In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, welche Bereicherung Fachkräfte durch langjährige Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung erleben. Dabei wurden die positiven Veränderungen und die Aspekte der Entwicklung oder der Verfeinerung der Fähigkeiten durch die praktische Arbeit erforscht. Im besonderen wurde die subjektiv empfundene Veränderung der Wahrnehmung von körperlicher Schönheit und der Vorstellung von Gesundheit der Fachkräfte, ausgelöst durch die tägliche Arbeit mit Menschen mit Behinderung erfragt. Alle Fachkräfte konnten bei sich selbst positive Veränderungen feststellen und eine Veränderung in der Vorstellung von Gesundheit, genauer gesagt eine Erweiterung der Erfassung der individuellen Bedeutung und des Stellenwerts von Gesundheit. Nicht bestätigt wurde hingegen die Annahme, dass die meisten Fachkräfte nach mehreren Arbeitsjahren im Behindertenbereich körperliche Schönheit für sich anders definieren.
In the present study the enrichment, that professionals experience through their long-term work with people with intellectual disabilities was examined. Primarily the positive changes were shown and the aspects of the development or refinement of skills through practical work were explored. Especially the following aspect was included: the subjectively considered change of the perception of physical beauty and of the conception of health of the professionals, initiated by the daily work with people with disabilities. All professionals could realise positive changes on theirselves and a change in the conception of health occurred, specifically an extension of the coverage of the individual meaning and importance of health had taken place. On the contrary the assumption was not confirmed, that most professionals would define physical beauty differently after several working years in the disability field.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Persönliche Motivation und Begründung der Themenwahl
1.2. Die Forschungsfrage
1.3. Definition Menschen mit Behinderung
1.4. Definition Fachkräfte
1.5. Relevanz der Arbeit
1.6. Die Ziele dieser Arbeit
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Behinderung
2.2. Begegnung mit Menschen mit Behinderung
2.3. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen in Österreich 2008
2.4. Arbeit mit Menschen mit Behinderung
2.4.1. Arbeit allgemein
2.4.2. Leistung
2.4.3. Lebenslanges Lernen
2.5. Menschenbild in der Behindertenarbeit
2.6. Normalität
2.7. Interaktion mit und Beziehung zu behinderten Menschen
2.7.1. Kommunikation und intuitives Wissen
2.7.2. Wahrnehmung und "Menschensprache"
2.8. Fremdheit und Stigmatisierung
2.9. Normative Vorstellungen von Gesundheit und Schönheit
2.9.1. Körperliche Schönheit
2.9.2. Die manipulierte Schönheit von heute
2.9.3. Der "genormte Mensch" als Schönheitsideal
2.9.4. Schönheit und Behinderung
2.10. Gesundheit
2.10.1. Gesundheit und der Körper
2.10.2. Gesundheit und die Seele
2.10.3. Gesundheit und Behinderung
3. Empirischer Teil
3.1. Feldforschung – InterviewpartnerInnen
3.2. Tabellarische Übersicht der InterviewpartnerInnen
3.3. Erhebung
3.4. Der Leitfaden
3.5. Auswertung
3.6. Methodisches Vorgehen bei der Auswertung
4. Präsentation der empirischen Untersuchungsergebnisse
4.1. Motivation mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten (Kategorienspalte A)
4.2. Persönliche Definition von körperlicher Schönheit und der Einfluss von Menschen mit Behinderung auf das persönliche Schönheitsempfinden (Kategorienspalte C, D)
4.3. Vorstellung /Veränderung des Gesundheitsbegriffes (Kategorienspalte E, F)
4.4. Einfluss der Arbeit / Gewinne aus der Arbeit (Kategorienspalte B, G, H)
5. Zusammenführung Theorie und Empirie – Conclusio
5.1. Ergebnisse – Diskussion
5.2. Antworten auf die Unterfragen der Forschungsfrage
5.3. Grenzen der Arbeit
5.4 Ausblick
Literaturliste
Anhang
Auswertung wichtigste Kategorien
Auswertung Tabellenzusammenfassung
1. Einleitung
1.1 Persönliche Motivation und Begründung der Themenwahl
Ein Erlebnis an einem Arbeitsvormittag löste bei mir die Frage nach Veränderungen bei Fachkräften im Behindertenbereich aus. Genauer gesagt war es die Aufgabe, Fotos von Kindern für einen Programmfolder für ein Zentrum für Familien mit Kindern mit Behinderung auszusuchen. Auf diesen Fotos waren Kinder mit geistigen Behinderungen im Alter von zwei bis zehn Jahre abgebildet und sowohl meine Kollegin, als auch ich waren entzückt, wie "hübsch" und "süß" die Kinder aussahen.
Plötzlich kamen Zweifel auf: Würden andere Menschen, die nicht im Behindertenbereich arbeiten, diese Kinder auch als "hübsch" und "süß" ansehen? Manche Kinder waren im Gesicht sichtlich entstellt, aber das hat uns nicht gestört.
Hat uns die Arbeit so weit verändert, dass wir Menschen, die möglicherweise allgemein als abstoßend empfunden werden, ansprechend empfinden?
1.2. Die Forschungsfrage
Somit entstand die Forschungsfrage: Was macht die Arbeit mit uns?
Die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung wird hier als prägende, biographische Erfahrung verstanden, und in der vorliegenden Studie werden in erster Linie deren positive Auswirkungen und Veränderungen aufgezeigt.
Die Forschungsfrage spezifischer formuliert lautet:
Welche Bereicherung erleben Fachkräfte durch die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung?
Die Forschungsfrage lässt sich weiter in folgende Unterfragen gliedern:
- Welche Fähigkeiten werden durch die praktische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung - unabhängig von der Ausbildung der Fachkräfte - entwickelt oder verfeinert?
