Eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands war die aus Dänemark stammende Ärztin und Autorin Dr. med. Margarete Mitscherlich-Nielsen (1917–2012), geborene Nielsen. Ihr Interesse an der Psychoanalyse ist durch ihren Mann Alexander Mitscherlich (1908–1982) aktiviert worden. Sie tat sich auch als Kämpferin für Frauenrechte und Vordenkerin der Studentenbewegung
hervor. Die Kurzbiografie "Margarete Mitscherlich. Deutschlands renommierteste Psychoanalytikerin" des Wiesbadener Autors Ernst Probst schildert ihr Leben und Werk.
Ernst Probst
Margarete Mitscherlich
Deutschlands renommierteste Psychoanalytikerin
Eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands war die aus Dänemark stammende Ärztin und Autorin Dr. med. Margarete Mitscherlich-Nielsen (1917–2012), geborene Nielsen. Ihr Interesse an der Psychoanalyse ist durch ihren Mann Alexander Mitscherlich (1908–1982) aktiviert worden. Sie tat sich auch als Kämpferin für Frauenrechte und Vordenkerin der Studentenbewegung hervor.
Margarete Nielsen kam am 17. Juli 1917 als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin in Gravenstein (Gråsten) zur Welt. Ihr Geburtsort gehörte ab 1920 zu Dänemark, hatte aber eine starke deutsche Minderheit. Der Vater von Margarete war ein nationalbewusster, aber durchaus toleranter Däne und hatte aus seiner ersten Ehe drei Kinder, die von seiner zweiten Frau unterrichtet wurden.
Die Mutter wurde von Margarete später als die ruhigste, nachdenklichste und überlegenste Persönlichkeit in ihrer Familie geschildert. Andererseits habe ihre Mutter eine übertriebene Angst vor Sexualität gehabt. Margarete habe ihrer Mutter beichten müssen, wenn sie eine Neigung zur Onanie gezeigt hätte.
Als Kind war Margarete eine begeisterte Deutsche. Sie liebte die deutsche Literatur und behauptete als Zwölfjährige allen Ernstes, sie habe sämtliche Dramen des deutschen Dichters Friedrich von Schiller (1759 –1805) gelesen und verstanden. Ihre Geschwister lachten sie deswegen aus. Wenn sie die deutsche Nationalhymne „Deutschland, Deutschland über alles ...“ hörte, liefen ihr Tränen über das Gesicht. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 erlebte sie mit 15 Jahren.
Margarete wollte auf eine deutsche Schule und diesen Wunsch hat man ihr erfüllt. 1937 absolvierte sie in Flensburg (Schleswig) ihr Abitur. Danach studierte sie zuerst Deutsch und Geschichte, später Medizin in München und Heidelberg. 1944 machte sie in Heidelberg ihr Staatsexamen.
Als Studentin verachtete Margarete Nielsen das „Nazi“-System. Sie war aber – laut eigenem Eingeständnis – nicht „mutig genug zum Widerstand im Dritten Reich“. Während des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) hörte sie – wie ihre Mutter und ihre Freunde – den britischen Rundfunksender „BBC“, wobei ihr wegen der Nachrichten über Übeltaten der „Nazis“ bald der „Stolz auf das eigene Volk“ verging.
Als sie vorübergehend in der Schweiz arbeitete, lernte Margarete Nielsen 1947 den verheirateten deutschen Arzt, Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich kennen und die Beiden verliebten sich ineinander. Angeblich dachte die hübsche, langhaarige Margarete keine Sekunde darüber nach, dass der große, schlanke, saubere und appetitliche Alexander bereits zum zweiten Mal verheiratet war und schon fünf Kinder hatte. Seine erste Ehefrau war die Ärztin Melitta Mitscherlich, geborene Behr (1906–1992), gewesen, seine zweite Ehefrau hieß Georgia Weidemann.
Margarete Nielsen erlebte mit Alexander Mitscherlich den ersten „One-Night-Stand“, wie sie später freimütig bei einem Interview mit dem Magazin „Stern“ bekannte. Alexander war ihre erste große Liebe. Vorher hatte sie nur eine einzige ernsthafte und keusche Liebschaft mit einem Verehrer, der von einem Krokodil im Nil angegriffen und getötet wurde und den sie nie vergaß.
Aus der Verbindung von Margarete Nielsen und Alexander Mitscherlich ging am 25. Januar 1949 in Konstanz unehelich der Sohn Matthias hervor. Margarete und Alexander dachten nach der Geburt von Matthias nicht daran, zusammenzuleben und zu heiraten. Beide hielten sich viel im Ausland auf und Margarete wollte ihre Ausbildung vervollkommnen. Deswegen vertraute Margarete ihren Sohn ihrer Mutter in Dänemark an, wo sie ihn dort besser versorgt als bei ihr selbst wähnte. „Das war natürlich etwas schwierig“, gestand sie später. Sich von einem zweijährigen Kind zu trennen, sei schon sehr schmerzhaft. Sie sei aber wirklich davon überzeugt gewesen, dass es ihrem Sohn in Dänemark besser gehen würde als in ihrem nomadenhaften Leben.
