik des Ausgleichs – Weg ins Freie oder Selbstblockade?
Quellen und Darstellungen
1. Deutsch-russische Annäherung nach dem Ersten Weltkrieg
Nach Ende des Ersten Weltkrieges ergab sich eine internationale Konstellation, in der sowohl das besiegte Deutschland als auch das bolschewistische Russland in eine Außenseiterrolle gedrängt wurden: Keines der vormals mächtigen Mitglieder des Europäischen Konzerts war an der Pariser Friedensordnung beteiligt, welche die Zustände in Europa regeln sollte.[1] Um aus der gefährlichen Isolation zu entkommen, bemühte man sich auf beiden Seiten um Wiederaufnahme der abgebrochenen Beziehungen, wobei der Schwerpunkt deutscher Außenpolitik weiterhin im Westen lag.[2] Nachdem die dringlichste Frage, die Heimführung der beiderseitigen Kriegsgefangenen, geklärt worden war, wurden wirtschafliche und militärische Kontakte intensiviert.[3] Einen ersten Höhepunkt erfuhren die wiederaufgenommenen deutsch-russischen Beziehungen in Rapallo, wo am 16. April 1922 am Rande der Konferenz von Genua ein Vertragswerk unterzeichnet wurde, das in der Weltöffentlichkeit für große Aufregung sorgte.[4] Anlass dafür war weniger der konkrete Inhalt[5], als vielmehr die Befürchtung, eines
„gegen die Versailler Ordnung gerichtete[n] Bündnis[ses] zwischen der potentiell stärksten Kontinentalmacht und der Vorhut der Weltrevolution“[6].
Damit sei auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen: Aufgrund des „Widerspruch[s] zwischen Staatspolitik und Revolutionsanspruch der UdSSR“[7] galten Verträge mit den Russen, so Erdmann und Grieser, „lediglich als ein Rahmen, der erst mit Inhalt gefüllt werden [musste]“[8]. Es knüpften sich demnach verschiedenste Erwartungen und Befürchtungen an Übereinkünfte mit dem revolutionierten Russland.
Dass die deutsche Außenpolitik jedoch vorranging nach Westen hin orientiert war, lag nicht nur an der Unberechenbarkeit der Sowjetunion, sondern vor allem auch an den umfangreicheren Möglichkeiten finanzieller und wirtschaftspolitischer Unterstützung durch die Westmächte.[9]
Inwiefern die deutsch-russischen Beziehungen im Konzept deutscher Außenpolitik dennoch eine Rolle spielten, soll im Folgenden insbesondere im Hinblick auf ‚Locarno’, das eine deutliche Westorientierung markierte und die Entfaltung der deutschen Außenpolitik in jener Zeit bestimmte[10], untersucht werden.
2. Deutsch-russische Beziehungen unter dem Eindruck von ‚Locarno’
2.1 Außenpolitische Ziele des Deutschen Reiches
Im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit, in der es zunächst einmal galt, die Existenz des Reiches zu sichern, versuchte man ab 1923 verstärkt, den alten Großmachtstatus wiederzuerlangen.[11] Die Bewahrung des inneren als auch äußeren Friedens konnte sich in Anbetracht der Realität nur als fördernd herausstellen.[12]
Im Streben nach der alten Großmachtstellung empfanden die Deutschen „Revision, vor allem territoriale Revision [des Versailler Vertrages] als unabdingbare Voraussetzung“[13].
Die Meinungen über die Umsetzung gingen dabei weit auseinander und führten zu innenpolitischen Auseinandersetzungen. Während die Anhänger Stresemanns eine friedliche Verständigungspolitik mit den Westmächten befürworteten, lehnten sich die radikalen Parteien gegen das neue internationale System auf, das unweigerlich mit der Anerkennung von Versailles verbunden war.[14]
Recht aufschlussreich ist, dass fast alle Parteien die Sowjetunion als unterstützenden Faktor im Revisionsbegehren betrachteten[15], obwohl z.B. Müller feststellt, dass die deutsche Politik der sog. Ost-West-Balance[16] zu einer Selbstblockade führte.[17]
So formulierte beispielsweise der Freiherr von Maltzan[18] bereits 1920:
„daß unsere Position der Entente gegenüber durch gradweises Ausspielen unserer Beziehungen zu Rußland gestärkt werden kann.“[19]
Hildebrand spricht hierbei von einer „Außenpolitik der verschlungenen Trennung“[20].