- Wird durch die täglichen Begegnungen mit Menschen mit Behinderung die Wahrnehmung von körperlicher Schönheit verändert?
- Verändern sich die Vorstellungen der Fachkräfte über Gesundheit?
Die Auswahl dieser zwei Begriffe fiel deswegen fast schon in selbstverständlicher Weise, weil Schönheit und Gesundheit Begriffe sind, die mit Menschen mit geistiger Behinderung eher nicht in Verbindung gebracht werden. Eine allgemein verbreitete Annahme lautet: Behinderte sind nicht schön und gesund schon gar nicht, sonst wären sie nicht behindert. Die Aufgabe schien sinnvoll zu sein, sich über diese negativen, stereotypen Vorstellungen Gedanken zu machen und sie zu überprüfen.
1.3. Definition Menschen mit Behinderung
Wenn in dieser Arbeit die Bezeichnung "Menschen mit Behinderung" als Definition einer Menschengruppe steht, sind damit in erster Linie Menschen mit einer geistigen Behinderung gemeint. Dahinter ist keineswegs eine etikettierende und distanzierende Haltung zu suchen. Behinderung im Sinne von "behindert sein", wird in dieser Arbeit als komplexes, soziales Problem verstanden durchaus im Bewusstsein dessen, dass sich ein "Mensch ohne Behinderung" nur in der Rolle eines wohlwollenden Zeugen mit Mitgestaltungskraft dem Thema "Behinderung" nähern kann. Der Versuch, mit nachvollziehbaren Gedanken die Brücke zwischen den "Funktionierenden" und den auf Unterstützung angewiesenen Menschen zu verkürzen, dient dabei als Antriebskraft.
Die Autorin nimmt bewusst Abstand von dem derzeit häufig verwendeten Satz bei Tagungen oder Vorträgen: "Wir sind doch alle behindert!". Dahinter könnte man die wohlgemeinte Absicht der Gleichstellung erahnen, jedoch verharmlost dieser Satz die gesellschaftliche Situation und löst bei Menschen mit Behinderung oft Wut aus.
1.4. Definition Fachkräfte
Um eine einfache Formulierung zu erleichtern werden alle interviewten Personen, die im Behindertenbereich tätig sind, Fachkräfte (oder auch InterviewpartnerInnen und Befragte) genannt. Darunter sind Personen zu verstehen, die ihr Studium in Sonder-, und Heilpädagogik oder in Psychologie absolviert haben und einer Lehrtätigkeit nachgehen, oder die zusätzliche psychotherapeutische Ausbildungen mit ergänzenden Weiterbildungen absolviert haben und/oder auch therapeutisch tätig sind, sowie die Lehranstalt für heilpädagogische Berufe oder andere Behindertenlehrgänge wie u.a. anthroposophische Heilpädagogik absolviert haben oder medizinische Berufe erlernt haben. Mit dem Begriff Fachkräfte werden hier verschiedene Professionen zusammengefasst wie: SchulpsychologIn, PsychologIn, BeraterIn, PsychotherapeutIn, BetreuerIn in einer Wohngemeinschaft, BehindertenbetreuerIn, FreizeitbetreuerIn, MedizinerIn, LehrerIn in einer Integrationsklasse, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie in ihrem Berufsleben täglich mit Menschen mit Behinderung, jedoch nicht ausschließlich in der Pflege arbeiten.
Die Betreuung von Menschen mit Behinderung in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Freizeit sowie die dazugehörigen pflegerischen Maßnahmen werden in dieser Arbeit als Behindertenarbeit definiert. Diese Begriffsverwendung gilt in diesem Kontext wegen seiner fehlenden Komplexität nur für diese Arbeit.
In den Leitfadeninterviews werden Antworten auf die Forschungsfrage gesucht:
Welche Bereicherung erleben Fachkräfte durch die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung?
Damit ist auch die Frage gemeint, ob und wie die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung positive Veränderungen in den persönlichen Einstellungen und den Werten der Fachkräfte bewirken kann.
Zwei Aspekte werden konkret hervorgehoben, ob und wie sich das Bild der InterviewpartnerInnen über körperliche Schönheit und Gesundheit durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verändert hat. Dass Fachkräfte eine positive Wirkung auf die ihnen anvertrauten Menschen haben, ist durchaus erwünscht und ist mitunter ein entscheidender Punkt bei der Berufswahl. Verändern aber Menschen mit Behinderung auch ihre BetreuerInnen, in ihren Einstellungen, in ihren Werten, gar in ihrem privaten Leben? Wenn ja, wie?
Diese Untersuchung wendet sich einem Thema zu, das in der Fachliteratur vergleichsweise noch wenig präsent ist. Der Anspruch der Arbeit ist nicht, Begriffe wie Schönheit und Gesundheit in all ihren Bezügen zu erläutern und zu analysieren, denn dies würde einen größeren Forschungsrahmen und zusätzlich andere Methoden der Erhebung voraussetzen.
1.5. Relevanz der Arbeit
Die Reichweite der Entscheidung, sich beruflich mit Menschen mit Behinderung auseinanderzusetzen, wird für die Persönlichkeitsentwicklung in den wenigsten Fällen bewusst erfasst. Die relative Unwissenheit über die Auswirkungen der Arbeit im Behindertenbereich auf die Persönlichkeit der Fachkraft selbst wurde von der Autorin erstmalig in Gesprächen entdeckt, in denen KollegInnen gefragt wurden, ob es ihnen bewusst ist, "was die Arbeit in uns bewirkt" und "welche Fähigkeiten wir uns dadurch angeeignet oder verfeinert haben". Da die Antworten vage ausfielen, erschien die Idee sinnvoll, dieser Frage nachzugehen, weil es ein durchaus relevanter Aspekt bei der Berufswahl zukünftiger Fachkräfte sein könnte. Zu wissen, welche Fähigkeiten beim täglichen Einsatz geschult werden und wie die Wertvorstellungen allgemein verändert werden können, könnte ein zusätzlicher Anreiz sein, sich auf die Beziehungen mit Menschen mit Behinderung beruflich einzulassen. Freilich können solche Entwicklungen nicht zugesichert werden, aber bei einer gewissen Häufigkeit des Eintretens kann man sie als eher wahrscheinlich erwarten.
