Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky: Zwei einflussreiche Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Diese Aussage ist wohl schwerlich zu widerlegen. Trotz der bereits umfassenden Literatur, die sowohl zum Leben, als auch zum künstlerischen Schaffen der beiden Künstler im Laufe des letzen Jahrhunderts erschienen ist, bleiben dennoch zahlreiche Fragen unbeantwortet.
Ein präziser Blick in die Vergangenheit gibt zunächst Aufschluss darüber, dass, ausgehend vom 19. Jahrhundert, der Expressionismus kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat. Diese Tatsache äußert sich vor allem in Bezug auf die bildenden Künste, welche sich im aufkommenden 20. Jahrhundert in neuartigen Ausprägungen zu etablieren versuchten. Es schien also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die heranwachsenden expressionistischen Ausdrucksformen auch die Grundgedanken der Musik und der Kunst beeinflussen sollten. Doch wie kommt ein Meister der Komposition plötzlich dazu, sich sechs Jahre seines Lebens der Malerei zu widmen? Ist es letztlich der immer größer werdende Drang nach künstlerischer Expression, der Schönberg dazu veranlasst hat, eine weitere Kunstform als Ausdrucksmittel seiner Empfindungen heranzuziehen? Oder ist es gerade umgekehrt, und das Bedürfnis nach innerem Ausdruck verlangt unwillkürlich nach einer Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksformen?
„Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die »Zukunftsmusik«.“
Ausgehend von diesen Überlegungen drängt sich nun die Frage auf, ob Musik letzten Endes nur Malerei ohne Farben, und Malerei nur Musik ohne Klang ist? Inwieweit kön-nen die Künste der beiden Männer überhaupt separat voneinander betrachtet werden? Da eine Frage bekanntlich immer mehrere Fragen aufwirft, ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Berührungspunkten der beiden Kunstformen. An welcher Stelle ist danach zu suchen? Gibt es darüber hinaus überhaupt eine bedeutungsvolle Verbindung? Nehmen wir an, die Fragen ließen sich hypothetischerweise mit einem einfachen „Ja“ beantworten; Ist die Antwort dann tatsächlich im Leben und Wirken der beiden Künstler zu finden?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Blaue Reiter
2.1 Der Blaue Reiter - Ein Almanach entsteht
2.2 Die „Neue Künstlervereinigung München“
2.3 Der Weg zum Erfolg
2.4 Ziele und Bestrebungen der Künstlergruppe
2.5 „Beide liebten wir Blau, Marc Pferde, ich – Reiter.“
3. Der Maler Wassily Kandinsky
3.1 Ein Leben zur Jahrhundertwende
3.2 Kandinskys Malerei – Ein Weg zur Abstraktion
3.2.1 Impression III
3.2.2 Romantische Landschaft
3.2.3 Komposition V
3.3 Über das Geistige in der Kunst
4. Arnold Schönberg: Ein Komponist unter Malern
4.1 Ein Musiker zwischen Tönen und Farben
4.2 Zweites Streichquartett op.
4.2.1 Erster Satz
4.2.2 Zweiter Satz
4.2.3 Dritter Satz
4.2.4 Vierter Satz
4.3 Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds
Pierrot lunaire op.
4.3.1 Der Mondfleck
5. Arnold Schönberg und Der Blaue Reiter
5.1 Der Maler Arnold Schönberg
5.1.1 „Die Bilder Schönbergs zerfallen in zwei Arten.“
5.2 „Sie wissen vielleicht nicht, daß ich auch male.“
5.3 Das Verhältnis zum Text
5.4 Die Komposition Herzgewächse op.
5.4.1 „Das ist der Gipfelpunkt der Musik!“
6. Zusammenfassung
7. Anhang
7.1 Abbildungen
7.2 Noten
7.2.1 Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds
Pierrot lunaire op.