Eine Annäherung an Russland bedeutete erhöhten Druck auf Frankreich und dessen Verbündete, allen voran Polen.[21] Es gab durchaus deutsche Stimmen, v.a. innerhalb der Reichswehr und der politischen Rechten, die auch einem militärischen Bündnis mit Russland nicht abgeneigt gegenüber standen, um die Korrektur der Ostgrenzen einzufordern. Doch Stresemanns Außenpolitik war dadurch gekennzeichnet,
„daß sie (…) der Einbindung in Allianzen entging“ und „niemals Zweifel darüber aufkommen [ließ], daß Deutschland wirtschaflich und gesellschaftlich fest im westlichen System verankert war“[22].
Dadurch ergab sich auch das Fernziel, Russland für den Westen zurückzugewinnen.[23]
Als problematisch erwies sich der Zeitfaktor, in dem Zugeständnisse, was die Revision des Versailler Vertrages anbelangte, friedlich erreicht werden konnten.[24] Man versuchte deshalb, die internationale Verständigung auf wirtschaftlicher Ebene voranzutreiben und dadurch machtpolitischen Einfluss zu gewinnen.[25]
2.2 Außenpolitische Ziele der UdSSR
Spätestens nach dem missglückten ‚deutschen Oktober’ 1923 wurde den kommunistischen Anhängern bewusst, dass von der Idee einer umgehenden, von Deutschland ausgehenden Weltrevolution Abschied zu nehmen sei.[26] Fortan gingen die Bemühungen primär dahin, sich im eigenen Land zu konsolidieren und den Einfluß v.a. in Asien auszuweiten.[27] Gegenüber Europa galt es die Front zu sichern, folglich eine Außenpolitik zu betreiben, welche die revolutionären Ideen nicht in Vergessenheit geraten ließ, aber in erster Linie Sicherheit und Koexistenz mit sich brachte.[28]
Hauptaufgabe des Außenkommissariats war es folglich, eine kapitalistische Einheitsfront zu verhindern, die die Existenz des jungen Sowjetstaates bedrohen konnte und die man gerade im Völkerbund unter der Führung Großbritanniens zu erblicken glaubte.[29]
Von enormer Wichtigkeit war für die Sowjetunion in diesem Zusammenhang die Position, die Deutschland einzunehmen vermochte, schon allein aufgrund seiner geographischen Mittellage. Sollte es erneut zu einem sowjetisch-polnischen Konflikt kommen, hing vieles davon ab, ob Deutschland den französischen Truppen den Durchzug erlauben bzw. sogar selbst einschreiten würde.[30] Die gemeinsame anti-polnische Stoßrichtung wurde schließlich zum Anknüpfungspunkt, um Deutschland zu umwerben.
2.3 Im Vorfeld von Locarno
2.3.1 ‚Dezember-Initiative’ / Das russische Vertragsangebot
Im Laufe des Jahres 1924 eröffneten sich dem Deutschen Reich gleich mehrere Möglichkeiten, Anschluss und eine stärkere Einbindung im Westen zu erfahren. Die Amerikaner zeigten größere Bereitschaft, sich auf dem europäischen Schauplatz zu engagieren und waren ausschlaggebend für den Dawes-Plan, der eine Neuregelung der Reparationen sowie eine internationale Anleihe zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft vorsah.[31] Zudem eröffneten die Briten die Aussicht eines deutschen Beitritts zum Völkerbund.[32]
[...]
[1] Vgl. Beitel, Werner / Nötzold, Jürgen: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen in der Zeit der Weimarer Republik, Baden-Baden 1979, S. 23. Baumgart spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚Schicksalsgemeinschaft’ auf Zeit“. Baumgart, Winfried: Deutsche Ostpolitik 1918-1926, in: Fischer, Alexander u.a. (Hrsg.): Russland – Deutschland – Amerika. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 17), Wiesbaden 1978, S. 250.
[2] Vgl. Niedhart, Gottfried: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 22006, S. 12; Hildebrand, Klaus: Das Deutsche Reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918-1932. Legitimität oder Revolution? (Frankfurter Historische Vorträge, Heft 4), Wiesbaden 1977, S. 24.
