"Wer seine Zeit aus der Hand gleiten lässt, lässt sein Leben aus der Hand
gleiten; wer seine Zeit in der Hand hält, hält sein Leben in der Hand."
Leider gleiten derzeit sehr vielen Erwerbstätigen die Zeit und gleichermaßen
die arbeitsfreie Zeit ihres Lebens aus der Hand. Erwerbsarbeit, familiäre
Verpflichtungen und die fortschreitende Kommunikationstechnik sind nur
einige Beispiele für „Zeitkiller“ und den daraus resultierenden wachsenden
Bedarf von Work Life Balance Konzepten.
Bereits Aristoteles empfahl im Jahre 322 vor Christus den Bürgern
Griechenlands, sich in drei Lebensbereichen zu engagieren und diese zu
arrangieren: sich selbst, dem Haus und der Heimat. Man könnte diesen
Ansatz vielleicht als Vorläufer der Work Life Balance ansehen, nur dass man
heutzutage die Lebensbereiche um einen wichtigen vierten, die
Erwerbsarbeit, ergänzen muss.
Damals wie heute sind die Menschen in einem Punkt gleich. Jedem stehen
24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche zu Verfügung. Trotzdem
haben viele gegenwärtige Arbeitnehmer, egal ob männlich oder weiblich,
jung oder alt, Schwierigkeiten mit der Koordination von Arbeitsleben und
Nicht-Arbeitsleben. Darüber hinaus bedeutet Lebensqualität nunmehr
einen Zuwachs an Zeitwohlstand.
Entsprechend dieser Tatsache stellen viele Europäer fest, dass das
Wirtschaftswachstum, dem sie mit ihrer Arbeit dienlich sind und der ihnen
gleichwohl Güterwohlstand ermöglicht, mit immer größer werdender
Zeitnot verbunden ist. Tatsächlich wollen 57% der Europäer ihre Arbeitszeit
einschneidend reduzieren. Hinzu kommt, dass Arbeitsaufgaben immer
umfassender und dynamischer werden, ohne dass gleichzeitig das Personal
vergleichbar intelligenter oder fähiger wird. Dadurch wird bereits eine
Imbalance der Relation Aufgabenkomplexität und zur Verfügung
stehenden Mitarbeitern hergestellt. Obendrein entstehen neue Arbeits- und
Organisationsformen, die alte Ordnungsmuster zerstören und eine
komplette Umorientierung, mehr Unvorhersehbarkeit, weniger Planbarkeit
und Kontrolle von den Mitarbeitern verlangen sowie Veränderungsdruck
schaffen.[...]
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. GRUNDLAGEN UND THEORETISCHER RAHMEN
2.1 ARBEITSLEBEN IM WANDEL
2.2 ARBEITSKRAFTUNTERNEHMER
2.2.1 D EFINITION UND C HARAKTERISTIKA
2.2.2 E NTGRENZUNG DER E RWERBSARBEIT & F OLGEN EINER REFLEXIVEN L EBENSFÜHRUNG FÜR DEN A RBEITNEHMER
2.2.3 K RITIK & D ISKUSSION ZUM K ONZEPT DES A RBEITSKRAFTUNTERNEHMERS
3. EINFÜHRUNG ZUR WORK LIFE BALANCE
3.1 DEFINITION DES BEGRIFFS WORK LIFE BALANCE
3.2 GRÜNDE FÜR DIE EINFÜHRUNG VON WORK LIFE BALANCE KONZEPTEN
3.3 ALLGEMEINE MAßNAHMEN ZUR WORK LIFE BALANCE
4. ZEITSOUVERÄNITÄT UND ARBEITSZEITGESTALTUNG BEI DER MUSTERMANNGMBH
4.1 PRAXIS DER ARBEITSZEITGESTALTUNG
4.2 MOBILITY & TELEARBEIT BEI DER MUSTERMANNGMBH
4.3 WEITERE WORK LIFE BALANCE MAßNAHMEN BEI DER MUSTERMANNGMBH
5. DIE EMPIRISCHE ARBEIT
5.1 FORSCHUNGSDESIGN
5.2 AUSWERTUNG DER (EXPERTEN)-INTERVIEWS NACH MEUSER & NAGEL
5.3 WAHRNEHMUNGEN DER MITARBEITER ZUR WORK LIFE BALANCE IN DER MUSTERMANNGMBH
5.4 AUSWERTUNG & BEWERTUNG DER MITARBEITERWAHRNEHMUNGEN
6. FAZIT UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
7. LITERATURVERZEICHNIS
8. INTERNET & INTRANET VERZEICHNIS
9. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
"Wer seine Zeit aus der Hand gleiten lässt, lässt sein Leben aus der Hand gleiten; wer seine Zeit in der Hand hält, hält sein Leben in der Hand."1 Leider gleiten derzeit sehr vielen Erwerbstätigen die Zeit und gleichermaßen die arbeitsfreie Zeit ihres Lebens aus der Hand. Erwerbsarbeit, familiäre Verpflichtungen und die fortschreitende Kommunikationstechnik sind nur einige Beispiele für „Zeitkiller“ und den daraus resultierenden wachsenden Bedarf von Work Life Balance Konzepten.
Bereits Aristoteles empfahl im Jahre 322 vor Christus den Bürgern Griechenlands, sich in drei Lebensbereichen zu engagieren und diese zu arrangieren: sich selbst, dem Haus und der Heimat. Man könnte diesen Ansatz vielleicht als Vorläufer der Work Life Balance ansehen, nur dass man heutzutage die Lebensbereiche um einen wichtigen vierten, die Erwerbsarbeit, ergänzen muss.
Damals wie heute sind die Menschen in einem Punkt gleich. Jedem stehen 24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche zu Verfügung. Trotzdem haben viele gegenwärtige Arbeitnehmer2, egal ob männlich oder weiblich, jung oder alt, Schwierigkeiten mit der Koordination von Arbeitsleben und Nicht-Arbeitsleben. Darüber hinaus bedeutet Lebensqualität nunmehr einen Zuwachs an Zeitwohlstand.