7.2.1.1 Mondestrunken
7.2.1.2 Der Mondfleck
7.2.2 Herzgewächse op.
8. Literatur- und Quellenverzeichnis
8.1 Bücher (schriftliche Literatur)
8.2 Internetquellen
9. Abbildungsnachweis
9.1 Abbildungen
9.2 Noten
10. Personenregister
Danksagung
1. Einleitung
Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky:
Zwei einflussreiche Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Diese Aussage ist wohl schwerlich zu widerlegen. Trotz der bereits umfassenden Literatur, die sowohl zum Leben, als auch zum künstlerischen Schaffen der beiden Künstler im Laufe des letzen Jahrhunderts erschienen ist, bleiben dennoch zahlreiche Fragen unbeantwortet.
Ein präziser Blick in die Vergangenheit gibt zunächst Aufschluss darüber, dass, ausgehend vom 19. Jahrhundert, der Expressionismus kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat. Diese Tatsache äußert sich vor allem in Bezug auf die bildenden Künste[1], welche sich im aufkommenden 20. Jahrhundert in neuartigen Ausprägungen zu etablieren versuchten. Es schien also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die heranwachsenden expressionistischen Ausdrucksformen auch die Grundgedanken der Musik und der Kunst beeinflussen sollten. Doch wie kommt ein Meister der Komposition plötzlich dazu, sich sechs Jahre seines Lebens der Malerei zu widmen? Ist es letztlich der immer größer werdende Drang nach künstlerischer Expression, der Schönberg dazu veranlasst hat, eine weitere Kunstform als Ausdrucksmittel seiner Empfindungen heranzuziehen? Oder ist es gerade umgekehrt, und das Bedürfnis nach innerem Ausdruck verlangt unwillkürlich nach einer Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksformen?
„Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die »Zukunftsmusik«.“[2]
Ausgehend von diesen Überlegungen drängt sich nun die Frage auf, ob Musik letzten Endes nur Malerei ohne Farben, und Malerei nur Musik ohne Klang ist? Inwieweit können die Künste der beiden Männer überhaupt separat voneinander betrachtet werden? Da eine Frage bekanntlich immer mehrere Fragen aufwirft, ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Berührungspunkten der beiden Kunstformen. An welcher Stelle ist danach zu suchen? Gibt es darüber hinaus überhaupt eine bedeutungsvolle Verbindung? Nehmen wir an, die Fragen ließen sich hypothetischerweise mit einem einfachen „Ja“ beantworten; Ist die Antwort dann tatsächlich im Leben und Wirken der beiden Künstler zu finden?
Sicher ist zunächst nur, dass dem im Jahre 1912 erschienen Almanach ein wesentlicher Anteil an der Verbreitung der aufkommenden expressionistischen Intentionen zu verdanken ist. Wassily Kandinsky und Franz Marc haben viel Kraft in die Fertigstellung und Herausgabe des Blauen Reiters investiert. Mit Erfolg, wie bis heute ohne Zweifel behauptet werden kann. Dass es sich bei dem Blauen Reiter um den Titel des Almanachs handelt, sollte an dieser Stelle deutlich geworden sein.
Die korrekte Zuordnung des Terminus „Der Blaue Reiter“ erweist sich aufgrund seiner äquivoken Bedeutungen gelegentlich als ein schwieriges Unterfangen. Daher sind folgende Fragen durchaus berechtigt:
War „Der Blaue Reiter“ nicht eine Künstlergruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts? - Gibt es nicht auch ein Gemälde mit selbigem Namen? - Hieß nicht auch die Ausstellung einer Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“?
Die Antwort wird jedoch immer dieselbe sein. Ob Kunstwerk, Redaktion, Ausstellung oder kunsthistorische Schrift, „Der Blaue Reiter“ hat jeden dieser Begriff nachhaltig geprägt und auf seine individuelle Weise in der Geschichte verankert.
Die vorliegende Arbeit versucht durch eine vielseitige Betrachtung dem Begriff des „Blauen Reiters“ in all seinen Erscheinungsformen gerecht zu werden.