1.6. Die Ziele dieser Arbeit
- Die Veränderungen auf die Persönlichkeit der Fachkraft, die durch die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung eintreten, im kleinen Rahmen darzustellen.
- Die Gewinne auf der persönlichen Ebene durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderung aufzuzeigen.
- Einen konstruktiven Beitrag zur Vervollständigung des Bildes der Behindertenarbeit zu leisten.
Abschließend sollen kritisch auch die Grenzen dieser Untersuchung aufgezeigt werden.
Im theoretischen Teil wird das Phänomen "Behinderung" mit seinen hier relevanten Aspekten beleuchtet sowie die Arbeit allgemein und speziell mit Menschen mit Behinderung. Weiters werden signifikante Themen wie Kommunikation und Wahrnehmung und die gesellschaftliche Situation und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung behandelt. Normative Vorstellungen von Gesundheit und Schönheit werden kritisch überprüft und in Bezug zur Behinderung gestellt.
2. Theoretische Grundlagen
In diesem Abschnitt werden die Kernbegriffe, die der Arbeit zu Grunde liegen, theoretisch dargestellt, definiert, und in Bezug auf das Erkenntnisinteresse diskutiert. Für die Forschungsfrage sind dabei einerseits die Kernbegriffe "Arbeit" und "Behinderung" und anschließend daran die Arbeit mit Menschen mit Behinderung von Relevanz.
Fokus der empirischen Erhebung ist die Frage, wie sich Fachkräfte durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderung positiv verändern. Der Kern und Anstoß dieser Veränderung ist die Interaktion mit und die Beziehung zu diesen Menschen. Deswegen soll in dem entsprechenden Kapitel genau diese Beziehung beleuchtet werden. Dazu gehören Wahrnehmung, "Menschensprache", Kommunikation, intuitives Wissen sowie Stigmatisierung.
Wie in der Einleitung beschrieben, kann die Hauptforschungsfrage noch weiter differenziert werden - es ist zu vermuten, dass besonders normative Vorstellungen über Gesundheit und Schönheit eine Rolle in der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung spielen. Genau damit gilt es, sich kritisch auseinanderzusetzen: Es soll hinterfragt werden, welche Vorstellungen sich bei den Fachkräften in welcher Art und Weise durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verändern.
2.1. Behinderung
Das international anerkannte Klassifikationssystem zur Darstellung von Behinderung ist die Definition der WHO (World Health Organisation):
1. Impairment (Schädigung) ist ein anatomischer, physiologischer oder psychologischer Mangel oder eine Abnormität eines Organsystems oder des Organismus und ist an äußerlichen Symptomen, an einer fehlerhaften oder an einer fehlenden Funktion einer der genannten Systeme oder Organe erkennbar.
2. Disability (Beeinträchtigung) ist eine, der jeweiligen Schädigung folgende, Funktionseinschränkung, die bei der Bewältigung von Anforderungen im Alltag und sonstigen Aufgaben von negativ beeinflussend bis zu hindernd wirkt.
3. Handicap (Benachteiligung, Behinderung) ist eine aus einer Schädigung oder Beeinträchtigung resultierende Schwierigkeit, Tätigkeiten, die essentiell wichtig für die täglichen Lebensführung sind, auszuüben.
Die Konsequenzen dieser Schwierigkeiten führen zu einer Benachteiligung in der Familie, im Beruf und in der Gesellschaft.
(Vgl. http://www.behinderung.org/definit.htm entnommen am 7.7.2012)
Um Behinderung in Kontext zu nicht-Behinderten zu setzen, schreibt Michel (1999), dass bei der Feststellung, was als behindert und was als normal gilt, der Mittelwert einer Population ausschlaggebend ist. Um die Relativität der Behinderung zu verdeutlichen, wird das Beispiel gebracht, dass es etwa Legastheniker in schriftlosen Kulturen nicht geben kann etc. Behinderung könnte also als ein Konstrukt bezeichnet werden, das sich aus gesellschaftlicher Zuschreibung, medizinisch-psychologischer Diagnose und aus subjektiver Befindlichkeit zusammensetzt. (ebd. S. 206)
Längle (2001) stellt zwei Fragen im Zusammenhang mit individueller Behinderung: Wer stellt Behinderung fest, und was ist (wird) behindert? Er betont dabei zwei wichtige Referenzpunkte: Die subjektiv-individuell empfundene Behinderung und die normativ-generell festgestellte Abweichung von den als gültig definierten Werten. Um die unklare Grenze und die Wichtigkeit der persönlichen Wahrnehmung aufzuzeigen, bringt er den Vergleich zwischen zwei Menschen: Der eine Mensch kann sich zwar subjektiv behindert fühlen, obwohl seine Fähigkeiten über dem Durchschnitt liegen, der andere fühlt sich normal, obwohl seine Defizite nur ihm nicht ersichtlich sind.(ebd. S. 51)
Obwohl die Defizite für den Betrachter als erstes erkennbar sind, machen sie einen Menschen noch zu keinem "Behinderten", vielmehr ist die soziale Ausgrenzung und Verachtung dafür verantwortlich, wenn ein Mensch "behindert wird". Die daraus entstandenen Konsequenzen führen dazu, dass der Mensch für seine Verhältnisse kein "normales" Leben führen kann, weil die Behinderung in ihrem gesellschaftlichen Kontext isolierend erlebt wird.