Entsprechend dieser Tatsache stellen viele Europäer fest, dass das Wirtschaftswachstum, dem sie mit ihrer Arbeit dienlich sind und der ihnen gleichwohl Güterwohlstand ermöglicht, mit immer größer werdender Zeitnot verbunden ist. Tatsächlich wollen 57% der Europäer ihre Arbeitszeit einschneidend reduzieren.3 Hinzu kommt, dass Arbeitsaufgaben immer umfassender und dynamischer werden, ohne dass gleichzeitig das Personal vergleichbar intelligenter oder fähiger wird. Dadurch wird bereits eine Imbalance der Relation Aufgabenkomplexität und zur Verfügung stehenden Mitarbeitern hergestellt. Obendrein entstehen neue Arbeits- und Organisationsformen, die alte Ordnungsmuster zerstören und eine komplette Umorientierung, mehr Unvorhersehbarkeit, weniger Planbarkeit und Kontrolle von den Mitarbeitern verlangen sowie Veränderungsdruck schaffen.
In der globalisierten Gesellschaft, in der wir leben, muss mehr denn je gelernt werden, global zu denken, aber im Hier und Jetzt lokal zu handeln. Trotzdem werden Aussichten zunehmend fragiler und Arbeits- und Lebensbedingungen wechselhafter.
Ferner ist in fast allen Wirtschaft Sektoren und Branchen eine effektive Flexibilität des Arbeitsvolumens die Voraussetzung für ein Unternehmen, um auf Marktschwankungen und Konjunkturentwicklungen angemessen regieren zu können. Damit einher geht eine dysfunktionale Organisation des Privatlebens mit immer weniger Zeit, den „Akku“ aufzuladen. Diese erwerbsarbeitsbezogenen Anforderungen durch das Unternehmen bedeuten erhebliche Belastungen für die Freizeit und gefährden private Lebensqualität sowie Regenerationszeiten des Arbeitnehmers. In der fach- und populistischen Literatur wird dieses Missverhältnis auch als Work Life Balance bezeichnet.
Viele Unternehmen haben dieses Missverhältnis erkannt und entwickeln Maßnahmen, um ihren Mitarbeitern bei der Balancierung ihrer Lebensstränge unter die Arme zu greifen. Sogar im Rahmen der EUErweiterung wird ein modernisiertes und verbessertes Sozialmodell angestrebt, in dem das Thema Work Life Balance aufgegriffen und einen politischen Stellenwert erhalten soll.4
Nachstehend soll ein kurzer „Fahrplan“ durch die Arbeit erläutert werden:
Diese Arbeit wird mit dem theoretischen Teil zum Arbeitskraftunternehmer nach Voß und Pongratz beginnen und die verschiedenen Dimensionen zur Entgrenzung vorstellen, um die Antriebe für einen erhöhten Bedarf von Work Life Balance Konzepten zu ergründen.
Im weiteren Verlauf wird Herkunft, Definition und Idee zu Work Life Balance Maßnahmen beschrieben, um sie anschließend in direkten Bezug zur MustermannGmbH vorzustellen. Es sollen Methoden und Maßnahmen die Work Life Balance betreffend, am Beispiel eines weltweit führenden IT Unternehmen, der MUSTERMANNGMBH, vorgestellt und näher beleuchtet werden. Der empirische Teil der Arbeit besteht aus zahlreichen Experteninterviews mit Mitarbeitern der MustermannGmbH, welche ihre Sichtweisen, persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen zur Work Life Balance Umsetzung bei der MUSTERMANNGMBH schildern. Schließen wird die Arbeit mit einer Bewertung und Analyse der Interviews, sowie gegebenenfalls Verbesserungsvorschlägen innerhalb der MustermannGmbH.
2. GRUNDLAGEN UND THEORETISCHER RAHMEN
2.1 Arbeitsleben im Wandel
Gleitzeitkonten laufen über und die Arbeit lässt keine Zeit mehr, diese Konten auszugleichen. Der wohlverdiente Urlaub rutscht wieder ins nächste Jahr, aus Angst vor dem entstehenden Stress bei der Rückkehr und der liegen gebliebenen Arbeit. Erheblicher Druck durch Projekt- oder Teamarbeit, der durch den Zwang, ein besonders gutes Gruppenergebnis zu erzielen, entsteht. Arbeitgeber schaffen die Zeiterfassung ab und führen Vertrauensarbeitszeiten ein, was dazu führt, dass nun freiwillig länger gearbeitet wird und die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit nicht mehr definiert sind.
Viele Mitarbeiter kennen diesen Zustand und unlängst wurden diese neuen Arbeitsumstände nicht nur von der IG Metall im Zuge der Kampagne „Arbeiten ohne Ende?“ formuliert.
Da die MustermannGmbH Mitglied der IG Metall ist, war „Arbeiten ohne Ende“ auch hier ein Thema und Grund genug Work Life Balance Angebote auszubauen. Trotzdem ist ohne Frage ein Wandel des Arbeitslebens zu beobachten und dieser Wandel stetig fortschreitend.
„ Der jetzige Wandel ruft individuelle Unsicherheiten und
Unübersichtlichkeiten hervor - aber auch Neuorientierungen. “ 5 Wir befinden uns in der Blütezeit des Informationszeitalters, in dem Unternehmen der Informationstechnologie im besonderen Maße den Auswirkungen aktueller und globaler Trends unterworfen sind. Arbeit wird komplexer, kreativer und damit gleichermaßen fordernder.6 Ein solches Unternehmen ist die MustermannGmbH, in dem der Wandel der Arbeit oder die „ Neue Arbeitskultur “ sehr gut wahrnehmbar ist. Wie auch andere Unternehmen unterliegt MUSTERMANNGMBH der Globalisierung des Wettbewerbs, womit eine Auseinandersetzung, um die besten Mitarbeiter, die besten Perspektiven und die besten Arbeitsbedingungen einhergeht. Unternehmen intensivieren ihr Dienstleistungsdenken und damit die Kundenorientierung, die die Mitarbeiter/ Teams (interne) und die Kunden (extern) betreffen.
