Juvenile Lebenswelten als Produkt rasanter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beschreiben einen zunehmend ambivalenten Charakter. Einerseits generieren pluralisierte Handlungsspielräume eine Optionsvielfalt und vielerlei Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, andererseits ist der bildungsbasierende Erwartungsdruck in Verbindung mit Entscheidungszwängen enorm hoch. Unverbindlichkeit und zukunftsweisende Selektion produzieren Orientierungsprobleme und Unsicherheiten, die nicht zuletzt durch eine mediale Überpräsenz zur sinkenden Selbstständigkeit der Heranwachsenden beitragen. Der erwartete Nutzen eines Sportvereinengagements gestaltet sich im Hinblick auf die erhöhte Varianz jugendlicher Lebensläufe und gleichzeitigem Anstieg der Entwicklungsaufgaben sowohl aus Sicht der Jugendlichen, als auch seitens der gestalterischen Funktionäre vielschichtig. Auf diesem Weg der gesunden Sozialisation im Bereich des Sports dienen personenbezogene Kompetenzen als unabdingbare Hilfsmittel zur Bewältigung differenzierter Lebensaufgaben.
Das Setting Sportverein kann durch sportlichen Trainingsalltag, außersportliche Jugendarbeit und vereinsorganisatorische Aspekte den Weg zur Kompetenzvielfalt eröffnen, muss zugleich aber den Automatismus einer erfolgreichen und nachhaltigen Interaktion mit Kindern und Jugendlichen durch gezielte Aktivierung ersetzen. So mag ein Engagement von Jugendlichen in der Trainingsgestaltung erfreulich scheinen, entwicklungsfördernde, wertvolle Jugendarbeit ist dagegen ohne Qualifikation nur schwer realisierbar. Im Spannungsfeld von Tradition und Modernisierung steht der Sportverein nicht als separierte Konstruktion innerhalb der Förderungsinstanzen Heranwachsender, sondern ist vielmehr und idealtypisch in ein Netzwerk formaler Bildungsinstitutionen, Verbänden und anderer Vereine eingebunden. Insbesondere im Hinblick auf leere Vereinskassen und erschöpfte finanzielle Ressourcen der Kommunen bieten die Zusammenschlüsse von Sportvereinen eine mögliche Alternative. Die Kooperation mit Ganztagsschulen und besonders mit Schulen des niederen Bildungswesens kann der sozialen Determinierung entgegenwirken und somit das oftmals postulierte Versprechen der sozialen Öffnung und Chancengleichheit einlösen
INHALTSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
1.1 ZUR FRAGESTELLUNG UND METHODIK DER ARBEIT
2 WESENTLICHE PARAMETER SPORTVEREINS- UND JUGENDZENTRIERTER DIMENSIONEN
2.1 DIE HISTORISCHE KOMPONENTE
2.1.1 ZUR ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN SPORTVEREINSWESENS
2.1.2 ZUR DIFFERENZIERTHEIT JUGENDLICHER EXISTENZ
2.1.3 ZUR ETABLIERUNG DER KINDER- UND JUGENDARBEIT
2.1.4 ZUSAMMENFASSUNG
2.2 DIE GESELLSCHAFTLICHE-POLITISCHE KOMPONENTE
2.2.1 ZUR SOZIALKATEGORISCHEN REFLEXION IM SPORT
2.2.2 ZUM MIGRATIONSFAKTUM UND INTEGRATIONSPOTENZIAL DES SPORTS
2.2.3 ZUM POLITISCHEN ENGAGEMENT IM SPORTLICHEN SEKTOR
2.2.3.1 GESETZESLAGE
2.2.3.2 SPORTFÖRDERUNG
2.2.4 ZUSAMMENFASSUNG
2.3 DIE SPORTLICHE-PSYCHOLOGISCHE KOMPONENTE
2.3.1 ZUM SPORTLICHEN SOZIALISATIONSSPEKTRUM
2.3.2 ZUR RESSOURCE DES SELBSTKONZEPTS UND DER SELBSTWIRKSAMKEIT
2.3.3 ZUSAMMENFASSUNG
3 KOMPETENZORIENTIERTE JUGENDARBEIT IM SETTING SPORTVEREIN
3.1 ZUM KOMPETENZBEGRIFF
3.2 ZUR HETEROGENITÄT DER SPORTVEREINE ALS SETTINGS JUGENDLICHER BILDUNG
3.2.1 STRUKTURMERKMALE DER SPORTVEREINE
3.2.2 INFORMELLE LERNPROZESSE IM SPORT
3.3 ZUR NUTZUNG SPORTLICHER BILDUNGSPOTENZIALE
3.3.1 TRAINER UND ÜBUNGSLEITER ALS KOMPETENZAGENTEN
3.3.2 PRODUKTIVE PARTIZIPATION ALS KOMPETENZFELD DER SPORTLICHEN UND AUßERSPORTLICHEN JUGENDARBEIT
3.3.3 ZUGANGS- UND KONTINUITÄTSOPTIMIERUNG DURCH KOOPERATIONEN
4 FAZIT
4.1 MÖGLICHE IMPLIKATIONEN FÜR DIE VEREINSPRAXIS
4.2 KRITIK UND AUSBLICK
ABBILDUNGSVERZEICHNIS UND INTERNETRESSOURCEN
LITERATURVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
Juvenile Lebenswelten als Produkt rasanter gesellschaftlicher Wandlungs- prozesse beschreiben einen zunehmend ambivalenten Charakter. Einerseits generieren pluralisierte Handlungsspielräume eine Optionsvielfalt und vielerlei Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, andererseits ist der bildungsbasierende Erwartungsdruck in Verbindung mit Entscheidungszwän- gen enorm hoch. Unverbindlichkeit und zukunftsweisende Selektion produzieren Orientierungsprobleme und Unsicherheiten, die nicht zuletzt durch eine mediale Überpräsenz zu sinkender Selbstständigkeit der Heranwachsenden beitragen. Der erwartete Nutzen eines Sportvereinsenga- gements gestaltet sich im Hinblick auf die erhöhte Varianz jugendlicher Lebensläufe und gleichzeitigem Anstieg der Entwicklungsaufgaben sowohl aus Sicht der Jugendlichen, als auch seitens der gestalterischen Funktionäre vielschichtig. Auf diesem Weg der gesunden Sozialisation im Bereich des Sports dienen personenbezogene Kompetenzen als unabdingbare Hilfsmittel zur Bewältigung differenzierter Lebensaufgaben.