Zusammengefasst: nicht die Beeinträchtigung oder der "Defekt" sind die entscheidenden Faktoren, sondern die Folgen und Konsequenzen, die sich dadurch für den Menschen ergeben.
Nach Bleidick wird die Komplexität der Behinderung von folgenden Faktoren mitbestimmt:
- Soziale Kontextfaktoren wie: familiäre, schulische, berufliche und öffentliche Faktoren, bei denen mit Konsequenzen der Behinderung zu rechnen ist.
- Die Art der Behinderung auf der körperlichen Ebene - Sehbehinderung, Hörbehinderung, usw. und auf der geistigen Ebene - Intelligenzminderung, Verhaltensstörung, usw.
- Ausmaß der Beeinträchtigung.
- Die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung der Behinderung
Wichtig ist dabei, hervorzuheben, dass die individuellen und sozialgesellschaftlichen Auswirkungen in ständigem Wechselspiel zueinander stehen. (vgl. BLEIDICK 1999)
2.2. Begegnung mit Menschen mit Behinderung
"Menschen mit Behinderungen, besonders mit schweren Behinderungen, sind besonders verletzlich, denn sie können ihre Sehnsucht nach Beziehungen nicht hinter Geschäftigkeit verbergen. In gewisser Weise bestehen sie nur aus Herz: aus einem verwundeten, ganz und gar offenen Herzen" (Vanier 1985, S.139).
Sie sind geradlinig im Handeln, sehr ehrlich in Äußerungen und stellen freudig Beziehungsangebote (Vgl. ebd.). Sie verstellen sich nicht, sie könnten sich auch nur bedingt verstellen, außerdem für welchen Zweck? Sie bewegen sich am Rande der Gesellschaft und als Zugehörige einer Randgruppe haben sie kaum etwas zu verlieren.
Schönheit und Gesundheit sind erstrebenswerte Zustände, um sich in der Gesellschaft erfolgreich integrieren und behaupten zu können. Jenen Menschen, die zumindest mit normalen, durchschnittlichen körperlichen Ressourcen ausgestattet sind, werden körperliche Voraussetzungen für ein normales Leben in die Wiege gelegt. Andere Menschen kommen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung auf die Welt, oder werden im Laufe ihres Lebens durch Lebensereignisse wie zum Beispiel durch eine Impfung, einen Unfall, eine Krankheit, eine Kriegsverletzung etc. behindert. Ihre Chancen, der gängigen Norm zu entsprechen, sinken durch diese Ereignisse enorm und es wird ihnen - ab dem Zeitpunkt der Feststellung der Behinderung - verwehrt, einen produktiven und angesehenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, weil ihre Arbeitskraft in unserer kapitalistischen Wirtschaftsform mit einer geringen Verwertbarkeit verknüpft ist.
Sie sind die Beweise dafür, dass die Natur nicht nur autonome Menschen ausgestattet mit gesellschaftsrelevanten Ressourcen und mit harmonischem Erscheinungsbild hervorbringt, sondern auch Menschen mit sichtbaren "Defiziten" und mit Unterstützungsbedarf, die der Gesellschaft einen vergleichsweise geringen oder gar keinen finanziellen Profit einbringen werden. Die Ansicht, dass alles an modernen medizinischen Ressourcen dafür zur Verfügung stehen soll, um "unnötiges Leid" zu vermeiden - auch wie die Geburt eines Kindes mit Behinderung - ist verbreitet. Dabei wird nicht konsequent weitergeführt, dass Behinderung jeden Menschen in jedem Alter unerwartet treffen kann, auch einen selbst.
Menschen mit Behinderung werden kaum als schön und gesund wahrgenommen, eher als abstoßend und krank, obwohl sie sich oft bester Gesundheit erfreuen und ein ausgesprochen ästhetisches Erscheinungsbild haben können. (Vgl. Lutz 2003) In Spendengalas oder auf Plakaten werden sie vermehrt als lächelnde, auf Spenden wartende und dabei einfache Tätigkeiten ausübende Menschen abgebildet. Diese Bilder tragen eher dazu bei, dass Menschen mit Behinderung mit dem Gefühl von Mitleid, Peinlichkeit, Bedauern und Abstand begegnet wird.
Längle (2001) schrieb "Der Behinderte wird als fremd empfunden, erlebt sich als unverstanden und eigenartig und als solcher als Belastung und Bedrohung für das seelische Gleichgewicht seiner Umgebung. Man möchte den Behinderten nicht bei sich haben, weil man die Beziehung zu ihm nicht schafft - ganz abgesehen von den vielen Aufgaben, die im Beisammensein mit Behinderten anfallen" (ebd. S. 55).
Ebendort schreibt Längle über die Überforderung, einem Menschen mit Behinderung das erste Mal zu begegnen und über die Schwierigkeiten des Vergleichs: Wie wäre es, wenn der "gesunde" - oder besser formuliert der "unauffällig funktionierende" - Mensch auch in diese Lage geraten wäre? Wäre sein Leben noch gut und lebenswert? Die verneinende Antwort darauf bringt eine zusätzliche Hinderung, diesen Menschen selbstverständlich zu begegnen, weil die persönlichen Ängste und die fehlenden Erfahrungen eine zu große Hürde sind und eine Mauer bilden. (ebd.) Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen mit Behinderung allgemein unglücklich sein müssten, weil sie all das Gute, das man selber hat, nicht haben.