Weitere Anstöße für den Wandel der Arbeit sind der steigende Konkurrenzdruck, der zu massiven Kostenabbau und Steigerung der Arbeitsproduktivität führt, die rasante Weiterentwicklung der Kommunikationsgeschwindigkeit und die Virtualisierung bzw. die Vernetzung von Produktentwicklungen und Medien. Ebenso groß und problematisch ist der Einfluss durch die verkürzte Halbwertszeit des Wissens.7
Heute nicht mehr wegzudenken sind Wissensnetzwerke, Wissensmanagement der Organisationen und lebenslanges Lernen bzw. Weiterbildung der Mitarbeiter. Zusammenfassend kann man sagen, das neue Arbeitszeitalter ist determiniert durch schnellen Wandel, nicht nur das Know-how betreffend. Auch Organisationsstrukturen, Arbeitsinhalte, Teams und Aufgaben unterliegen fortwährenden Veränderungen. Mit diesen schnelllebigen Gegebenheiten muss der Mitarbeiter Schritt halten und umgehen können. Er ist nun Beteiligter einer grundlegenden Entwicklung. Er muss flexible Arbeitszeiten sowie die eventuelle Mobilisierung seines Arbeitsortes leicht bewältigen und in seinen Leben integrieren können.
Das heißt, dass Erwerbstätige künftig Anbieter von Leistungen werden, die von Unternehmen nachgefragt werden; sie werden zum Unternehmer ihrer selbst, können sich aber auch mehr in ihrer Arbeit verwirklichen. Diese neuen Trends, die nun schon fast zur Normalität gehören, stellen immense Anforderungen an den Arbeitnehmer als noch vor 25 Jahren. Sie gehen eigentlich weit darüber hinaus und beeinflussen direkt und indirekt die Menschen bzw. das Lebensumfeld des Arbeitnehmers.8 Dieses neue Arbeitsregime grenzt bestimmte Lebensstile und Lebenslagen systematisch aus und lässt altersbedingte gesundheitliche Probleme, familiäre Verpflichtungen und körperliche Verschleißerscheinungen unberücksichtigt.9
2.2 Arbeitskraftunternehmer
Liest man gegenwärtig Stellenanzeigen, begegnen einem Schlagworte wie jung, dynamisch, flexibel, motiviert, risikobereit, produktiv und zufrieden als gesuchte Attribute für zu besetzende Stellen. Typische Eigenschaften des neuen Arbeitnehmertypus in der Ära des Arbeitskraftunternehmers. Darüber hinaus fallen immer öfter Begriffe wie: Selbstmanagement, Selbstregulation, Selbstwahrnehmung, Selbstausbeutung, Selbstmotivation, Selbstbeauftragte, Selbstbestimmung, Selbstdisziplin, Selbstvermarktung, Selbstvertrauen, Selbstverantwortung, Selbstkontrolle, Selbstkritik, Selbstverwirklichung und Selbstwertgefühl. Derzeit befinden wir uns in einer Gesellschaft, welche mehr denn je in fast allen Bereichen von Erwerbsarbeit geprägt ist und in der Arbeit eine neue Gestalt angenommen hat und trotzdem ungleich auf die Arbeitsbevölkerung verteilt ist. In der Fachliteratur wird diese neue Form der Arbeitsgesellschaft als flexibilisierte, kapitalistisch geprägte Hyperarbeitsgesellschaft bezeichnet.10
Hintergrund dieser Reorganisationsprozesse in fast allen Wirtschaftssektoren ist der verschärfte nationale und internationale Wettbewerb. Nur wenn ein Unternehmen im immer zäher werdenden Konkurrenzkampf bestehen kann, sind die Arbeitsplätze seines Stabs gesichert.
„ Die Menschen im Unternehmen müssen zu einer
Wertsch öpfungsgemeinschaft zusammenschmelzen und dies in ihrem Selbstverständnis verinnerlichen ( … ) “ 11 betonte das ehemalige Vorstandsmitglied von BMW, Wolfgang Reitzle.
Derzeit und auch zukünftig bedeutet dieser Umschwung für manche Arbeitnehmer sicher Vorteile, jedoch für viele andere mehr Aufwand, Leben und Arbeiten zufriedenstellend zu vereinbaren.
Wie bereits erwähnt, ist dieser Strukturwandel der Arbeit auf mehrere Aspekte wie: Technologie, Betriebsorganisation, Arbeitsmarkt, Berufsstruktur, rechtliche Regulierungen von Arbeit etc. zurückzuführen.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist, wie Arbeit gegenwärtig von Betrieben eingesetzt und dirigiert wird.
Erwerbstätige arbeiten vielmehr in Form von Teams, Projekten, bei flachen Hierarchien, eigenverantwortlicher Arbeitsgestaltung und einer erweiterten Autonomie erstaunlichsten Ausmaßes. In vielen Bereichen wird eine direkte Steuerung und Kontrolle durch den Vorgesetzten zum Hindernis und darum wurden Verantwortlichkeiten sowie Spielräume für die Arbeitenden vergrößert. Auch wenn sich diese selbst kontrollierte und gesteuerte Arbeitsweise noch nicht überall durchgesetzt hat, wird es nicht selten bis hinunter zur Ebene der Arbeiter und der einfachen Angestellten durchgeführt. „ Es geht dabei nicht um wirkliche Autonomie der Arbeitenden, sondern um erweiterte Spielräume, die im Interesse der Unternehmen genutzt werden sollen - mit meist klaren Grenzen und bei oft erheblich steigenden Leistungsdruck. “12 Die vermeintliche Reduktion der direkten Arbeitssteuerung wird zumeist durch eine durchdachte Ausweitung der indirekten Steuerung und strategische Vorgabe von Leistungsbedingungen und -zielen ersetzt. Eine solche Steuerung kann durch organisationskulturelle bzw. psychosoziale Mechanismen oder anhand einer strategischen Kontrolle der Funktionsparameter Kosten, Umsatz, Qualität erfolgen. Das bedeutet für den Mitarbeiter, dass er bisherige Manageraufgaben wie Arbeitssteuerung und Kontrolle selbst übernimmt. Diese Überprüfung der Mitarbeiter wird durch datentechnische Planungs-, Steuerungs- und Controlling Systeme unterstützt. Grundsätzlich könnte man sagen, dass der zentrale Hebel die Einführung marktförmiger Strukturen innerhalb des Unternehmens ist, welche die Betriebe in einzelne, kleine Einheiten, sogenannte Profitcenter aufteilt und die sich auf das jeweilige Kerngeschäft konzentrieren. Das heißt, sämtliche Abteilungen im Konzern agieren wie kleine Unternehmer im Unternehmen, mit dem Ziel, sich dem direkten Druck des Marktes auszusetzen.