Alexander Mitscherlich, der laut „Süddeutscher Zeitung“ nie eine ordentliche analytische Ausbildung absolviert hatte und entsprechend schlecht als Analytiker war, weckte das Interesse von Margarete Nielsen an der Psychoanalyse. 1950 promovierte Margarete in Tübingen zum „Doktor der Medizin“. In den 1950-er Jahren erfolgte in Heidelberg, Stuttgart und London ihre psychoanalytische Ausbildung.
Ab 1951 arbeitete Margarete Nielsen zusammen mit Alexander Mitscherlich an der psychosomatischen Klinik in Heidelberg, die von ihrem Lebensgefährten geleitet wurde. Zu der Zeit, in der sie in Heidelberg angestellt wurde, meinten viele Professoren, Psychoanalyse sei ein Gebiet, das man nicht ernst nehmen könne.
1954 wirkte Margarete Nielsen ein halbes Jahr lang in London, das damals ebenso wie New York City als „Weltstadt der Psychoanalyse“ galt. In der britischen Hauptstadt absolvierte sie eine psychoanalytische Ausbildung bei dem aus Ungarn stammenden Psychoanalytiker Michael Balint (1896–1970). Ihr Schüler Christian Schneider meinte, sie habe die Psychoanalyse nach Deutschland zurückimportiert.
Alexander Mitscherlich und Margarete Nielsen heirateten 1955. Alexander wagte somit seine dritte und letzte Ehe. Zu jener Zeit untersuchten sie gemeinsam den Massenwahn während des „Dritten Reiches“ (1933–1945). 1960 gehörte Margarete zu den Gründern des „Sigmund-Freud-Instituts“ in Frankfurt am Main.
1967 zog das Ehepaar Mitscherlich nach Frankfurt am Main. Dort lehrte Margarete Mitscherlich am „Sigmund-Freud-Institut“. Ebenso wie ihr Mann Alexander betätigte auch sie sich in der Lehranalyse.
Das Forscher-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich verfasste gemeinsam das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“ (1967). Darin ging es um die Frage, wie schlecht die Deutschen mit dem Erbe der Hitler-Zeit zurechtkamen. In diesem Werk fragten die beiden Autoren, ob der Mensch nicht „einen der folgenschwersten Fehlwege der Evolution“ darstelle, „durch den das Prinzip des Lebendigen seiner Aufhebung entgegenstrebt“. Die Reaktionen der Leser und Leserinnen reichten von Empörung bis zur Nachdenklichkeit. Mit der pessimistischen Prognose wurde sie bei Machern berüchtigt, bei Denkern berühmt. Im Hamburger Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ hieß es, dies sei eines der Schlüsselwerke der revoltierenden Jugend gewesen. Die „Süddeutsche Zeitung“ in München dagegen meinte, kaum jemand habe den Inhalt dieses Buches verstanden, das aber schon wegen des Titels berührt habe.
In der Folgezeit waren Alexander und Margarete Mitscherlich ein Autorenpaar. Wie ein guter Journalist konnte Alexander fabelhafte Slogans erfinden. Die psychoanalytischen Passagen stammten angeblich von Margarete. „Aber sie war keine große Theoretikerin“, hieß es in der „Süddeutschen Zeitung“. Wirklich gut sei sie als Analytikerin im Umgang mit Klienten gewesen.
Die Bewegung der „68-er“ wurde von Margarete Mitscherlich später heftig kritisiert. Hierzu erklärte sie fast vier Jahrzehnte später in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung „Die Welt“, sie hasse es, wenn Menschen alle gleicher Meinung seien. Wer bei den 68-ern dabei sein wollte, habe die Meinung vertreten müssen, dass die Väter alle Nazi-Väter seien, nichts wahrgenommen hätten und am liebsten als Krieger ihre Söhne umbringen wollten. Aber niemand habe sich die Mühe gemacht, sich einzufühlen, wie es zu Hitler gekommen sein könnte. Obwohl der Druck, der von den 68-ern ausgegangen sei, in vielem richtig gewesen sei, habe es einen Teil gegeben, der in seiner Rigorosität auch Lust am Erniedrigen gehabt hätte. Das erinnere sie zu sehr an Zwangsvorstellungen der Nazi-
Zeit.