Angst ist ein bedeutsamer Faktor bei der Begegnung mit dem Fremden.
(Vgl. MÖLLER, TRÄUPTMANN 2011, S.119) Die Angst, von Behinderung selbst betroffen zu werden und von den gültigen gesellschaftlichen und ästhetischen Normen abzuweichen, seine Arbeitskraft nicht mehr gut vermarkten zu können oder ein Kind mit Behinderung zu bekommen, ist existent.
BONFRANCHI (2010) schreibt, dass bei der näheren Betrachtung der Integrationsbemühungen erkennbar wird, dass bei Menschen mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung die Bereitschaft zur Integration größer ist, Menschen mit geistiger Behinderung werden hingegen weniger in Integrationsüberlegungen mit einbezogen.
Da unser Gehirn ein unendlich kompliziertes Organ ist, werden geistige Behinderungen schlimmer eingestuft als körperliche Beeinträchtigungen, weil Phänomene, die sich der Mensch nicht erklären kann, ihn vorsichtig stimmen oder Angst in ihm auslösen. Ein Mensch, mit einer körperlichen Beeinträchtigung, aber mit guten kognitiven Fähigkeiten, wird als weniger fremd und dadurch weniger bedrohlich erlebt, als ein Mensch mit einem unauffälligen Körper aber mit einer geistigen Behinderung. Die Vorstellung, ein Bein oder das Hörvermögen zu verlieren, erscheint weniger bedrohlich zu sein, als der Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Während bei einer körperlichen Behinderung ein Teil der Kontrolle über die Lebensgestaltung erhalten bleibt, scheint beim Verlust der kognitiven Fähigkeiten die Kontrolle zu schwinden.
2.3. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen in Österreich 2008
Da die aktuell geltenden Statistikzahlen aus dem Jahr 2008 stammen, werden diese hier angeführt:
Die mit Abstand am häufigsten registrierten dauerhaften Beeinträchtigungen in Österreich sind Probleme mit der Beweglichkeit. Betroffen sind davon hochgerechnet rund 1 Mio. Personen in Privathaushalten, das entspricht 13,0 % der österreichischen Bevölkerung. Weitere 579.000 Personen, das entspricht 7,0 % der Bevölkerung, haben chronische Beeinträchtigungen wie z.B. Allergien, Asthma, Diabetes, Bluthochdruck, Migräne, oder chronische Schmerzen. Die drittstärkste Gruppe bilden mit 318.000 betroffenen Personen - 3,9 % der Bevölkerung - Menschen mit Sehproblemen. An vierter Stelle liegen mit 2,5 % bzw. rund 205.000 Personen nervliche und psychische Probleme vor. Annähernd ebenso viele Befragte - 2,5 % bzw. rund 202.000 Personen - gaben Probleme beim Hören an.
Geistige Probleme oder Lernprobleme betreffen 1,0 % der Bevölkerung, das sind rund 85.000 Personen und Probleme beim Sprechen haben 0,8 % bzw. rund 63.000 Personen angegeben.
7,0 % der Bevölkerung haben mehr als eine Beeinträchtigung, das entspricht etwa 580.000 Personen mit mehreren, dauerhaften Beeinträchtigungen.
Von Mehrfachbeeinträchtigungen sind primär ältere, allein lebende Frauen betroffen. Dauerhafte Beeinträchtigungen für beide Geschlechter treten im höheren Alter am häufigsten auf. (vgl.http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/III/III_00023/imfname_147481.pdf, entnommen
am 7.7.2012)
Bei diesen Statistiken spielt die Definition der Behinderung eine entscheidende Rolle. Eine vollständige Erfassung wird kaum möglich sein, aber dass es sich um eine große Zahl von Betroffenen handelt, steht außer Zweifel. Weil die Größe der Gruppe mit nervlichen und psychischen Problemen stetig wächst, wäre es sinnvoll, auf der politischen Ebene diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass in absehbarer Zeit ernsthafte, finanzielle Konsequenzen dadurch auftreten, relativ hoch ist.
2.4. Arbeit mit Menschen mit Behinderung
2.4.1. Arbeit allgemein
Ludwig von Mises hat 1940 den Menschen als Produkt seiner Vergangenheit in jedem Augenblick des Daseins, als Ergebnis des Erbes seiner Vorfahren und dem, was er aus seinem Erbgut gemacht hat, bezeichnet. Die Ideen und Wünsche, die ihn erfüllen, stammen nicht nur von ihm, sondern haben die Prägung all seiner Vorfahren. Seine Zielsetzungen und Wege finden auf individuelle Weise Ausdruck, was auf die aktuellen Einflüsse jeglicher Art zurückzuführen ist. VON Mises betont ebenda, dass Sinn und Zweck des Handelns die Beseitigung von subjektiv empfundenem unbefriedigt sein ist. (Vgl. S.593)
Wenn unbefriedigt zu sein als treibende Kraft für Handlungen verstanden wird, wäre es denkbar, unter dem unbefriedigt sein auch den Wunsch zu vermuten, einer Beschäftigung nachzugehen, die sinnerfüllt ist. Etwas Sinnvolles in der Welt zu bewirken und mit Menschen zu arbeiten wird als einer der Hauptgründe im sozialen Bereich für den Berufswahl angegeben.
Luczak (1998) versteht Erwerbsarbeit als Tätigkeit, bei dem der Ausübende mit anderen Menschen und Hilfsmitteln in Interaktion tritt. Dabei werden unter wirtschaftlichen Zielsetzungen Dienstleistungen erbracht und Güter erstellt, die direkt sowie indirekt zur Erhaltung der Existenz der Gesellschaft und des Auszuübenden dienen. Letzteres wird bedingt von der gesellschaftlichen Akzeptanz und Honorierung der Tätigkeit, die unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geplant, zielgerichtet und willentlich gesteuert ausgeführt wird. Luczak betont noch die Veränderung, die durch die verrichtete Arbeit in der materiellen und ideellen Umwelt und im Erleben der Arbeitenden eintritt. (ebd. S.3)
Dabei treffen die Anforderungen und der Bedarf des Arbeitsmarkts und die Interessen, Wünsche und Fähigkeiten der Menschen als Prozess der Annäherung aufeinander.