Die Begegnung von Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky gleicht in ihrem innersten Wesen einer Zusammenkunft auf höchst geistiger Ebene. Diesbezüglich scheint die Beziehung zwischen Musik und Malerei im Leben der beiden Künstler die vollkommenste Form der Kunst überhaupt darzustellen.
„Sie sind ein so voller Mensch, daß Sie die geringste Erschütterung immer zum Überfließen veranlaßt … Ich bin sehr stolz, Ihre Achtung gefunden zu haben und freue mich riesig über Ihre Freundschaft.“[3]
2. Der Blaue Reiter
2.1 Der Blaue Reiter - Ein Almanach entsteht
In dem ersten Kapitel der Arbeit möchte ich den Lesern und Leserinnen zunächst einen detaillierten Einblick in die Geschichte des „Blauen Reiters“ ermöglichen. Diesbezüglich wird sowohl die Entstehung als auch die Wirkung der wichtigsten programmatischen Schrift sowie der damit in Verbindung stehenden Vereinigung talentierter Maler, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der anfänglichen Betrachtungen stehen.
„Der Blaue Reiter“ ist eine Gemeinschaft von expressionistischen, später auch abstrakten Malern und Künstlern, welche sich 1911 in München um Wassily Kandinsky zusammengeschlossen haben. Der damaligen Zeit entsprechend unterliegt die Formierung des „Blauen Reiters“ überwiegend expressionistischen Grundgedanken und Zielsetzungen. Zahlreiche Konzeptionen und Entwürfe zur Umsetzung der angestrebten Leitgedanken[4] entstehen bereits in den ersten Monaten nach der Gründung des „Blauen Reiters“. Eine wesentliche Verbindung der Künstler stellt zunächst die gemeinsame Sympathie für mittelalterliche Kunst und den Primitivismus dar. Weiterhin zeigen alle Künstler gesteigertes Interesse an zeitgenössischer französischer Kunst, welche maßgeblich durch den Fauvismus[5] und den Kubismus bestimmt war.
Kandinsky kann unter einer Vielzahl von deutschen und russischen Malern auch Franz Marc (1880-1916) für seine Künstlergruppe gewinnen. Im Laufe der Entwicklung zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass „Der Blaue Reiter“ nicht nur den Namen der Künstlergruppe selbst repräsentieren sollte. Wassily Kandinsky und Franz Marc beschließen daher zeitnah die Herausgabe eines gleichnamigen Almanachs[6], welcher eines der bedeutendsten Künstlermanifeste der modernen Kunst darstellen sollte. Die Herausgabe der Schrift planen die beiden Künstler zu Beginn des Jahres 1912. In dem Almanach sollen Texte, wissenschaftliche Abhandlungen sowie Bildbeiträge über Malerei, Musik und Theater der Künstler des „Blauen Reiters“ vorgestellt und abgedruckt werden. Die Künstlergemeinschaft setzt sich in den Jahren ihres Bestehens aus einer Vielzahl bedeutender Mitglieder verschiedenster Kunstströmungen zusammen. Neben Wassily Kandinsky und Franz Marc gehören August Macke (1887-1914), Paul Klee (1877-1962), der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951), Heinrich Campendonk (1889-1957), Alfred Kubin (1877-1959), Alexej von Jawlensky (1864-1941), Gabriele Münter (1877-1962), Marianne von Werefkin (1860-1938) sowie David (1882-1967) und Wladimir (1886-1917) Burliuk dem „Blauen Reiter“ an. In Bezug auf die Herausgabe des Almanachs im kommenden Jahr schreibt Franz Marc am 08.09.1911 vertraulich an August Macke die folgenden Zeilen:
„Mein letzter Brief über die Vereinigung war nur ein kleines Präludium zu weit größeren Plänen, die Kandinsky und ich momentan aushecken: {ich brauche Dich wohl nicht extra zu bitten, gegen jedermann davon vorerst zu schweigen?}. Wir wollen einen „Almanach“ gründen, der das Organ aller neuen echten Ideen unserer Tage werden soll. Malerei, Musik, Bühne etc. […] an Musikern haben wir Schönberg und einige Moskauer, […]. Es soll vor allem durch vergleichendes Material viel erklärt werden […]“[7]
Der Briefausschnitt von Marc verdeutlicht sein gesteigertes Interesse an dem geplanten Almanach. Er bezeichnet ihn darüber hinaus als „Organ aller neuen echten Ideen unserer Tage“. Das Verlangen in Bezug auf Veränderungen und Neuerungen in den Bereichen „Malerei, Musik, Bühne etc.“ ist diesbezüglich sehr deutlich zu erkennen. Der Drang etwas „Neues“, noch nie Dagewesenes zu erschaffen, schien unaufhaltsam in den Gedanken der Künstler voranzuschreiten.