Das Setting Sportverein kann durch sportlichen Trainingsalltag, außersportli- che Jugendarbeit und vereinsorganisatorische Aspekte den Weg zur Kompetenzvielfalt eröffnen, muss zugleich aber den Automatismus einer erfolgreichen und nachhaltigen Interaktion mit Kindern und Jugendlichen durch gezielte Aktivierung ersetzen. So mag ein Engagement von Jugendli- chen in der Trainingsgestaltung erfreulich scheinen, entwicklungsfördernde, wertvolle Jugendarbeit ist dagegen ohne Qualifikation nur schwer realisier- bar. Im Spannungsfeld von Tradition und Modernisierung steht der Sportver- ein nicht als separierte Konstruktion innerhalb der Förderungsinstanzen Heranwachsender, sondern ist vielmehr und idealtypisch in ein Netzwerk formaler Bildungsinstitutionen, Verbänden und anderer Vereinen eingebun- den. Insbesondere im Hinblick auf leere Vereinskassen und erschöpfte finanzielle Ressourcen der Kommunen bieten die Zusammenschlüsse von Sportvereinen eine mögliche Alternative. Die Kooperation mit Ganztagsschu- len und besonders mit Schulen des niederen Bildungswesens kann der sozialen Determinierung entgegenwirken und somit das oftmals postulierte Versprechen der sozialen Öffnung und Chancengleichheit einlösen.
Die richtungsweisenden Studien und Forschungsansätze der Gebiete Sport, Verein und Jugend, die sich explizit mit sportlicher Jugendarbeit auseinan- dersetzen oder dieses Feld tangieren (u.a. BRETTSCHNEIDER 2002,2003; CACHAY & HARTMANN-TEWS 1998; CACHAY & THIEL 2000; DEUTSCHE SHELL 2002,2010; HURRELMANN 2004; LIEBSCH 2012, MUTZ 2012; SCHMIDT 2003), insbesondere aktuelle Beiträge zum Bildungspotenzial des Sports (KRÜGER & NEUBER 2011), zu informellen Lernprozessen, zum Kompetenzerwerb innerhalb sportlicher Settings (NEUBER 2010, NEUBER et.al. 2010) sowie Untersuchungen des Freizeitpotenzials (u.a. HARRIG 2011) und Forschungsergebnisse zum Kompetenzerwerb durch freiwilliges Engagement (u.a. DÜX & SASS 2008) lassen trotz un übersichtlich scheinen- den Daseins eine fundamentale Tatsache konstatieren: Die gesellschaftliche Relevanz bildungs- und jugendfokussierter Thematik. Jugendarbeit im Sportverein ist somit Teil einer reformierten Bildungsdebatte, die von einer Fixierung auf institutionalisierte Bildungsorte absehen und die ganzheitliche, körperlich-sinnliche, ästhetische und soziale Bildungsperspektive mit Blick auf die Interdependenz aller Bildungsorte berücksichtigen muss (vgl. NEUBER et.al. 2010, S. 15).
Insgesamt rührt die Attraktivität des Themas neben dem stets variierenden Forschungsgegenstand juveniler Lebenswelten vom vorauseilenden Ruf der Sportvereine, entwicklungsfördernde Leistungen par excellence zu vollbrin- gen und somit einen enormen Beitrag zur Bildungsdebatte zu leisten. Das Bildungspotenzial der Sportvereine ergibt sich, im Gegensatz zu formalisier- ten Bildungsangeboten, aus einem signifikant höheren Autonomiezuge- ständnis, das von Sportvereinen in sportlicher und außersportlicher Hinsicht gezielt und fundiert genutzt werden kann. Wenngleich grundsätzliche und uneingeschränkt geltende positive Zusammenhänge zwischen Sportver- einsmitgliedschaft und persönlicher Entwicklung relativiert werden müssen (BRETTSCHNEIDER & KLEINE 2002), obliegt den Sportvereinen nach wie vor das Bindungsmonopol der Heranwachsenden. Dabei bewegen sich die Vereine im Spannungsfeld unverbindlichen Sporttreibens und pädagogisch gehaltvoller Jugendarbeit (vgl. HURRELMANN 2004, S. 135; NEUBER et.al. 2010, S. 16) sowie den scheinbar bestehenden Antagonismen von Autono- mie und Ehrenamt, Tradition und Moderne, Leistungs- und Freizeitgesell- schaft. Die Herausforderung besteht zunehmend darin, den demographi- schen und gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen, die Degression sozialer Bewertungsmuster voranzutreiben, die Einbindung migrationsgeschichtlicher Sportprofile zu bewerkstelligen und dem pluralisier- ten Potenzial des jugendlichen Sporttreibens und der individuell gestaltbaren Freizeit ein möglichst attraktives Konstrukt eines durch Erwachsene Akteure geschaffenen Sportvereins anzubieten. Dabei müssen sowohl veränderte Sportbiografien, als auch ein differenziertes Sportverständnis berücksichtigt werden. Den zunehmenden Kontinuitätsverlust in der Mitgliederstruktur verdeutlichen vielfältige Milieus leistungs-, sozial-, fitness-, breitensportorien- tierter sowie sportautonomer Sportprofile, die in ihrer Konsequenz hohe Anpassungsleistungen der Sportvereine auf den Sportnutzer 2020 erfordern. Zudem trägt der Fluktuationsfaktor, der sich zuungunsten der Vereine, aber nicht des Sports manifestiert, zum Verlust beständiger Vereinskarrieren bei (vgl. BRETTSCHNEIDER & KLEINE 2002, S. 344- 349; 102f.).