Dessen ungeachtet bleibt den Erwerbstätigen ein nicht unerhebliches Maß an Gestaltungsmöglichkeiten ihres Arbeitsalltages.
Grund für die Ausdehnung der Selbstkontrolle ist erstgradig eine Kostenreduktion, aber auch erweiterte die Innovativität und Flexibilität der Mitarbeiter ist entscheidend, welche zu einer vergrößerten Leistungsgüte führt. Dieser neue Zustand bedeutet auch Veränderungen für die Betriebsorganisation, weg von der detaillierten Durchstrukturierung der Arbeit hin zu temporären Arbeitsbeziehungen, die marktähnlichen Mechanismen gleichen. Zu diesen neuen autonomiebasierenden Arbeitsformen im Rahmen konventioneller Beschäftigungsverhältnisse gehören zum Beispiel: Gruppen- bzw. teambezogene Organisationsformen, projektbezogene Organisationsformen (Management-by-Objektive- Modelle), flexibilisierte Arbeitszeiten (Vertrauensarbeitszeit), Führung durch Zielvereinbarungen, Center Konzepte (Profitcenter oder Costcenter) und vor allem computergestützte Heim- und Mobilarbeit. Aber auch bei betriebsübergreifenden Kooperationsbeziehungen gibt es Veränderungen der Selbstorganisation hin zur Auslagerung auf Scheinselbständigkeiten, Kooperation mit Freiberuflern und virtuellen Betrieben. Sicherer Vorteil der neuen selbstständigeren Arbeitsformen ist die flexiblere Nutzung in allen Dimensionen zeitlich, räumlich, sachlich und sozial.13
Diese Renovationen der Arbeit und Arbeitsformen dürften nicht nur Konsequenzen für einzelne Erwerbstätige und Erwerbsgruppen bedeuten, sondern Erneuerungen der grundsätzlichen Verfassung von Arbeitsvermögen in unserer Gesellschaft hervorrufen.14
2.2.1 Definition und Charakteristika
Mitte der 80er Jahre formulierten einige Soziologen den Gedanken, dass der Arbeitnehmer immer mehr als „ Unternehmer seiner selbst “ handelt und wir uns in der Phase des Postfordismus befinden. Zu Zeiten der Frühindustrialisierung war der proletarisierte Lohnarbeiter tätig, der sein rohes Arbeitsvermögen unter rigider direkter Kontrolle bei stetiger Ausbeutung und einem Mangel an sozialem Schutz absolvierte.
Gefolgt vom verberuflichten Arbeitnehmer in der Phase des Fordismus, der mit normierten Qualifikationen und rudimentären Arbeitstugenden ans Werk ging. Dieser wurde eher strukturiert und geflissentlich, bei geringer Ausbeutung und hohem staatlichen Schutz, kontrolliert.
Die von Voß & Pongratz (1998) formulierte These des Arbeitskraftunternehmers weist wesentliche Gemeinsamkeiten mit den Konzepten von Pinchots (1988) „Intrapreneure“, Kuhns (1997) „Mitunternehmer“ oder Budes (2000) „junge Eliten“, unterscheidet sich aber im Wesentlichen dadurch, dass er seine Arbeitskraft auf dem Markt aktiv selbst erhalten, entwickeln und verkaufen muss.
Nach Voß & Pongratz (1998) überwog bisher der Typus Arbeitskraft, der nach genormten beruflichen Mustern gegen Entgelt vom Betrieb und nach Anweisungen funktionierte. Jedoch dominiert laut dieser Soziologen ein neuer Typus, der weniger empfänglich für fremd gesetzte Anforderungen ist, sich mit Unternehmenszielen identifiziert, größere Gestaltungsspielräume benötigt und aktive Selbststeuerung im Sinne genereller Unternehmenserfordernisse bevorzugt. Dieser neue Typ der Arbeitskraft überzeugt durch individualisierte Qualifikationen und tendiert zur Selbstausbeutung bei einem eher unklaren sozialen Schutz. „ Aus dem eher reaktiv agierenden ( … ) Arbeitnehmer wird ein neuer aktiver Typus von Arbeitskraft, der sich nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch innerhalb des Betriebes kontinuierlich zur Leistung anbietet und im Arbeitsprozess gezielt selbst organisiert. “ 15 Als maßgebliche Einflussnahme für diese neue Entwicklung wird der generelle Wertewandel als auch die zunehmende Individualisierung der Lebensformen genannt.