1972 folgte die Publikation „Müssen wir hassen?“ aus der Feder von Margarete Mitscherlich. Darin behandelte sie ihre eigene Forschungsarbeit. Später setzte sie sich in ihrem Sammelband „Das Ende der Vorbilder“ (1978) mit der Problematik der Idealisierung auseinander. Ihre Ausgangsthese lautete: „Wir alle brauchen Ideale, Vorbilder, Ziele, an denen wir uns orientieren, nach deren Verwirklichung wir streben können. Ohne sie sind wir einem Gefühl der Leere ausgesetzt, und das lebendige Interesse an den Dingen der Welt und an unseren Mitmenschen geht verloren.“
Ab den 1970-er Jahren setzte sich Margarete Mitscherlich zusammen mit der fast ein Vierteljahrhundert jüngeren deutschen Publizistin und Feministin Alice Schwarzer für Frauenrechte ein. Schwarzer gab ab 1977 die Zeitschrift „Emma“ heraus. In der ersten Ausgabe erklärte Margarete Mitscherlich: „Ich bin Feministin“. In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ betonte sie später, sie sei von Geburt an Feministin gewesen, in Dänemark aufgewachsen, einer alten Demokratie, wo es selbstverständlich gewesen sei, dass Frauen nicht die Sklaven der Männer zu sein hatten. Deswegen sei es für sie das Natürlichste der Welt gewesen, sich mit Vergnügen dazuzugesellen, als junge Frauen aufbegehrten. Ungeachtet dessen arbeitete Margarete lieber in gemischten Teams als nur mit Frauen. Nach ihrer Ansicht neigen Frauen dazu, jede Kränkung furchtbar ernst und persönlich zu nehmen. Frauen müssten sich nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen sich selbst durchsetzen, meinte sie. Dies hörten andere Feministinnen nicht gern.
Unter Emanzipation verstand Margarete Mitscherlich nicht nur den Feminismus und den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau. Emanzipation bedeutete für sie die „Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien“. Wenn man ihr bestimmte Sitten zuweisen oder Rollen aufzwingen wollte, reagierte sie immer sehr empfindlich dagegen.
Obwohl sie sich als Feministin fühlte, legte Margarete Mitscherlich bis ins hohe Alter großen Wert auf gutes Aussehen. Sie schminkte sich sorgfältig, liebte teure Cremes, obwohl ihr Ehemann meinte, „Nivea“ täte es doch auch, und kleidete sich adrett.
Der attraktive, kluge und berühmte Alexander Mitscherlich blieb auch während seiner Ehe mit Margarete nicht treu. Darauf regierte sie mit rasender Eifersucht. Angeblich hätte sie ihm eine Affäre, die länger als eine Nacht dauerte, kaum verziehen. Später bedauerte sie, dass sie sich nicht von Zeit zu Zeit einen Seitensprung gegönnt habe. Statt dessen blieb sie Alexander 35 Jahre lang treu.
Nach eigenem Bekunden war Margarete Mitscherlich in einer Welt aufgewachsen, in der klar war, dass man auch Spaß an Provokationen haben könne, dass das alles nicht so ernst gemeint sei. In skandinavischen Ländern und in England sei es gang und gäbe, dass man miteinander ironisch umgehe, nur in Deutschland nicht. Die Deutschen seien seit Jahrhunderten schnell beleidigt. Über Männer sagte Margarete, jeder Mann hasse die Frauen, weil Frauen den Mann auf die Welt bringen und er ihnen deswegen ausgeliefert sei.
Als eines der erfolgreichsten Werke von Margarete Mitscherlich gilt das Buch „Die friedfertige Frau“ (1985). Darin analysierte sie das Rollenverhalten von Frauen in der Politik und warf ihnen eine falsche Friedfertigkeit und eine zu große Anpassungsbereitschaft vor.
Nicht alles, was Margarete Mitscherlich schrieb, stieß in
der Fachwelt auf Gegenliebe. Die Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonic beispielsweise warf Margarete Mitscherlich vor, in ihrem Buch „Die friedfertige Frau“ stelle sie Frauen einseitig als Opfer des Nationalsozialismus dar und wende ausgerechnet jene Schuldabwehr an, die sie in ihrem Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ ausführlich behandelt hatte. In ihrem Buch „Die friedfertige Antisemitin“ widerlegte Radonic die Thesen vom Opfer-Mythos und der friedfertigen Natur der Frau. Der Soziologe Gerhard Amendt kritisierte den fehlenden wissenschaftlichen Nachweis der Thesen von Margarete Mitscherlich. Den Erfolg ihres Buches erklärte er damit, er entspräche „dem inneren Wunsch der Frauenbewegten, dass es doch so sein
möge“.
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- Arbeit zitieren
- Ernst Probst (Autor:in), 2013, Margarete Mitscherlich - Deutschlands renommierteste Psychoanalytikerin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211611
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