1.1 Zur Fragestellung und Methodik der Arbeit
Das Anliegen der nachfolgenden Ausarbeitung gliedert sich in folgende Teilaspekte, die in ihrer Koexistenz einen interdependenten Zusammenhang mit sportvereinsorientierter Jugendarbeit beschreiben. Jugendarbeit im Sportverein setzt Kenntnisse über Jugendliche, deren gegenwartsorientierte Entfaltung sowie individuelle Entwicklungspotenziale voraus (vgl. DSJ 2002, NEUBER et.al. 2010). Zudem muss das Setting Sportverein als historisch gewachsene Institution im Aufbau und mit seinen Besonderheiten verstanden werden. Daher sollen die äußeren und inneren Voraussetzungen sportver- einsgebundener Jugendarbeit aufgezeigt werden, die sich in gesellschaftspo- litische, jugend- und sportfokussierte sowie vereinsstrukturelle Dimensionen subsummieren (Bedingungsebene). Vorrangig geht es hierbei um die historische Genese des Sportvereinswesens und der Kinder- und Jugendar- beit, dar über hinaus um die Beschaffenheit der Lebensphase Jugend, soziale und ethnische Unterschiede im Sportzugang, politische Einflussfaktoren sowie Strukturmerkmale der Sportvereine. Der in Ausprägung und Akzentuie- rung differenzierte Facettenreichtum sportvereinsgebundener Jugendarbeit bildet den zweiten Kernpunkt der vorliegenden Arbeit und soll sportliche und außersportliche Förderungspotenziale personaler Kompetenzen aufzeigen und theoretisch rahmen (Inhaltsebene). Dabei impliziert personale Kompe- tenz als Teil eines personenbezogenen Kompetenzspektrums zudem soziale Kompetenzen. Der Sportverein ist in vielerlei Hinsicht durch seine duale Beschaffenheit gekennzeichnet. Einerseits bieten sportliche Handlungen selbst einen Beitrag zur motorischen und psychischen Leistungsfähigkeit, auf der anderen Seite können mögliche Transferwirkungen im Hinblick auf ein sozial agiles Individuum ermöglicht werden. Hier sind es vor allem die Trainer und Übungsleiter, die über eine erfolgreiche Kompetenzinternalisierung bestimmen. Ein weiterer Aspekt nach dieser Leseart stellt das grundsätzliche zweigeteilte Handlungsfeld vereinsgebundener sportlicher und außersportli- cher Partizipation dar. Dadurch eröffnet sich den Jugendlichen eine informel- le Raumvielfalt zwischen sportlicher Inszenierung und organisatorischen Aufgaben, die durch gezielte Steuerung des Vereins erfahren werden kann. Inwiefern der Sportverein als zeitgemäße, unterstützende und fördernde Instanz jugendliche Entwicklung beeinflussen kann und welchen Schwierig- keiten dieser Anspruch unterliegt, wird unter Berücksichtigung eigener Erfahrungen zu prüfen sein. Auf sportlicher Ebene konkretisiert sich das Anliegen im möglichen Beitrag der Lehrperson auf die nachhaltige Förderung personaler Ressourcen bei den Jugendlichen in Trainingssituationen. Die vereinsinterne, organisatorische Ebene widmet sich der Frage nach möglichen Partizipationsfeldern einer produktiven Jugendarbeit in sportlichen und außersportlichen Aufgabenfeldern der Planung, Organisation und Verantwortungs übernahme. Eine dritte, gesamtkontextuelle, strukturzentrier- te Ebene konzentriert sich auf den Zusammenhang oder die Notwendigkeit von Kooperationen sowohl mit Ganztagsschulen, als auch mit anderen Sportvereinen oder Drittanbietern. Zusammenfassend will die vorliegende Ausarbeitung einen mit zentralen Einflussgrößen bestückten Bezugsrahmen vereinsinterner Jugendarbeit schaffen, der durch eine Mehrebenenanalyse von Förderungsmöglichkeiten der Jugendlichen in Sportvereinen ergänzt werden soll.
2 WESENTLICHE PARAMETER SPORTVEREINS- UND JUGENDZENTRIERTER DIMENSIONEN
2.1 Die historische Komponente
2.1.1 Zur Entwicklung des deutschen Sportvereinswesens
Bereits der Philanthrop Johann Christoph Gutsmuths formulierte in seiner pädagogischen Schrift Gymnastik für die Jugend aus dem Jahre 1793 die [ … ] unumst öß liche Wahrheit, da ß der Mensch von der Natur dazu bestimmt sey, nicht blo ß geistig, sondern auch körperlich thätig, ausdauernd und duldsam zu seyn, und da ß nichts in der Welt, weder Stand, noch Reichtum, noch Ehre, noch Tugend ihn vor den übeln Folgen schützen können, die aus körperlicher Verzärtelung, Trägheit und Ruhe für ihn entspringen [ … ] (aus DENK 1981, S. 83). Diese wegbereitende Erkenntnis begriff Friedrich Ludwig Jahn als inspiratorischen Nutzen und leitete etwa seit 1811 die außerschulische Bewegungsvielfalt auf der Hasenheide in Berlin an, welche neben den heute bekannten Turn übun- gen das Laufen, Springen und Werfen sowie Bewegungsformen zum Klettern, Balancieren und Ringen enthielt. Die Zielsetzung bestand darin, im Zusammenwirken Vieler beim gemeinsamen Turnen eine patriotische, ausschließlich männliche Jugend zu Staatsbürgern und Verteidigern des Vaterlandes in Zeiten des napoleonisch besetzten Deutschlands zu erziehen ( vgl. KRÜGER 2005a, S. 67 ). Neben Schülern schlossen sich Studenten und junge Handwerker dem freien, turnerischen Kollektiv an, dessen einheitliche, funktionale Kleidung Gemeinschaftsgefühl generierte und die standesunab- hängige Anrede „ Du “ in bewusster Abgrenzung