Dieser neue Typus wurde nach Voß & Pongratz (1998)
„ Arbeitskraftunternehmer “ getauft, da dieser gewissermaßen unternehmerische (Weiter-) Entwicklungen sowie Vermarktung der eigenen Arbeitskraft als Ware leisten muss. Die Eigenschaften des Arbeitskraftunternehmers lassen sich mit den drei Schlagworten Selbstkontrolle, Selbst Ökonomisierung und Selbstrationalisierung umreißen. Er muss seine Tätigkeiten intensiv eigenständig planen, steuern und überwachen und nebenbei seine Fähigkeiten & Leistungen auf dem Arbeitsmarkt und innerhalb des Betriebes vermarkten. Er bekommt rudimentäre Handlungsvorgaben bzw. Ziele vorgegeben, die er bis zu einem bestimmten Termin in einem klar definierten Kostenrahmen erreichen muss.16
Dadurch wird jedoch der Anspruch an die Ware „Arbeit“ entscheidend erhöht, denn nun muss Arbeit nicht mehr dirigiert und kontrolliert werden, sondern diese Leistung sollte bereits in der Ware enthalten sein. Außerdem muss er in der Lage sein, seinen Alltag und Lebensverlauf sinnvoll durchzuorganisieren und die Tendenz zur Verbetrieblichung der Lebensführung in den Griff bekommen. Weiterhin typisch für diese Erwerbsform ist ein häufiger Wandel unterschiedlicher Erwerbslagen im Verlauf des Berufslebens. Zudem wird beim verberuflichten Arbeitnehmer auf eine notwendige innere Disziplinierung, die Selbstkontrolle betreffend, vertraut und mit psychosozialen Führungstechniken ergänzt. Fachliche Kompetenzen sind immer noch maßgeblich und sogar vorausgesetzt, müssen aber von überfachlichen, spezifischen sozialen, kommunikativen, technischen, subjektiven Kompetenzen und Erfahrungen begleitet sein. Unter anderem die Selbstintegration in den Betrieb und die Organisation des Arbeitskraftunternehmertums in das Privatleben erfordern diese Kompetenzen. Der verberuflichte Arbeitskraftunternehmer erfordert möglichst individuelle, hoch komplexe, entwicklungsoffene und vielfältig einsetzbare Qualifikationspotentiale.
Folglich entsteht eine Form eines „ Individualberufs “ , welcher laut Voß jedoch nicht zu völlig freier Kombination, vollständiger Offenheit und ständigem Wandel von Fähigkeiten führen wird.
Eine weitere Herausforderung und Voraussetzung zum Erwerbserfolg besteht in der zusätzlichen Selbstorganisation und Eigenmotivation, die durch die Flexibilisierung der Arbeitsmodalitäten (Zeit, Ort, Aufgaben) erschwert werden. „ Die Ware Arbeitskraft wird dadurch zu einem substantiell h ö herwertigen Produktionsfaktor. “ 17
Nach dem Motto „… so lange bleiben, wie Sie gebraucht werden! “ , wird der Arbeitskraftunternehmer zum strategisch handelnden Akteur, dessen Verhalten sich auch im Verhältnis zur eigenen Arbeitskraft ändert. Er muss seine Fähigkeiten und Qualifikationen in Eigenregie neuen Gegebenheiten gezielt und kontinuierlich anpassen. Darüber hinaus muss er eigenverantwortlich sein Arbeitsvermögen auf seine potentielle wirtschaftliche Nutzung hin weiterentwickeln und sein „ Wissensportfolio “ entsprechend angleichen.18 „ Sie bleiben nur so lange, wie Sie nachweisen und sicherstellen, dass Sie gebraucht werden und Profit erwirtschaften! “19 Das heißt, der „ Unternehmer seiner selbst “ muss eine berechnete Produktionsökonomie seines Arbeitsvermögens betreiben, um für seinen Arbeitgeber von Nutzen oder für überbetriebliche Märkte interessant zu bleiben. Nur diese individuelle Marktökonomie kann sicherstellen, dass die Arbeitnehmerfähigkeiten gebraucht, gekauft und effektiv verwandt werden. Folglich ist das Fachprofil des Arbeitskraftunternehmers ein individuelles Produkt, gleich einem offenen kontinuierlichen Projekt. „ Nicht mehr was man fachlich kann ist entscheidend, sondern wie man sich dynamisch vermarktet. “20 Wie bei keinem anderen Arbeitstypus davor müssen sich Arbeitnehmer in einem umfassenden Sinne als aktive Entwickler und Vermarkter ihrer selbst beweisen.
Es muss an dieser Stelle betont werden, dass diese „ Produktion “ , „ Ausrichtung “ sowie „ Vermarktung “ der Fähigkeiten und Leistungen folgenreiche Veränderungen ihrer gesamten Person und Lebensumstände zur Folge haben. Der gesamte Lebenszusammenhang ist an der andauernden Attraktivität als Arbeitnehmer ausgerichtet, was ebenso an der Ausweitung privater Organisation- und Kommunikationsmittel wahrzunehmen ist.
Es gilt nicht mehr das Motto „ Dienst ist Dienst “ und „ Schnaps ist Schnaps “ , sondern die Arbeit hat direkten Einfluss auf die eigentlich arbeitsfreie Zeit. Davon sind vor allem Privatleben sprich Freunde, Lebenspartner und Familie des Arbeitnehmers betroffen. Unter diesen neuen Umständen stellt sich die bekannte Frage, ob man „ lebt, um zu arbeiten “ oder „ arbeitet, um zu leben “ ganz neu.
Deswegen ist es unbedingt erforderlich, systematisch und alle Ressourcen nutzend den gesamten Lebensbereich durchzugestalten und auszugleichen. Dies wird in der Fachliteratur als Selbst-Rationalisierung des Lebens benannt und beschreibt den Prozess von der unorganisierten Herstellung und Vermarktung von Leistungen zur planmäßigen Koordination d.h. der Entwicklung eines „ eigenen Betriebes “ mit dem Produkt „ Meine Arbeitskraft “ .
Dieses Produkt wird unter besonderen Konditionen, der privaten Lebensführung, erzeugt und vermarktet.