Bei der Persönlichkeitsentfaltung durch die Arbeit werden im Optimalfall Selbstverwirklichung und Autonomiebestrebungen in die Arbeit so integrierbar, dass persönliche Ziele und Arbeitsziele komplementär verlaufen können. (ebd. S.4)
2.4.2. Leistung
Die Leistungsideologie, die den Wert eines Menschen an seinen Leistungen in der Produktion von verwertbaren Produkten oder Dienstleistungen misst, begleitet uns alle von Kindesalter an. Damit ist die Bewertung durch Schulnoten in der Volksschule, bis zu der Identitätsbildung über den Beruf bis ans Lebensende gedacht. Die Gestaltungs- und Arbeitskraft stellt dabei den Schlüssel für Erfolg und Anerkennung dar. Gute Leistungen geben das Recht, sich überlegen und zu einer anerkannten gesellschaftlichen Schicht zugehörig zu fühlen. Das Erleben von Selbstwert ist dabei eng mit Leistungen verknüpft, weil es von Beginn des Lebens an vorgelebt und belohnt wird. (vgl. Luczak 1998)
2.4.3. Lebenslanges Lernen
Der Aspekt des lebenslangen Lernens spielt in der Behindertenarbeit eine wichtige Rolle, weil in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung das Eintreten beidseitiger persönlicher Entwicklung ausdrücklich erwünscht ist. Entwickeln sich die Menschen mit Behinderung in ihren Fähigkeiten weiter, "müssen" die betreuenden Fachkräfte ebenfalls mit einer Weiterentwicklung - auf einer für sie persönlich folgerichtigen Ebene - antworten. Es ist nicht zielführend, sich dem inneren Stillstand zu ergeben und gleichzeitig zu erwarten, dass die betreuten Personen an Fähigkeiten oder Verhaltensweisen mehr Kompetenz zeigen. Diese Arbeit bedeutet eine andauernde Herausforderung sowohl auf der fachlichen, als auch auf der persönlichen Ebene, weil sich der Mensch und die Probleme mit seiner Umwelt im permanenten Wandel befinden. Hilfreich ist dabei, wenn die Fachkraft den Wunsch in sich verspürt, sich lebenslang weiter zu entwickeln, sowie sich die Fähigkeit vom Lernen des Lernens (als Methode) aneignen will. Wenn das nicht gegeben ist, kann man nicht von einer Arbeitskraft sprechen, die sich lange bewähren wird. Die lebenslange Ausübung eines Berufes wird für immer weniger Menschen möglich, deswegen gewinnt das lebenslange Lernen generell immer mehr an Bedeutung in der Arbeitswelt.
Wie sich in den Interviews gezeigt hat, absolvieren viele Fachkräfte in der Behindertenarbeit zahlreiche Weiterbildungen und eignen sich auch relevante Fachkenntnisse in angrenzenden Disziplinen an, obwohl sich die Honorierung ihrer Arbeit eher im unteren bis mittleren Einkommensfeld bewegt. Die Entlohnung ist meistens kein entscheidender Faktor bei der Berufswahl im Behindertenbereich, sondern eher eine allgemein idealistische Lebenseinstellung in Verbindung mit der eigenen Lebensgeschichte.
Saal schrieb 1998: “Erst wenn ich bei mir bleibe, kann ich es wagen, vom sicheren Grund des Eigenseins meinen Fuß auf das Terrain des Anderen zu setzen, um sein Land zu erkunden und dort als für mich vielleicht brauchbar Gefundenes in das eigene Lebenskonzept einzufügen” (ebd. S.72).
Es braucht Mut und ein hohes Maß an Authentizität und Reflexion, um sich zu trauen, Menschen, die offensichtlich so anders sind, zu begegnen, mit ihnen zu arbeiten und sich im Inneren berühren zu lassen. Die Arbeitsbeziehungen zu Menschen mit Behinderung gestalten sich intensiv und in reinster Form menschlich. Weil diese Menschen ihre innere Realität offen preisgeben und zu ungebremsten Gefühlsäußerungen neigen, entsteht häufig eine emotionsgeladene Atmosphäre - positiv wie negativ - die es auszuhalten gilt.
Bonfranchi zeigt 2010 in seinem Artikel "Mitleid" den Versuch, Normalität vorzutäuschen, deutlich auf.
"Wir müssen diesen Menschen in einer lebensbejahenden, positiven, freundlichen,
humorvollen Art und Weise begegnen und so tun, als ob… Als ob nichts wäre. Es ist aber trotzdem da. Die Behinderung bzw. die schwere Behinderung ist existent und es hat schon etwas Komisches, so zu tun, als ob nichts wäre. Hier tut sich ein Widerspruch auf, über den man sich, wenn man länger in diesem Feld arbeiten will und gut arbeiten will, m. E. Klarheit verschaffen muss. Tut man dies nicht, so läuft man Gefahr, einer Normalität nachzurennen, die es so nicht geben kann. Man muss diesen Widerspruch erkennen und mit ihm umgehen lernen."(ebd.)