zu elitär-konservativen Kreisen gepflegt wurde (vgl. LANGENFELD 1986, S. 19). Jenes Organisati- onsmodell der frei zugänglichen Turnanstalt transferierte sich alsbald auf andere preußische Städte und deutsche Staaten, so dass 1815 nahezu 150 deutsche Städte das Modell Jahns übernahmen (LANGENFELD 1988, S. 20). Der meist jugendliche Turnleiter bildete seine Vorturner aus, der wiederum den Turnbetrieb unterschiedlicher Altersgruppen übernahm. Die von Jahn formulierten Turngesetze formten neben dem detaillierten Übungs- betrieb, den Verhaltensrahmen aller Mitglieder, der sich durch christlich- moralische Sittsamkeit, Kameradschaft und gutes deutsches Benehmen ausdrückte. Der demzufolge generierte Gemeinsinn trug zur noch nicht andauernd manifestierten Bezeichnung Turnergesellschaft oder Turnerverein der auf einem Platz gemeinsam Turnenden bei (vgl. DERS. 1988, S. 20). Die Charakteristik der Zusammenschlüsse jener Zeit lassen bereits Parallelen zu heutigen organisierten Sportinstanzen erkennen, wenngleich die intentionale Ausrichtung eine gänzlich andere war. Für den regelmäßigen, freiwilligen Übungsbetrieb in leistungshomogenen Gruppen wurde ein jährlicher Geldbetrag erhoben, das gesellige Beisammensein beispielsweise auf Turnfahrten, die Gleichberechtigung der Jugend sowie bescheidene marketingstrategische Ansätze nahmen einen vergleichsweise hohen Stellenwert ein (vgl. LANGENFELD 1986, S. 20; DERS. 1988, S. 21). Die seitens der Obrigkeit eingeschlagene politische Zielsetzung, nationales und liberales Gedankengut zu blockieren, traf auch die Turner. Die Essenz der Jahn’schen Turngesetze einer frischen, frommen, fröhlichen, freien und vor allem deutsch-nationalen Ausrichtung führte schließlich 1819 aufgrund der befürchteten Bedrohung restaurationsbestrebender Kräfte zum Verbot freier turnerischer Aktivitäten auf öffentlichen Turnplätzen. Das Pseudonym Gymnastik stand künftig sinngemäß für die Jahn’schen Bewegungsformen und fand, vom ideologischen Beiwerk gesäubert, fortan in privatem Umfeld und teilweise an höheren Schulen statt. Voraussetzung für den Übungsbe- trieb war der städtische oder privat finanzierte Turnsaal sowie ein mit notwendigem Turnmobiliar und Bahnmarkierungen ausgestatteter Turnplatz (vgl. LANGENFELD 1988, 20). Neben der Entwicklung des Turnens können seit den 1820er Jahren anfängliche Tendenzen einer im engeren Sinne sportlichen Entwicklung bezeugt werden. Im Zuge der wirtschaftlichen Verbundenheit mit England gelangten das Rudern und der Pferdesport nach Deutschland, deren Entwicklungen in der regelmäßigen Austragung von Pferderennen sowie der Gründung erster deutscher Rudervereine gipfelten (vgl. DERS. 1988, 21). Mit der Auflösung dieser sogenannten Turnsperre 1842 wurde die Herausbildung traditioneller, größtenteils städtischer Vereine begünstigt, welche die Organisation und Finanzierung des Turnens über- nahmen. Im Gegensatz zu den Jahn’schen Turngemeinden wurde dieser Impuls durch bürgerliche Handwerker und Gewerbetreibende ausgelöst, die sich in berufsbezogenen Interessenvereinen oder Geselligkeitsvereinen zusammenschlossen, deren erzieherische, tugendhafte sowie norm- und werteorientierte Ausrichtung im Sinne Jahns erhalten blieb (vgl. KRÜGER 2005a). Zudem organisierten sich Erwachsene zum gemeinsamen Turnen in andauernden Zusammenschlüssen als Turngemeinde oder Turninnung, welche in Ausnahmefällen ebenso Jugendliche aufnahmen, die sich in den Männerriegen turnerisch betätigten (vgl. LANGENFELD 1986, vgl. NAUL 2000). Die vereinsinternen Strukturen dieser Interessengemeinschaften bauten sich alsbald aus. Mitglieder wurden durch Abstimmung ausgewählt, Satzungen legten Rechte und Pflichten fest, die vom Turnrat delegierten Mitglieder nahmen interne Aufgaben des Vereins wahr. Die durch den Abstimmungsprozess zur Aufnahme neuer Mitglieder entstandene Distinktion der Vereine verdeutlicht tendenziell den Charakter einer an Gesinnung orientierten Gemeinschaft. In finanzieller Hinsicht spielten sogenannte „Turnfreunde“, die passiven Mitglieder der Vereine, meist aus höheren sozialen Schichten stammend, eine bedeutende Rolle. Sowohl das notwen- dige Geschick einer angemessenen, öffentlichen Präsentation der Vereins- ideale, als auch die Finanzierung der Vereinsobliegenheiten ließen die Turnfreude zum stabilen kontinuitätsfördernden Moment des Vereins werden (vgl. LANGENFELD 1988). Ferner zeigte sich Mitte der 1840er Jahre, dass neben privaten Initiativen zur Förderung des jungen Vereinswesens, die Zusammenarbeit zwischen Schule und Verein sowie insbesondere eine Akzentuierung der Vereinsjugend, unabdingbare Voraussetzungen eines dauerhaften Vereinsbestands waren. Die turnerische Ausbildung war, im Gegensatz zur breiten Masse an Volksschülern, der gymnasialen Jugend vorbehalten. Im Schulturnerlass von 1842 wird die formale Grundlage zur Einführung des Schulturnens an höheren preußischen Schulen geschaffen. Demzufolge sollten Turnvereine fortan die Leibesertüchtigung der Volks- schuljugend übernehmen. Auf Anregung