„ Arlie Hochschild spricht in der Analyse eines Work Life Balance-Programms eines amerikanischen Gro ß unternehmens sogar von „ sich umkehrenden Lebenswelten “ : In diesem Unternehmen fühlen sich viele Arbeitskräfte am Arbeitsplatz „ wie zu Hause “ , weil sie dort in hohem Ma ß e emotionale Bestätigung erfahren und Entspannung finden. Umgekehrt haben vor allem erwerbstätige Eltern oft den Eindruck, dass die Organisation des Familienlebens harte Arbeit ist, die sie „ auf quasi industrielle Weise “ rationeller zu gestalten versuchen. “ 21
Man gewinnt einen gewissen Eindruck, wie umfassend dieser Job als Arbeitskraftunternehmer sein muss und wie sehr es ausgleichenden Maßnahmen bedarf, um die Lebensbalance zu wahren. Auch Voß lässt den „ lebendigen “ Hintergrund von Beruf nicht außer Acht und stellt die Vermutung an, dass dies zu einem drängenden Thema für Individuen, Unternehmen und Gesellschaft werden wird.22
Jurczyk und Voß (2000) determinierten des Weiteren die leitende These, dass der Arbeitskraftunternehmertypus mit einer Entgrenzung der gesellschaftlichen Zeitstrukturen konform geht, auf welche im folgenden Abschnitt eingegangen wird.
2.2.2 Entgrenzung der Erwerbsarbeit & Folgen einer reflexiven Lebensführung für den Arbeitnehmer
Als Symptom der neuen reflexiven Stufe von Modernisierung wird die Beziehungen von Arbeit und Leben im Lebensalltag vieler Erwerbstätiger vielfältiger, komplizierter und erfordert eine aktive individuelle Gestaltung. Beck (1995) spricht sogar von einem „belastenden Gestaltungszwang“. Dies geschieht aufgrund von flexibilisierten Arbeitszeiten, Entgrenzungen von Erwerbssphäre und Privatleben beim Telearbeitsplatz und Deregulierungen von Beschäftigungsformen, welche insgesamt auf einen Strukturwandel der Arbeit, neuartige Marktzwänge unterliegend, zurückzuführen ist.23 Jedoch bringt Vielfalt jeglicher Art die Chance der Neuorganisation, kann aber zugleich auch die Gefahr der Orientierungslosigkeit und erheblichen Schwierigkeiten bei der Lebensführung bedeuten.
Die Industriesoziologien Voß & Jurczyk (2000) reden im Zusammenhang mit dem Arbeitskraftunternehmer auch von der „ Entgrenzung der Erwerbsarbeit “ und „ Entgrenzung gesellschaftlicher und individueller Zeitstrukturen “ . Darunter ist zu verstehen, dass gewohnte stabile Strukturen z.B. Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsschutz aufgelöst und von einer sehr ambivalent zu betrachtenden Autonomie der Beschäftigten abgelöst wird. Diese Entgrenzung ist nach Minssen (2000) zugleich eng verbunden mit „ neuen Begrenzungen “ bzw. „ Verlagerung von Grenzen “ und Geißler & Orthey (2002) sprechen im Zusammenhang der Entgrenzung auch von einer „ umfassenden Vereinnahmung der ganzen Person “ .24
Für die Mitarbeiter bedeutet das, dass sie nötige Strukturen für ihre Arbeit selber herstellen sowie sich auf ändernde strukturelle Vorgaben einstellen müssen und dass Entgrenzungen von Organisationen eng verbunden sind mit Neudefinitionen von Grenzen in und zwischen den Organisationen.25 Damit gewinnen Erwerbstätige nur scheinbar neue Freiheiten, denn die erweiterten Spielräume werden im Interesse des Unternehmens genutzt und können nur bedingt für die Verwirklichung eigener Interessen und Ansprüche genutzt werden. Denn mit der Entgrenzung von Arbeit steigt auch die Anforderung an die Subjektivierung von Arbeit beträchtlich. Das bedeutet, dass sich der Erwerbstätige verstärkt in die Arbeit mitgestalterisch einbringen und mit wachsenden, neuartigen Leistungsanforderungen fertig werden muss. Dies kann klar zur Überforderung von Arbeitskräften führen.26 Darüber hinaus besteht das Risiko, dass Schutz-, Entlastungs- und Orientierungsfunktionen fester Strukturen für Arbeitnehmer verschwinden.
„Langfristige Konsequenz einer solchen Entwicklung kann der Übergang zu einer neuen Qualität der gesellschaftlichen Verfassung von Arbeitskraft werden.“27
Diese Veränderungen haben nach Hildebrandt (2000) tief greifende Konsequenzen für die Gestaltung der alltäglichen Lebensführung von Erwerbstätigen, denn für viele Arbeitnehmer wird die Struktur des Alltags fragil, muss neu ausgerichtet und den beruflichen Gegebenheiten angepasst werden. Diese „Verarbeitlichung“ des Alltags bringt mit sich, dass die persönliche Lebensführung bzw. der Alltag mehr und mehr individuell und gesellschaftlich zu einer ergebnisorientierten Aufgabe wird, gekennzeichnet durch systematische Effizienzsteigerung und Rationalisierung. Um diese „alltägliche“ Aufgabe zu bewältigen, bedarf es Organisationstechniken und gezielter Kompetenzen, um die wiederkehrenden Anforderungen an ein aktives Zeithandeln zu bezwingen. Dass dieser Prozess der „verarbeitlichten“ reflexiven Lebensführung im Zuge der Modernisierung der Arbeitswelt ein sehr ambivalenter Prozess ist, zeigt sich in der risikobehafteten Autonomie und Gestaltungsfreiheit des Erwerbstätigen.28
Wie bereits erwähnt, ist Erwerbsleben weniger durch eine Durchstrukturierung gekennzeichnet, sondern eher durch temporäre Auftragsbeziehungen, ebenso dessen Alltagsleben muss durch kontinuierliche Leistung gestaltet werden. Allerdings ist diese Gegebenheit nicht nur durch vielfältig wachsende Anforderungen, aber auch durch eine Gefahr der Überlastung und des Scheiterns gekennzeichnet.29 „Was auf der einen Seite als schöne neue Freiheit zum individualisierten „eigenen Leben“ erscheint, muss auf der anderen Seite als Schritt in eine zunehmend selbst praktizierte Unfreiheit neuer Art gesehen werden.“30 Denn die soziale Entstrukturierung zeigt sich in riskanter Offenheit, die durch verstärkte individuelle und quasi gesellschaftlich erzwungene Eigenstrukturierung und Organisation bewältigt werden muss. Entgrenzung ermöglicht darüber hinaus die Intensivierung der Nutzung von Arbeitskraft durch den Zugriff auf „ das Leben in seiner ganzen Breite “ und die Person „ in der Tiefe ihrer sämtlichen Potentiale “ , wodurch menschliche Motivations- und Leistungsfähigkeit ermittelt wird, wie zum Beispiel Kreativität oder emotionale Intelligenz.