Menschen mit Behinderung wollen aber "normal" behandelt werden, so wie jeder andere. Es bedarf einer professionellen Herangehensweise der Fachkräfte, diese paradoxe Gegebenheit zu erkennen und damit reflektiert umzugehen. So können durchaus entspannte und normale Situationen in der Arbeit entstehen und das Helfen bei Unterstützungsbedarf wie z.B. einem Toilettenbesuch wird als selbstverständlich und dazugehörend erlebt, obwohl es nicht üblich ist, solche intime Situationen miteinander zu teilen.
Es ist ein menschliches Bedürfnis, zu mehreren Gruppen wie Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, ArbeitskollegInnen, etc. gehören zu wollen und genauso agieren zu können wie jene, die als gesund gelten und zur Mehrheit in der Gesellschaft gehören. Menschen mit geistiger Behinderung haben in der Regel außer ihrer Familie wenige andere sozialen Kontakte. Abhängig davon, wie selbständig sie leben können und wie attraktiv oder interessant sie für andere Menschen sind, kann das variieren, aber in der Regel beschränkt es sich auf nur wenige Kontakte. Umso wichtiger werden Arbeitsbeziehungen zu den Fachkräften erlebt und als Ersatz für Freundschaften verstanden und erlebt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das bio-psycho-soziale Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung (ICIDH) (Abbildung entnommen aus Schuntermann 2001, S.326)
Das bio-psycho-soziale Modell von SCHUNTERMANN beschreibt Behinderung als Phänomen, das sich aus wechselseitigen Wirkungen zwischen den drei Ebenen der Körperfunktionen, der Umweltfaktoren und der Partizipation zusammensetzt. Behinderung wird in dem Modell als Konstruktion dargestellt, und ist ein Ergebnis von Beeinflussungen zwischen dem Menschen in seiner sozialen Umgebung, seinen körperlich/gesundheitlichen Problemen und dem Maß seiner positiven oder negativen Erlebnisse der gesellschaftlichen Teilhabe. (Ebd.)
2.5. Menschenbild in der Behindertenarbeit
Das humanistische Menschenbild ist das am meisten verbreitete in der Behindertenarbeit. Pörtner konstatierte im Jahr 1996, dass das humanistische Menschenbild in jedem Menschen eine eigenständige, in sich wertvolle Persönlichkeit sieht, die nach Wachstum und Selbstaktualisierung strebt. Jeder Mensch verfügt in individuellem Maß über seine eigenen Fähigkeiten zu Veränderung und Problemlösung. Wenn diese durch verschiedene Umstände gestört oder eingeschränkt sind, sollen diese Fähigkeiten - in Form von Hilfe zur Selbsthilfe - gefördert werden. (ebd.) Dieses Menschenbild begünstigt das ressourcenorientierte Vorgehen, das als positiv aufbauend in der Behindertenarbeit von den Fachkräften erlebt wird.
2.6. Normalität
LUTZ schreibt 2003, dass jeder Mensch nach Normalität strebe, um nicht ausgegrenzt zu werden. Das gilt sowohl für Menschen mit Behinderung, als auch für Menschen ohne. In der Mitte der Gesellschaft zu leben bietet eine gewisse Sicherheit. (vgl. S. 95) Jeder, der als "normal" in seiner Umgebung gilt, kann sich glücklich schätzen. Dass man einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft als der Zugehörige einer Randgruppe hat, ist einem „Zufallsprinzip“ zu verdanken. Andere Umstände, wie andere Eltern oder ein anderes Herkunftsland, könnten aus einem "Normalen" einen "Behinderten" oder umgekehrt machen. Die allgemein herrschenden Auffassungen und Werte von Mittelmaß - und somit Normalität - erlauben zwar eine Bandbreite an Abweichungen, dies aber nur bedingt. Das Phänomen der Normalität ist genauso variabel wie das der Behinderung.
LUTZ beschreibt (vgl. 2003, S.10), dass das Konzept der Normalität, "das ein breites Spektrum der Abweichungen diagnostizierbar macht", erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Dabei basiert Normalität unter anderem auf Durschnittwerten, die durch Messungen und Experimente ausgerechnet wurden: "Erst musste beispielsweise die Quantifizierbarkeit von Intelligenz postuliert und in empirischem Test erprobt werden, bevor ein IQ modelliert werden konnte; erst mit dem IQ entstanden spezifische Abweichungen nach oben und nach unten. Die neuen Normwerte - von der Intelligenz bis zur Lebenserwartung, von der Physiognomie bis zur sozialen Kompetenz - bildeten zwar keine Kriterien der Perfektion; doch konnten mit ihrer Hilfe zahlreiche Erscheinungsformen der Abweichung benannt und typologisch systematisiert werden." Diese Koordinatensysteme haben sich so weit etabliert, dass sie als Maßstäbe für Beurteilungen dienen und ihre unmittelbare Wirkung auf die gesellschaftliche Ausgrenzung oder Akzeptanz kaum mehr bewusst wahrgenommen wird. (ebd.)