vieler Volksschullehrer, die Zusammenarbeit von Schule und Verein zu intensivieren, entstanden vereinseigene Jugendabteilungen, welche die obrigkeitsstaatlichen Ziele einer allgemeinen körperlichen Ertüchtigung erfüllten sowie den Weiterbe- stand des Vereins sicherten (NAUL 2000). Der lose Verband einzelner Turngemeinschaften wurde 1848 mit der Gründung des Deutschen Turner- bundes zusammengefasst, der sich in seiner Zielsetzung der Verbreitung und Förderung des deutschen, vaterländischen Turnens verschrieb. Die seit dem Revolutionsjahr 1848 erlassene Vereinsfreiheit ermöglichte eine zunehmende Polarisierung vereinspolitischer Ausrichtungen in radikal- demokratische und nationale-liberale Ansätze. Der neben dem Deutschen Turner-Bund entstandene Demokratische Turner-Bund verdeutlicht diese Tendenzen. Im Zuge der gescheiterten Revolution wuchs das Misstrauen der Obrigkeit gegen über politisch bedenklicher Vereine, welche per Gesetz unter Aufsicht gestellt wurden. In Folge dessen lässt sich zu Beginn der 1850er Jahre die Auflösung vieler Turnvereine konstatieren. Erst die außenpoliti- schen Spannungen zu Beginn der 1860er Jahre und insbesondere die Auseinandersetzung mit Dänemark im Jahre 1864 entfachten erneute patriotische Gesinnungen, die sich in der wehrhaften, vaterländischen Ausrichtung der zu dieser Zeit neugegründeter Turnvereine verdeutlichen. Der paramilitärische Charakter jener Turnvereine, die sich nunmehr neben turnerischer Leibesertüchtigung durch Waffen übungen einer kriegerischen Intervention verschrieben, wurde durch den raschen Sieg des regulären Militärs ad absurdum geführt (vgl. LANGENFELD 1986, 1988). In der Folgezeit etablierte sich das Turnen, nicht zuletzt durch ministeriale Erlasse, in schulischen Einrichtungen, zudem weitete sich die Kooperation zwischen der 1868 gegründeten Deutschen Turnerschaft (DT) und den Turnlehrern aus. Gleichwohl ist der Rückgang aktiver Turner aus den Vereinen zu verzeichnen, deren politische Ausprägung zunehmend an Substanz verlor. Die Entpolitisierung der Turnvereine begründet sich durch das Aufkommen von Kriegsvereinen und der Entstehung einer Berufsarmee, welche die nationalerzieherischen Ziele adäquater verkörperten. Die Führungsstruktur der Vereine wurde dahingehend reformiert, als sich der ehemalige Sprecher, neben bestehendem Turnrat, zum eigenständigen Organ des ersten Vorsitzenden wandelte (vgl. LANGENFELD 1988). Zum Ende des 19. Jahrhunderts etablierten sich die durch englischen Einfluss entstandenen, in der Anfangsphase meist exklusiven Clubs jener, die sich an den englischen „sports1 “ beteiligten. Diese fortschrittliche Körperkultur mit neuen, in England bereits betriebenen Leibes übungen, sei es Rudern, Segeln, Radfahren oder Tennis, hob das Monopol der deutschen Turnerschaft von Organisation der Leibes übungen auf (KRÜGER 2005a). Sofern das reaktionäre Verhalten der Turnvereine durch Aufgeschlossenheit und Offenheit hinsichtlich der neuen Sportarten gekennzeichnet war, entstanden vielerorts neben der bestehen Turnabteilung weitere Spiel- und Sportsparten. Um die Jahrhundertwende wurde die Organisation des Spiel- und Wettkampfbetriebes sowie die Gestaltung einheitlicher Regelbestimmungen in die Obhut von neugegründe- ten Dachverbänden gegeben. So entstanden u.a. der Deutsche Ruder- Verband (1883), die Deutsche Sportbehörde für Leichtathletik (1898) sowie der Deutsche Fußball-Bund (1900), deren Ziele sich im Gegensatz zur früheren nationalerzieherischen Ausrichtung der Turnvereine im Wettkampf, Leistungsdenken und Rekordstreben ausdrückten. Der Gemeinschaftssinn sowie die Identifikation mit dem Verein wurden überdies durch einheitliche Kleidung, Vereinsfahne, gemeinsames Liedgut und demokratische Entschei- dungsstrukturen gefördert. Mitgliederbeiträge und ehrenamtliches Engage- ment unterstützten Wartung und Pflege der teils vereinseigenen Sportstätten und förderten den Fortbestand der Sportclubs. Die wachsende Bedeutung der schulischen Leibes übungen machte es zudem möglich, die vermehrt entstandenen städtischen Hallen und Plätze ausserhalb des Schulbetriebes zu nutzen (vgl. NAGEL 2006). Diese kamen insbesondere den Jugendlichen zugute, die sich durch gesteigertes Freizeitvolumen in den durch zunehmen- de Vereinskonkurrenz entstandenen Jugendabteilungen organisierten (vgl. NAUL 2000, S. 169). Nachdem die Stagnation der Turn- und Sportentwick- lung während des ersten Weltkrieges überwunden war, folgte in der Weimarer Zeit eine beträchtliche qualitative und quantitative Aufschwung- phase der Turn- und Sportbewegung. Eng verbunden mit der Förderung des organisierten Sports war der Deutsche Reichsausschuss für Leibes übungen (DRA), welcher den Ausbau der Sportstätten sowie die gesellschaftliche Akzeptanz des Vereinssports voranbrachte. Der Handlungsspielraum vieler Vereine wurde durch finanzielle Unterstützung seitens der Städte und Gemeinden ausgeweitet, was nicht zuletzt der Kinder- und Jugendbetreuung in Form zusätzlicher Spielnachmittage und außerschulischer Sportaktivitäten Wetten, Wettkämpfen, Leistungs- und Rekordstreben zu tun.