Hildebrandt (2000) kritisiert, dass diese neue Qualität gesellschaftlicher Zwänge fälschlicherweise als neue Individualität interpretiert und somit missverstanden wird. Darüber hinaus äußert sich die Arbeitszeitflexibilisierung und Optionalität zunehmend als Freiheit zur stärkeren Selbstausbeutung des Arbeitnehmers und kann nur bedingt als Win-Win-Konstellationen zwischen Unternehmen und Arbeitsnehmer (wie oft von Unternehmen proklamiert) gesehen werden.31
Hier entsteht die Überlegung, ob dieses neue individuelle Wahlverhalten und die Flexibilisierung des Lebens zu einer besseren Lebensqualität beitragen oder nicht. Allerdings muss bemerkt werden, dass Beschäftigte tatsächlich nur selten eigene Zeitinteressen zu ihren Gunsten in Anspruch nehmen, auch wenn es seitens des Betriebes möglich wäre. Dabei ist es wichtig für das Wohlergehen des Arbeitnehmers ein eigenständiges reflektiertes Zeitinteresse zu entwickeln, denn es ist die Grundlage für ein erfolgreiches individuelles Zeitmanagement, das eine Gleichgewicht zwischen den Anforderungen flexibler Erwerbsarbeit und den Wünschen einer verbesserten Lebensqualität gefunden wird.32
„(…) Beschäftigte (…) werden durchgängig vor grundlegend neue und ambivalente Anforderungen gestellt, (…). Durch die Flexibilisierung wird die Selbstregulation der individuellen Arbeitszeit deutlich erhöht. (…) Darüber hinaus ist Arbeitszeitflexibilisierung mit erhöhtem Leistungs-, Ergebnis und Produktionsvorgaben verknüpft.“33
Diese resultierende permanente, selbstorganisierte Leistungssteigerung wird von den Beschäftigten zur Standortsicherung des Unternehmens und eigenen Sicherheit erwartet und eingefordert. Folge daraus ist, dass Beschäftigte zunehmend ihre privaten Präferenzen den betrieblichen Belangen unterordnen. Folglich entsteht eine Abhängigkeit der eigenen Lebensführung von betrieblichen Vorgaben.34
An dieser Stelle ist es Aufgabe der Unternehmen für eine Balance der Mitarbeiter zu sorgen, Erkrankungen und Burnout vorzubeugen und für eine entsprechende Lebensqualität zu sorgen.
Das Phänomen der Entgrenzung betrifft ebenso den Sektor Aus- und Weiterbildung. Denn nun gestalten erwerbstätige Individuen ihre Bildung aktiv mit. Sie betreiben im Rahmen eines öffentlich geförderten und modulartig strukturierten Bildungssystems ihr persönliches Bildungsmanagement und ihre individuelle Bildungspolitik. Darüber hinaus ist Bildung nicht mehr an bestimmte Lebensphasen gebunden, sondern lebenslanges Lernen wird wörtlich genommen und begleitet das Individuum analog zu sich wandelnden persönlichen Interessen. Bildung wird erneut erheblich stärker in das eigene Leben eingegliedert und an Notwendigkeiten und der Logik der alltäglichen Lebenspraxis angepasst, ganz ohne eine Trennung von Bildung und Leben.35 Auch wenn im Zusammenhang mit Entgrenzung und reflexiven Freiheiten immer wieder die Rede von Autonomie ist, hat sich die persönliche Kontrolle durch das Unternehmen zu einer sachlichen Kontrolle und von einer direkten Steuerung zu einer indirekten Steuerung gewandelt. Denn nun konzentriert sich die Kontrolle auf kostenrelevante Input/Output Größen sowie das erzielte Ergebnis. Dieses Ziel kann der Arbeitnehmer zumeist nur durch Kooperation mit anderen, Selbstorganisation und allen ihm zur Verfügung stehende Ressourcen nutzend erreichen.
Der Anschein neuer Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit besteht dementsprechend nur im funktionalen betrieblichen Rahmen und auch nur unter der Voraussetzung grundlegender Disziplinierung der Person im gesellschaftlichen Prozess.
Dazu gehört auch die räumliche Entgrenzung durch z.B. Heimarbeit, Telearbeitsplatz etc., wofür Mitarbeiter erhebliche Motivations- und Rationalisierungspotentiale entwickeln und selbständig räumliche Strukturen für ihre Arbeit finden müssen. Ein weiteres Symptom der Entgrenzung betrifft den technischen Sektor, der durch komplexe, fortschrittliche Informations- und Kommunikationssysteme begünstigt wird und eine ständige Erreichbarkeit möglich macht.