Der Komponist Arnold Schönberg, auf den Marc in seinem Brief ebenfalls Bezug nimmt, stellt hinsichtlich der Entstehung des Almanachs und der damit in Verbindung stehenden Weiterentwicklung der Kunstgeschichte den wohl geeignetsten Zusammenhang zwischen Malerei und Musik dar. Schönberg spiegelt als hervorragender Komponist und „laienhaft“ interessierter Maler beide Künste ausdrucksvoll in einer Person wider. Dementsprechend verkörpert er, neben den Malern der Künstlergemeinschaft, ein bedeutungsvolles Mitglied des „Blauen Reiters“.
In diesem Zusammenhang beschreibt Wassily Kandinsky am 16.11.1911 in einem Brief an Arnold Schönberg seine bisherigen Vorstellungen wie folgt:
„Nun der Blaue Reiter! Der erscheint ja erst Mitte Januar, vielleicht sogar Ende. Und deshalb haben sie noch einen sehr guten Monat für ihren Artikel. Erste No. ohne Schönberg! Nein, das will ich nicht. Wir werden eben 3-4 musik. Artikel haben – Frankreich, Russland. Der eine ist groß, heißt ‚Musikwissenschaft‘, stammt von Moskau u. stellt vieles auf den Kopf. Geben Sie uns 10-15 Seiten! Wie gesagt – ohne Schönberg darf es nicht sein.“[8]
Kandinskys Formulierung „[…] ohne Schönberg darf es nicht sein.“, gibt eindeutig zu verstehen, dass die Mitwirkung Schönbergs am Almanach für ihn von außerordentlicher Bedeutung ist. Schönbergs Mitarbeit am Blauen Reiter impliziert in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung eines „Schönberg-Artikels“. Durch den Beitrag des Komponisten bestand demzufolge die Möglichkeit, der geplanten Schrift eine weitere kunstbezogene Nuance zu verleihen.
„Der Blaue Reiter“ setzt mit seinen neuen Ideen, Vorstellungen und Innovationen ein beträchtliches Zeichen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die damit in Verbindung stehende „Erneuerung“ der vorherrschenden Kunstgeschichte rückt infolgedessen immer näher. Allerdings ist „Der Blaue Reiter“ nicht die erste Künstlergemeinschaft, die ein gesteigertes Interesse an der Verbreitung und Veränderung zeitgenössischer Kunst aufweist. Aus diesem Grund widmet sich der folgende Abschnitt der Arbeit der Zeit vor der Gründung des „Blauen Reiters“.