“Aus: Krüger, 2005b, S. zugutekam (KRÜGER 2005b). Des Weiteren wurde die fachliche Ausbildung für Übungsleiter und Trainer an der Deutschen Hochschule für Leibes übun- gen in Berlin ermöglicht. Auf Verbandsebene sind durch die stetig gewach- senen Obliegenheiten und Zuständigkeiten die ersten hauptamtlichen Stellen zu verzeichnen. Neben dieser positiven Entwicklung kam es in den 1920er Jahren zur tiefgreifenden ideologischen Zersplitterung innerhalb der Vereine, die das gespaltene Gesellschaftsbild eines bürgerlichen und proletarischen Lagers widerspiegelte (vgl. NAGEL 2006). Auf sportlichem Sektor ist zum einen die Abspaltung der durch die Arbeiterbewegung entstandenen Vereine von solchen des bürgerlichen Lagers zu verzeichnen, andererseits kam es vielerorts zur Separierung der Spiel- und Sportsparten vom Turnverein. Charakteristisch für die Zeit nach dem ersten Weltkrieg ist zum einen die Ausrichtung des Sport an der durch Pierre de Coubertin wiederbelebten olympischen Idee, auf der anderen Seite bestanden Bestrebungen, den Sport hinsichtlich der durch den Versailler Vertrag unterbundenen Wehr- pflicht auf die Stärkung des Volkes auszurichten (vgl. KRÜGER 2005b). Das Vereinswesen zeichnete sich indes durch eine Akzentuierung des Sporttrei- bens, Ehrenamtliche Mitarbeit, demokratische Entscheidungsstrukturen und freiwillige Mitgliedschaft aus (vgl. NAGEL 2006). Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland wurde der auf allen Gesell- schaftsebenen diktierte Prozess der Gleichschaltung zur Implantation nationalsozialistischer Prinzipien vorangetrieben. Für die Vereine, welche nunmehr dem Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibes übungen (NSRL) unterstanden, hatte dies neben der fortan politisch ausgerichteten Leibeserziehung eine enorme Einschränkung der Handlungsspielräume zur Folge. Aufgrund diverser Ausrichtungen und Organisationsstrukturen innerhalb des NSRL, seien es Hitlerjugend (HJ), Bund Deutscher Mädchen (BDM) oder Kraft durch Freude (KdF), erlahmte die Entwicklung des Sport- und Vereinslebens bis zum gänzlichen Stillstand zum Ende des zweiten Weltkrieges (KRÜGER 2005b). Repräsentativ für den gezielten Missbrauch des Sports durch die Nationalsozialisten stehen die Olympischen Spiele von 1936. Der äußere Schein einer friedvollen, ganz im Zeichen des Sports stehenden Nation, verschleierte den bereits betriebenen Aufrüstungsprozess zur Kriegsvorbereitung und beseitigte jedwede Bedenken seitens des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Nach 1945 stand die Entwick- lung des Sports im Zeichen der durch die Besatzungsmächte angestrebten Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Demokratisierung. NS- Sportorganisationen wurden demnach aufgelöst, die Gründung oder Wiedergründung neuer Sportvereine florierte, zudem sind auf Kreis-, Bezirks- und Landesebene Bündnisse von Sportvereinen in Fachverbände und Landessportbünde zu verzeichnen, welche nach Genehmigung durch den Alliierten Kontrollrat Eingang in die Nachkriegsgesellschaft fanden. Am 10. Dezember 1950 wurde der Deutsche Sport Bund (DSB) gegründet, welcher historisch gesehen erstmalig Turnen und Sport vereinigte und sich durch freie Gemeinschaft deutscher Sportverbände und Sportinstitutionen charakterisierte (vgl. KRÜGER 2005b). Zwischen 1950 und 1980 erhöhten sich die Mitglieder des DSB von 3,2 Mio. auf 16,9 Mio. (NAGEL 2006, S. 40). Das Verständnis des organisierten Sports beruhte auf wirtschaftlicher und politischer Ungebundenheit, Spiel und Sport vertraten eine, in Carl Diems Sinne bessere Welt, in welcher Sportvereine frei und selbstverwaltet im eigenen Milieu operieren (vgl. KRÜGER 2005b, 185). Folgerichtig vertrat der DSB parteipolitisch neutrale Positionen und weltanschauliche Toleranz, welche in die 1966 formulierte Charta des deutschen Sports Eingang fanden. Darin wird dem Kulturgut Sport in seiner Differenziertheit von schul-, breiten-, und spitzensportlicher Prägung und auf der Basis sportwissenschaftlicher Erkenntnisse eine dem Gemeinwohl zugutekommende Verantwortung zuteil (vgl. LANGENFELD 1988, S. 42f.). Im Jahre 2006 schloss sich der DSB mit dem Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland zusammen und besteht seither als Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB). Der ehemals missbrauchte, politisch zweckgebundene Schulsport erlangte seine neue Legitimation durch erkannte Bildungswerte der Leibes übungen. Die in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten Theorien zur Leibeserziehung verdeutlichen die immense Wertschätzung von Bildung und Erziehung im Zusammenhang mit sportlicher Betätigung (vgl. KRÜGER 2005b, S. 185f.). Aktuell belaufen sich die Zahlen eingetragener Vereine mit leistungs-, breiten-, freizeit- und gesundheitssportlicher Ausrichtung auf 91.000 (BISp 2011/2012). Auf Verbandsebene stechen Fußball-, Turner,- und Tennisbund mit deutlich über 1 Millionen Mitglieder hervor (DOSB 2011).