Auch im sozialorganisatorischen Bereich findet sich die Entgrenzung aufgrund von Gruppenarbeit, Projektarbeit, Dezentralisierungsstrategien, Outsourcing und Profit-Center-Strategien wieder und sorgt für die allmähliche Auflösung von Arbeitsstrukturen hin zur Selbstorganisation durch die Betroffenen. Besonders berührt von Entstrukturierung bzw. Entgrenzungen sind die Dimension Zeit, denn vor allem Arbeitszeit ist weniger verbindlich und durch den betrieblich vorgegebenen Arbeitsrhythmus und das Arbeitstempo determiniert. Obendrein wird Arbeitszeit nicht mehr im 8 Stunden Takt geplant, sondern die Planung erstreckt sich auf Wochen, Monate und sogar Jahre. Aufgrund der Unternehmensvorgabe der Effizienzsteigerung verliert Zeit zusätzlich an Bedeutung. Sonntage, Feiertage oder Feierabende sind nicht länger qualitative selbstbestimmte Eigenzeit.36 Somit muss der gesamte Lebenszusammenhang im Rahmen einer „reflexiven Lebensführung“ auf Basis rationaler Verfahren in möglichst jeder Hinsicht und allen Dimensionen aktiv „restrukturiert“ und „optimiert“ werden. „Nur wem es gelingt, eine eigene Zeitordnung zu etablieren und diese den komplexen Zeitvorgaben aus den Erwerbstätigkeiten (…) gegenüberzustellen wird den zeitlichen Anforderungen an eine Existenz als Arbeitskraftunternehmer gerecht werden. (…) Die Kompetenz entscheidet unter solchen (…) Bedingungen mit über einen gelingenden Alltag und damit (…) über einen gelingenden Lebenslauf.“37 Damit entscheidet der richtige Umgang mit Zeit und anderen Entgrenzungsfaktoren, über erfolgreiche oder nicht-erfolgreiche berufliche Lebensführung.
Die geschilderten Arbeitsumstände sind vor allem im wissens- und informationstechnischen Sektor zu beobachten und funktionieren unmissverständlich nach den Prinzipien der flexiblen Verfügbarkeit sowie riskanten Eigeninitiativen und erfordern zunehmend eine fachliche und qualifikatorische Flexibilität.
Aufgrund der intensiven Prägung des Privatlebens durch die Erwerbsarbeit müssen Grenzen zwischen Arbeit und Leben individuell definiert und ein expliziter Lebensstil gefunden werden. Ebenso die alte Vorstellung von Freizeit muss auf neuer Basis neu abgeleitet werden und bekommt darüber hinaus eine andere Bedeutung (individuell bestimmte Begrenzung von betrieblichen Anforderungen).38
Es gilt die Vermutung anzustellen, dass es Gewinner und Verlierer dieser Entgrenzungsphänomene und umfassenden Anforderungen geben wird. Zu den Gewinnern zählen sicherlich diejenigen, denen die neuen Arbeitsbedingungen Vorteile bringen und die die nötigen Kompetenzen aufbringen, diese Anforderungen zu bewältigen.
Zu den Verlierern werden jene gehören, denen aufgrund ihrer beruflichen und persönlichen Situation Nachteile entstehen und die die essentiellen Qualifikationen und Ressourcen zur Bewältigung der Anforderungen an einen Arbeitskraftunternehmer fehlen.
Beiden Gruppen ist, trotz verschiedener Voraussetzungen und Folgen, gemein, dass sie ein umfassendes reflexives Zeitkonzept entwickeln müssen, um die fortschreitende Entgrenzung von Zeit zu bewältigen.39 Zwar sind diese Entgrenzungserscheinungen aus ökonomischen Gründen nicht aufzuhalten, es ist jedoch Aufgabe des Unternehmens (der Gewerkschaften) auch der Sozialpolitik, diese im Alltag lebbar und sozial tragbar zu machen.
Denn die Auswirkungen gehen über den betroffenen Arbeitnehmer hinaus, es betrifft zunehmend Familien, Kollegen und Freunde, die von veränderten Arbeitszeiten etc. und deren Folgen ebenso betroffen sind. Gegenwärtig in aller Munde ist dieses Missverhältnis unter dem Terminus „ Work Life Balance “ und wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit genau erörtert.
[...]
1 Alan Lakein is a world leading expert on personal time management.
2 Mit der Verwendung der männlichen Form ist in der gesamten Arbeit immer zugleich auch die weibliche Form gemeint
3 vgl. Badura 2004, S.55
4 vgl. Kastner 2004, S.12ff
5 Matuschek 2004, S.115
6 vgl. Badura 2004 Kapitel 12
7 vgl. Dostal 2001, S.7 ff
8 vgl. Badura 2004, Kapitel 12
9 vgl. Böhm 2004, S. 152 ff
10 vgl. Voß 2001, S. 2
11 Unruh 2001, S. 2
12 Voß 2001, S.4
13 vgl. Voß 2003, S.2
14 vgl. Minssen 2000, S.225 ff
15 Pongratz & Voß 2001, S.3
16 vgl. Voß & Pongratz 2001, S.1 ff
17 Pongratz & Voß 2001, S.5
18 vgl. Unruh 2001, S. 2
19 Voß & Pongratz 2001, S. 5
20 Voß 2003, S.8
21 Pongratz 1998, S. 7
22 vgl. Voß 2003, S.2 ff
23 vgl. Hildebrandt 2000, S.28ff
24 Preißler 2004, S.294
25 vgl. Minssen 2000, S.10
26 vgl. Hildebrandt 2000, S.33
27 Hildebrandt 2000, S.33
28 vgl. Hildebrandt 2000, S.34ff
29 vgl. Voß, 2003 S.2
30 Hildebrandt 2000, S.34
31 vgl. Hildebrandt 2000, S.38
32 vgl. Hielscher 2000, S.144ff
33 Hielscher 2000, S.147
34 vgl. Hielscher 2000, S.148
35 vgl. Voß 2003, S.11
36 vgl. Jurczyk et al 2000, S.158ff
37 Jurczyk et al 2000, S.187
38 vgl. Hildebradt 2000. S.41ff
39 vgl. Jurczyk et al 2000, S.195ff
- Arbeit zitieren
- Judith Zylla-Woellner (Autor:in), 2008, Work Life Balance bei der Mustermann GmbH - Umsetzung der Work Life Balance, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210549
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