2.2 Die „Neue Künstlervereinigung München“
Bevor Wassily Kandinsky und Franz Marc sich für die Gründung des „Blauen Reiters“ entschieden, sind beide Künstler aktive Mitglieder in der „Neuen Künstlervereinigung München“. Bereits zwei Jahre vor der Entstehung des „Blauen Reiters“, im Jahre 1909, vereinigt sich eine Gruppe mit vornehmlich russischen Künstlern zu der „Neuen Künstlervereinigung München“. Neben Wladimir von Bechtejeff (1878-1971), Adolf Erbslöh (1881-1947), Gustav Freytag (1816-1895), Thomas von Hartmann (1885-1956), Alexander Kanoldt (1881-1939), Charles Johann Palmié (1863-1911), Alfred Kubin und Gabriele Münter, zählen Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Künstlervereinigung München“. Diese gilt bis heute als unmittelbarer Vorläufer des „Blauen Reiters“. Kandinsky zeigt sich bereits zu dieser Zeit sehr engagiert in Bezug auf die Verbindung verschiedenster künstlerischer Bereiche. Als Vorsitzender der Künstlervereinigung schenkt er der Gruppe seine größte Aufmerksamkeit. Ein nennenswertes Merkmal der Vereinigung ist das zielgerichtete Streben nach fundamentalen Leitgedanken hinsichtlich zeitgenössischer Kunst. Beispielsweise bildet das Prinzip der inneren Wahrnehmung für die Künstlergruppe die Basis ihres künstlerischen Daseins. Dementsprechend stützt sich Kandinsky insbesondere auf romantische Traditionen und Grundsätze des Jugendstils. Kandinskys Grundgedanken bezüglich seiner künstlerischen Ausprägung stoßen jedoch bei einem Großteil der Gruppe auf wenig Verständnis.
Die zunehmend abstrakter werdenden Kunstwerke Kandinskys verursachen letztendlich einen kaum mehr vermeidbaren Streit zwischen den Mitgliedern der Künstlervereinigung. Nach nur zwei Ausstellungen der „Neuen Künstlervereinigung München“ wird das Verhältnis zwischen den Künstlern immer angespannter und gereizter. Angesichts der ansteigenden Unstimmigkeiten in der Gruppe spielen Kandinsky und Marc daher seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, die Künstlervereinigung zu verlassen. Eine sogenannte „Vierquadratmeter-Klausel“ solle die zwei Maler bei ihrem Vorhaben erfolgreich unterstützen. Kandinsky veranlasst aus diesem Grund bereits nach kurzer Zeit eine Änderung der Satzung dahin gehend, dass kein Gemälde größer als vier Quadratmeter sein darf. Wie gewünscht, wird die Aberration noch vor Beginn der dritten Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ ordnungsgemäß in die Satzung übernommen. Da Kandinsky Marc bereits für sein zukünftiges Vorhaben, die Gründung einer neuen Künstlergruppe[9], gewonnen hat, konnte er ihn diesbezüglich auch über seine Pläne zur Herausgabe eines Almanachs in Kenntnis setzten.
Kandinskys Gemälde Komposition V (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 1) löst im Jahre 1911 einen endgültigen „Bruch“ innerhalb der Vereinigung aus. Auf Konfrontation ausgerichtet, malt Kandinsky ein über vier Quadratmeter großes[10] abstraktes Gemälde und meldet dieses selbstbewussterweise für die dritte Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ an. Wie zu erwarten, musste das Werk von der Kommission hinsichtlich seiner „Übergröße“ satzungsgemäß abgelehnt werden.
Noch im selben Jahr verlassen Franz Marc und Wassily Kandinsky die „Neue Künstlervereinigung München“. Bereits 12 Monate später, im Jahre 1912, folgen ihnen weitere Mitglieder der Künstlergruppe. Der Zerfall der „Neuen Künstlervereinigung München“ war infolgedessen kaum mehr aufzuhalten. Das Gemälde Komposition V wird demzufolge seinem Untertitel Das Jüngste Gericht, wie es Kandinsky selbst bezeichnet hat, in jeglicher Hinsicht gerecht.
Die angestrebte Eigenständigkeit, die erreichte Unabhängigkeit und die künstlerische Freiheit, welche Kandinsky mit dem Verlassen der „Neuen Künstlervereinigung München“ erlangt, soll infolgedessen durch die Gründung des „Blauen Reiters“ noch nachhaltiger zum Ausdruck gebracht werden.
2.3 Der Weg zum Erfolg
Nachdem Wassily Kandinsky der skurrile Ausstieg aus der „Neuen Künstlervereinigung München“ mit Bravour gelungen ist, erfolgt die Gründung des „Blauen Reiters“ ohne unnötige Verzögerungen. Da Kandinsky und Marc schon während ihrer Zeit in der „Neuen Künstlervereinigung München“ mit der Planung der neuen Künstlergruppe begonnen hatten, ließ auch die erste Ausstellung nicht lange auf sich warten.