2.1.2 Zur Differenziertheit jugendlicher Existenz
Aus der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwachsene Denkmuster, die bereits Jean-Jacques Rousseau hinsichtlich einzelner Lebensphasen formulierte, folgten einer Zeit, in der die durch kollektive Lebensformen gekennzeichnete Gesellschaft kein -in heutigem Sinn emotionales- Verhältnis zur Kindheit hatte. Jean-Jacques Rousseaus umfassender Anerkennungsbegriff eigenständiger Lebensphasen brach mit dieser Tradition und schuf die Voraussetzung kindlichen und jugendlichen Eigenrechts auf Mündigkeit und Selbstständigkeit (vgl. ARIES 1994, S. 209; STURMA 2001, S. 123f; SCHMIDT 2003, S. 20). Das Selbstverständnis von Kindheit und einer noch nicht konzedierten Jugend als Mitglieder des Erwachsenkreises ländlicher und handwerklicher Bevölkerungsteile zu Beginn des 19. Jahrhundert variierte im Zuge der Industrialisierung ab 1850 insofern, als sich durch gestiegene Qualifikationsanforderungen die Eigen- ständigkeit einer kindlichen und spätkindlichen (später Jugend-) Phase manifestierte. Das Zugeständnis pädagogischer und psychologischer Förderung seit Beginn des 20. Jahrhunderts basierte auf den komplexer werdenden beruflichen Ansprüchen, die zudem eine längere Bildungsteilha- be voraussetzten (vgl. HURRELMANN 2004, S. 13-22). Dieser Entwicklung entgegenzusetzen ist der Prozess der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung seit den 1950er Jahren, in dessen Folge der Arbeitskräftebe- darf traditioneller Industrien trotz neuer Dienstleistungssektoren sank. Seit den 1980er Jahren konstatiert sich daher der Trend, schulische, berufliche und akademische Ausbildungszeit zu verlängern, woraus eine wachsende Distanz zwischen Ausbildungsphase und Erwerbstätigkeit resultiert, die das Potenzial von Partizipation am Freizeit- und Konsumsektor Jugendlicher erhöht (vgl. HURRELMANN 2004, S. 23). Bildung bleibt indes unverzichtba- res Kapital auf dem Weg sozialer und ökonomischer Eingliederung. In entwicklungspsychologischer Hinsicht findet Jugend aufgrund deutlich früher einsetzender körperlicher Veränderung und Reifeprozessen der Pubertät bereits ab dem 12. Lebensjahr statt. Kennzeichnend für diese Phase ist die Entwicklung kognitiver Strukturen fluider und kristalliner Intelligenz, deren Ausprägung Mitte der 20er Jahre maximale Ausmaße annimmt (vgl. HURRELMANN 2004, S. 58f.). Die gestiegene Lebenserwartung2 produziert neue Lebensphasen, die sich neben einer ausgedehnten Jugendphase auch im Erwachsenenalter bemerkbar machen. Infolgedessen erlangt die Lebensphase des Seniors, nicht zuletzt im Zuge der demographischen Entwicklung hin zu einer alternden Gesellschaft, neue Bedeutung. Eine nunmehr transparent verlaufende Grenze zwischen einzelnen Lebensphasen reduziert die separierte Bedeutung einzelner Lebensabschnitte und fördert Korrektur- und Erneuerungsmöglichkeiten individueller Lebensentwürfe (vgl. HURRELMANN 2004, S. 16ff.). Obgleich 92% der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren die Familie als wichtigen Bestandteil ihrer Werteorientierung betrachten (DEUTSCHE SHELL 2010), müssen sich traditionelle Familien- muster neuen Herausforderungen in Form von Einzelerziehung oder Patchwork stellen (Abb. 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Bevölkerung Deutschlands nach Lebensformen 2006 und 2010.
Die Kompensation verlorener sozialer Unterstützung und emotionaler Nähe findet in Peer-Groups und außerfamiliären Instanzen, zu denen auch organisierte Sportangebote zählen, statt. 97% der Jugendlichen bis 25 Jahre empfinden hohe Wertschätzung eines funktionstüchtigen Freundeskreises (SHELL 2010) und gestalten ihre Freizeit täglich oder mehrmals wöchentlich sportlich aktiv (JIM 2011). Signifikante Unterschiede zeigen sich jedoch in der geschlechterspezifischen Ausprägung sportlicher Freizeitgestaltung, bei denen männliche Jugendliche stets häufiger Bewegungsoptionen nutzen. Der Organisationsgrad innerhalb dem DOSB zugehöriger Sportvereine macht deutlich, dass gerade die männlichen 7-14jährigen mit rund 82% weit überdurchschnittlich vertreten sind. Bedeutende Unterschiede ergeben sich mit zunehmendem Alter, so dass zwischen 15 und 18 Jahren die Beteiligung um knapp 13 %, bei den 19-26jährigen um mehr als 40 % sinkt (DOSB 2012). Dazu müssen die zeitliche Mehrbelastung durch 12jähriges Abitur und der Ausbau von Ganztagsschulen Erwähnung finden. Zusätzliche Konkur- renz erhalten Sportvereine mit dem vielfältig genutzten Potenzial der Freizeit. Ein Drittel der Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren jobben in der Freizeit. Zwar sind es bei den 12-14jährigen lediglich 15 %, der latente Trend einer verfrühten Nebenbeschäftigung lässt sich gewiss ableiten (DEUTSCHE SHELL 2010). Die mediale Einflussgröße gegenwärtiger Gesellschaft verdeutlicht sich in kennzeichnenden Unterschieden der Medienausstattung und dem zufolge der Freizeitgestaltung junger Menschen. Nahezu jeder Haushalt ist 2011 mit internetfähigem Computer, Fernseher und Handy ausgestattet (JIM 1998; JIM 2011). Neben den daraus erwachsenen Problemen intensiver Mediennutzung beeinflusst dieser Faktor auch die Ausprägung sportlicher Aktivitäten. Nur in der Gesamtheit von Freizeit- und Vereinssport ist der Stellenwert gegen über der Nutzung des Internets bei den 12-25jährigen dominierend (SHELL 2010). Im Verlauf jener Etablierung der Ü bergangsphase Jugend (LIEBSCH 2012) und einer Verlagerung der