[3] Vgl. Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918-1926, S. 250 f.; 254.
[4] Vgl. Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 15.
[5] Es wurden im Grunde lediglich der Verzicht auf gegenseitige Ansprüche aus dem Krieg und die Wiederaufnahme bzw. Verstärkung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen erklärt. Vgl. Linke, Horst Günther (Hrsg.): Quellen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917-1945, Darmstadt 1998, S. 109 ff.
[6] Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 89.
[7] Hildebrand: Das Deutsche Reich und die Sowjetunion, S. 29. Dieser Widerspruch zeigte sich v.a. im Jahr 1923, als das Reich einerseits von der russischen Regierung im Ruhrkampf unterstützt wurde und es andererseits aber zu kommunistischen Aufständen in Deutschland kam, die von Moskau aus gelenkt wurden.
[8] Erdmann, Karl Dietrich / Grieser, Helmut: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit der Weimarer Republik als Problem der deutschen Innenpolitik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 26 (1975), S. 403.
[9] Vgl. Niedhart, Gottfried: Locarno, Ostpolitik und die Rückkehr Deutschlands in die internationale Politik nach den beiden Weltkriegen, in: derselbe u.a. (Hrsg.): Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 6.
[10] Vgl. Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, S. 301.
[11] Vgl. Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, S. 433, 439; Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 11, 18.
[12] Vgl. Niedhart, Gottfried: Locarno, Ostpolitik und die Rückkehr Deutschlands in die intern. Politik, S. 3.
[13] Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918-1926, S. 253.
[14] Vgl. Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 20 f.
[15] Vgl. Erdmann / Grieser: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen, S. 407 ff.
[16] Dieser Terminus ist in der Forschung sehr umstritten. Von einer Politik der Ost-West-Balance sprechen z.B. Beitel / Nötzold: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 22, Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich, S. 459, 472 und Müller, Guido: „Außenpolitik ohne Eigenschaften?“ Der russische Faktor in der deutsch-französischen Annäherung 1922/23-1932, in: Mieck, Ilja / Guillen, Pierre (Hrsg.): Deutschland – Frankreich – Rußland. Begegnungen und Konfrontationen, München 2000, S. 181; Kritik daran üben Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, S. 318 und Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 90.
[17] Vgl. Müller: „Außenpolitik ohne Eigenschaften?“, S. 210.
[18] Zu diesem Zeitpunkt noch Legationsrat, später Leiter der Ostabteilung und Staatssekretär. Vgl. Walsdorff, Martin: Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, Bremen 1971, S. 43.
[19] Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945. Serie A: 1918-1925; Serie B: 1925-1933, Göttingen 1966-1995, A III, Nr. 13, S. 32.
[20] Hildebrand: Das vergangene Reich, S. 465.
[21] Aus diesem Grund war eine Annäherung Russlands an die Franzosen unbedingt zu vermeiden.
[22] Hildebrand: Das Deutsche Reich und die Sowjetunion, S. 18.
[23] Vgl. Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 91.
[24] Vor allem Frankreichs ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis stand dem Zustandekommen einer endgültigen Regelung oftmals im Wege. Vgl. Ebenda, S. 63 f.
[25] Vgl. Müller: „Außenpolitik ohne Eigenschaften?“, S. 183 f. Stresemann betonte immer wieder, wie wichtig es sei, „politische Fragen auf wirtschaftlichem Wege zu lösen“. ADAP B I/1, S. 730.
[26] Vgl. Rosenfeld, Günter: Sowjetunion und Deutschland 1922-1933, Köln 1984, S. 61.
[27] Vgl. Hildebrand: Das Deutsche Reich und die Sowjetunion, S. 9.
[28] Vgl. Ebenda, S. 10 f. Zum Konflikt kam es dabei bezüglich China, als sich dort sowjetische und englische Interessen im Weg standen und die Spannungen auf Europa zurückwirkten.
[29] Vgl. Walsdorff: Westorientierung und Ostpolitik, S. 61.
[30] Vgl. Beitel / Nötzold: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 21.
[31] Vgl. Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 18 f.
[32] Vgl. Walsdorff: Westorientierung und Ostpolitik, S. 61.
- Citation du texte
- Melanie Huber (Auteur), 2011, Deutsch-russische Beziehungen unter dem Eindruck von 'Locarno', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212726
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