Bereits am 18. Dezember 1911 findet die erste öffentliche Präsentation der Redaktion „Der Blaue Reiter“ in der „Modernen Galerie Heinrich Thannhauser“ in München statt (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 2).
Die beiden Initiatoren Kandinsky und Marc sind nunmehr äußerst bestrebt, die Ausstellung erfolgreich zu bestreiten. Insgesamt werden den Besuchern 49 Exponate präsentiert. Neben ihren eigenen Werken können auch Kunstwerke von Malern wie Henri Rousseau (1844-1910) oder Robert Delaunay (1885-1941) in der Ausstellung bestaunt werden.
Während der gesamten Ausstellung erfüllen Klänge zeitgenössischer Musik den Raum. Mit ihrem fortschrittlichen Charme versetzten sie die Besucher förmlich in eine zukunftsweisende Atmosphäre. Veröffentlichungen von Alban Berg (1885-1935), Arnold Schönberg und Anton von Webern (1883-1945) sind derzeit von besonderem gesteigertem Interesse. Herzgewächse[11], eine Komposition von Arnold Schönberg, sorgt unter anderem für die musikalische Umrahmung der Ausstellung. Eine genauere Betrachtung dieses Themenschwerpunktes erfolgt in Kapitel 5 der Arbeit unter Berücksichtigung des Notentextes. Dessen ungeachtet soll bereits an dieser Stelle daraufhin gewiesen werden, dass die Partitur der Komposition vollständig im Almanach veröffentlicht worden ist.
Schönbergs atonal gearbeiteten Kompositionen spiegeln sich jedoch nicht nur in den abstrakten Klängen seiner Musik wider, sondern ebenso in seinen verstärkt expressionistisch wirkenden Bildern, welche ebenfalls in der Galerie vertreten waren. Auf Schönbergs Leidenschaft zur Malerei wird in Kapitel 4 gesondert eingehen, womit an dieser Stelle auf nähere Ausführungen verzichtet werden kann.
Unter Berücksichtigung der damaligen Umstände wird deutlich, dass die erste Ausstellung des „Blauen Reiters“ nicht nur unter künstlerischem Aspekt zu stehen schien, sondern gleichermaßen eine Gegendemonstration der zeitgleich stattfindenden Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ darstellen sollte[12].
Die zweite Ausstellung der Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“, zwischen Februar und März 1912, präsentiert bereits 350 Werke von 30 verschiedenen Künstlern. Nach den zu verzeichnenden Erfolgen schließen sich in den kommenden Jahren Ausstellungen in ganz Deutschland an. „Der Blaue Reiter“ bildet somit neben der „Brücke“[13] die bedeutsamste Künstlergruppe in der frühen Phase des deutschen Expressionismus.
2.4 Ziele und Bestrebungen der Künstlergruppe
Die außergewöhnliche Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen wird im folgenden Zitat von Franz Marc aus dem Jahre 1912 besonders hervorgehoben:
"Das […] Buch [...] umfaßt die neueste malerische Bewegung in Frankreich, Deutschland und Rußland und zeigt ihre feinen Verbindungsfäden mit der Gotik und den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient, mit der so ausdrucksstarken ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst, besonders mit der modernsten musikalischen Bewegung in Europa und den neuen Bühnenideen unserer Zeit.“[14]
Die Worte Marcs belegen sehr eindrucksvoll, welchen Umfang der geplante Almanach im Hinblick auf die zeitgenössische Kunstentwicklung annehmen soll. Ein Zusammenführen aller Kunstformen bildet neben dem Wunsch nach Gleichberechtigung aller Stilrichtungen folglich einen bedeutsamen Ansatz der programmatischen Schrift. Der hohe Anspruch, sowohl idealistische als auch romantische und gotische Komponenten der europäischen Kunstgeschichte miteinander zu verbinden, stellt dementsprechend eine charakteristische Besonderheit der Künstlergruppe dar. Marc sah ein Bedürfnis darin, alle neuen Kunstformen, welche sich in Europa bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgebildet hatten, gleichermaßen zu berücksichtigen und darzustellen. Ebenso verfolgt er den Gedanken, auf alle Stellen hinzuweisen, an denen „Neues“ zu entstehen vermag.[15] In dem Zusammenschluss von kunstvoller Malerei sowie Volks- und Kinderkunst, wie Marc den Almanach in seinem Zitat beschreibt, versteht es Kandinsky offensichtlich, einen grundlegenden Bezug zwischen Kunst, Leben und Revolution herzustellen.