familiären Einflusssphäre zugunsten Gleichaltriger und außerfamiliären sowie außerschulischen Instanzen werden diese zu wichtigen Säulen der Sozialisa- tion, da sie den Jugendlichen im Gegensatz zum Leistungsbereich ein hohes Maß an Autonomie zugestehen (vgl. HURRELMANN 2004, S. 135). Dabei ist auch das Sportverständnis differenzierter zu betrachten. Spontanität, Flexibilität, Originalität, Artistik und Ästhetik lösen traditionelle Leistungskrite- rien ab, in deren Folge sich Sportvereine den neuen Herausforderungen öffnen müssen. Die Verlagerung der Sportsettings zur Beeinträchtigung herkömmlicher Vereine wird sowohl durch kommerzielle Sportanbieter beeinflusst, als auch durch die Attraktivität in der Peer-Group sportive Optionen in individualisierter Form zu nutzen (vgl. BRETTSCHNEIDER 2003, S. 55; GOMOLINSKY 2008, S. 342). Das wachsende Autonomiebedürfnis und die Verbindung von Freizeitsport und Freundeskreis zeigt die Untersu- chung von BRETTSCHNEIDER & KLEINE. Demnach bilden die Selbstbe- stimmtheit sportlichen Handelns, das eigenständige Zeitmanagement und die sportliche Betätigung mit Freunden die Hauptmotive freizeitsportlicher Aktivität (vgl. BRETTSCHNEIDER & KLEINE 2002). Das komplexer gewordene Anforderungsprofil Jugendlicher, um das Bestehen in der globalisierten und medial vernetzten Leistungsgesellschaft zu garantieren. BRETTSCHNEIDER (2003) formuliert Bildung als „ notwendige Vorausset- zung aber ohne Garantieanspruch “ und verdeutlicht damit den Bedeutungs- rang möglichst hoher Bildungsabschlüsse. Die zu bewältigenden Entwick- lungsprozesse Jugendlicher lassen sich zum einen durch die psychosoziale Ablösung von den Eltern beschreiben, die dem Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung dient. Des Weiteren müssen intellektuelle und soziale Kompetenzen innerhalb eines zu entfaltenden Werte- und Normen- systems selbstständige Handlungsmuster generieren, die zur ökonomischen Qualifikation beitragen (vgl. HURRELMANN 2004, S. 27f.). Vielfältige Definitionsperspektiven bieten eine sehr ausdifferenzierte Betrachtungsweise des heutigen Begriffes Jugend. Vom Zwischenspiel des Kindes- und Erwachsenenalters, über die Versinnbildlichung bestimmter Lebensgefühle einer eigenständigen Generation und schließlich zur Jugend als gesellschaft- liches Strukturmuster (vgl. BRETTSCHNEIDER 2003, S. 43). In Abhängigkeit zur jeweiligen Gesellschaft ist Jugend hinsichtlich der Sozialisation, Identi- tätsbildung und Lebensführung, einer Struktur und Dynamik gesellschaftli- cher Variabilität unterworfen. Dabei zeichnet sich ein Bild interdependenter Beziehungen von Jugendlichen und Gesellschaft, welches sich zum einen in den Auswirkungen kollektiver, wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen auf die Sozialisationsvorgänge Jugendlicher konkretisiert, zum anderen in den Konsequenzen jugendlicher Kulturkreise und Jugendgruppen hinsichtlich gesellschaftlicher Anpassung der Jugendlichen deutlich wird (vgl. LIEBSCH 2012, S. 13f.). Die der SINUS JUGENDSTUDIE 2012 zu entnehmende Aufschlüsselung verschiedener jugendlicher Milieus in Abhängigkeit des jeweiligen Bildungsgrades lassen einen Prozess der verfeinerten soziokulturellen Positionierung Jugendlicher erkennen, mit dessen Hilfe die individuellen Zielsetzungen, Motivations- und Problemlagen Jugendlicher transparenter gestaltet werden. (Abb. 2)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Milieus der Jugendlichen U18 nach Sinus Jugendstudie
So weisen die Milieus, neben dem variierenden Maß ihrer Ausprägung zum gemeinnützigen Engagement, erhebliche Unterschiede in den Zugangsvo- raussetzungen auf, die sich insbesondere bei Jugendlichen aus bildungsfer- nen Elternhäusern zeigen. Die Motivation der Teilhabe und für das Engage- ment ist vorhanden, allerdings fehlt es an nötigem Wissen über Partizipati- onsmöglichkeiten. Überdies lassen sich alternative Identifikationsbereiche erkennen, die konträr zum klassischen Engagement szenetypisch und kreativ gestaltet werden.
2.1.3 Zur Etablierung der organisierten Kinder- und Jugendarbeit
Das Zugeständnis eigener jugendlicher Lebensphasen im Zuge der Aufklä- rung bewirkte die Verbreitung von Denkmustern, die Kindern und Jugendli- chen eine optimale und allseitige Entfaltung zubilligten. Eine erste Sensibili- sierung für jugendrelevante Aspekte innerhalb der Gesellschaft kann mit den um 1900 auftretenden, durch pädagogische Neuansätze inspirierten Jugendbewegungen begründet werden.
[...]
1 „Unter „sports“ wurden die Leibes übungen, Spiele und Vergnügungen der englischen „Gent- lemen“ seit dem 18. Jahrhundert verstanden. Sportliche Leibes übungen hatten besonders mit
2 Seit über 150 Jahren steigt die Lebenserwartung in Deutschland kontinuierlich an - pro Jahr um etwa 3 Monate. Ursachen dafür sind die stark gesunkene Kindersterblichkeit und der Zugewinn an Lebensjahren bei älteren Menschen. Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung Neugeborener bei 77,5 Jahren (Jungen) und bei 82,6 Jahren (Mädchen). Es ist zu erwarten, dass die Lebenserwartung auch in den nächsten Jahren steigen wird - Projektionen gehen von 81,0 bzw. 85,7 Jahren im Geburtsjahr 2030 aus. (Quelle: Statistisches Bundesamt, 10.08.2012)
- Arbeit zitieren
- Frank Zakrzewa (Autor:in), 2012, Förderung personaler Kompetenzen durch Jugendarbeit im Sportverein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211956
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