2.7. Interaktion mit und Beziehung zu behinderten Menschen
2.7.1. Kommunikation und intuitives Wissen
„Die evolutionspsychologische Perspektive: die Wahrnehmung hilft dem menschlichen Organismus, sich an die handlungsrelevanten Aspekte der Umwelt anzupassen, sie sichert damit seine Funktionalität und Handlungsfähigkeit. Lebewesen, und der Mensch im Besonderen, müssen vornehmlich dasjenige wahrnehmen, was für das Überleben als Individuum oder als Mitglied in der Gruppe lebenswichtig ist: Nahrung, Schutz, Artgenossen, Sexualpartner, Hindernisse, Orte, Wissen.“ (Hagendorf, ET AL. 2011 S.6)
Eine große Bedeutung in der Interaktion im Arbeitsalltag wird der gelungenen Kommunikation beigemessen, besonders der gemeinsamen Sprache. Wenn man mit Menschen mit geistiger Behinderung arbeitet, entstehen Situationen, die nicht eindeutig zu entschlüsseln sind. Darunter ist in erster Linie die oft fehlende oder nur undeutlich zu verstehende Sprache gemeint. Bei ersten Begegnungen kann das ein Hindernis sein, miteinander in Kontakt zu treten – wenn der Versuch, sich mitzuteilen, nur als Versuch mit kaum auswertbaren Inhalten ankommt. Die mittels Bildern oder Gebärden gestützte Kommunikation würde zwar eine gemeinsame Basis der Kommunikation schaffen, ist aber aufgrund des Alters (Kleinkinder) oder aufgrund fehlender Ressourcen oft nicht vorhanden. Die Begeisterung für die Aufgabe und die Suche nach Herausforderung leisten gute Dienste dabei, dass Fachkräfte auf ihr "intuitives Wissen" zurückgreifen. Andere Arbeitswerkzeuge, sich in solchen Situationen zu bewähren, stehen meistens nicht zur Verfügung.
Der Arbeitsalltag bringt aber seine Erfordernisse mit sich und will bewältigt werden. Da erfolgt notgedrungen eine Öffnung der Sinne und der Wahrnehmung der betreuenden Personen, um die Ursachen und Zusammenhänge im Verhalten des Gegenübers zu erfassen. Es werden kleine Bewegungen, Gefühlsregungen im Gesicht - wobei die Augen eine besondere Rolle spielen - und am Körper der Menschen, die sich nicht gut verständigen können, beobachtet und mit unmittelbaren Konsequenzen verknüpft. Mit der Zeit entsteht eine Art der individuellen Logik im Verhalten der einzelnen Menschen mit geistiger Behinderung, und es werden „neue“, sprich auf die eigene Art ausgesprochene Wörter zum Wortschatz der betreuenden Person hinzu gefügt. Dies führt zu einer seltsamen Situation, wenn Menschen mit geistiger Behinderung die Sprache der Betreuer verstehen, diese aber erst die Sprache der Betreuten, "kognitiv unterlegenen" Personen erlernen müssen.
2.7.2. Wahrnehmung und "Menschensprache"
Am Ende dieses Prozesses ist es möglich, miteinander – für Außenstehende vielleicht fremdartig wirkend - zu kommunizieren. Dabei entsteht ein großer Gewinn nicht nur für den Menschen mit Behinderung, sondern auch für seine betreuende Person. Diese hat ihre Kommunikationsfähigkeiten aus sich heraus erweitert. Je mehr „Menschensprachen“ erlernt werden, umso schneller werden die nächsten „Menschensprachen“ erfasst, weil gewisse Ähnlichkeiten im Ausdruck durchaus vorhanden sind. Mit der Zeit stehen zahlreiche Muster im Gehirn zur Verfügung, so dass auch fremde, in ihrer Kommunikation eingeschränkte Menschen verstanden werden können. So kann der Anschein erweckt werden, man könnte Gedanken lesen. Dem ist nicht so, denn die Kommunikation jenseits von Worten wurde mit viel Einfühlungsvermögen und Beobachtungsgabe erlernt.
Senckel erklärt diesen Vorgang so, dass das Ergebnis der Reizverarbeitung im Zusammenhang mit den früheren Wahrnehmungsprozessen steht. Diese prägen sich im Gedächtnis ein und die neu hereinkommenden Reizinformationen werden damit verglichen. Sich wiederholende oder einander ähnelnde Reizmuster werden schneller wahrgenommen und gedeutet. Die dabei entstehenden Erwartungen und emotionale Faktoren spielen bei der Art der Reizverarbeitung eine Rolle. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Reizverarbeitung ein subjektives Bild der Wirklichkeit durch einen selektiven, aktiven Lernprozess schafft. (Vgl. Senckel 2000, S. 244)
Schulze schreibt im Jahr 1991, dass die Wahrnehmung selbst sich nicht verfeinern kann, sondern eher eine Entstehung der "Flüssigkeit" in der Bildung neuer Begriffe gesteigert wird. Durch neue Situationen entstandene Anregungen zur Begriffsbildung führen zu einer detaillierteren Wahrnehmung, die wiederum zu einer Öffnung der Sinne und Denkweisen führt. (Vgl. Schulze 1991 S.207)
Bandura verdeutlicht 1986 das Erleben und Verhalten als triadische Interaktion. Dabei stehen das Verhalten des Menschen, seine intraindividuellen Faktoren und die mitwirkenden Umweltfaktoren im ständigen Wechselspiel zueinander. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch mit seinen intraindividuellen Faktoren ein selbständig handelndes Wesen ist, das durch sein Verhalten einen Einfluss auf seine Umwelt hat. Die Wirkungen der Faktoren aufeinander werden jeweils bidirektional verstanden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Triadische Mensch-Umwelt-Interaktion
(Abbildung entnommen aus Trimmel 2003 S. 42)
Bei diesem Modell ist es sinnvoll, die intraindividuellen Faktoren genauer zu betrachten. Bandura zählt dabei folgende kognitiven Eigenschaften explizit auf:
- Die Fähigkeit Symbole zu verwenden - also die symbolische Repräsentanz von Verhaltensweisen, die die Ursachen des Verhaltens bilden.
- Die Fähigkeit zur Voraussicht - also die Bildung von wahrscheinlichen Konsequenzen eigener Verhaltensweisen. Diese Fähigkeit ermöglicht zukünftige Szenarien in der Gegenwart zu verfassen, mit der Berücksichtigung eigener Ziele und der dazu führenden Verhaltensweisen.
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- Arbeit zitieren
- Erika Schedler, MSc (Autor:in), 2012, Die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung als positive biographische Erfahrung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210293
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