Der Name „Der Blaue Reiter“ soll einen demonstrativen Aufbruch zu einer neuen geistigen Kunstform symbolisieren. Vorwiegend charakterisiert ihn die starke Ablehnung des Materialismus des 19. Jahrhunderts. Während die Künstler des „Blauen Reiters“ vornehmlich intellektuell und analytisch orientiert sind, entstehen infolgedessen keine festen Richtlinien, die die Arbeit der „künstlerischen Revolutionäre“ maßgeblich bestimmen.
Mit dem Ziel, das Geistige und Mystische in der Kunst zu entdecken, beziehen sich die Maler neben der bildnerischen Kunst auf die Bereiche der Literatur und Musik gleichermaßen differenziert. Verschiedenste Kunstströmungen, wie zum Beispiel der Kubismus, der Futurismus, aber auch die Volkskunst und Kinderzeichnungen, regen die Künstler stets zu neuen kreativen und innovativen Ideen an. Die unterschiedlichen Einflüsse der Kunstgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts veranlassen die Künstler, anders zu zeichnen als die Künstler vor ihnen. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt des „Blauen Reiters“ insbesondere darauf, eine „Neue Ebene der Kunst“ zu erschaffen und revolutionäre künstlerische Darstellungsweisen hervorzubringen. Frühere Maltraditionen sollen endgültig der Vergangenheit angehören. Diese neuartigen Bestrebungen beschreibt Wassily Kandinsky mit folgenden Worten:
„[...] ein Sammelbecken, das alle Bestrebungen aufnahm, um die bisherigen Grenzen des künstlerischen Ausdrucksvermögens zu erweitern.“[16]
Ein weiteres Anliegen der Künstler äußert sich in ihrem Verlangen, zum Schöpferischen und Geistigen der zeitgenössischen Kunstwelt vorzudringen und diese gehaltvoll darzustellen.
Der Versuch, die abstrakte Kunst des aufkommenden 20. Jahrhunderts dahin gehend korrekt zu beschreiben, ist jedoch eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die einer näheren Betrachtung bedarf. Da solch ein Vorhaben den Rahmen dieser Arbeit jedoch bei Weitem übersteigen würde, möchte ich lediglich auf einige ausgewählte Aspekte eingehen.
Für Wassily Kandinsky stellt die abstrakte Kunst eine bildhafte Form seiner Gedanken dar. Mit seiner persönlichen Emotionalität verleiht er seinen abstrakten Werken einen besonders geistigen Ausdruck. Im Gegensatz dazu charakterisiert Marc seine Malereien zum Teil durch überempirische Tiersymbolik in außergewöhnlichen Farbphantasien. Sehr deutlich ist die Verknappung der Tierfiguren auf ihre abstrahierte Grundgestalt zu erkennen. Die Farben sind herausstechend und wirken eher naturfern, während ein symbolischer Ausdruck verstärkt die Verbindung zwischen Tier und Landschaft sinnbildlich wiedergibt. Des Weiteren sind die Tiere auf das Wesentliche beschränkt abgebildet. Trotz der reduzierten Form sind sie jedoch zentral und sehr bildfüllend dargestellt. Eine besondere Wirkung zeigt sich durch die starke Dynamik der Körperhaltung, wie z. B. im Bild der Zwei Katzen aus dem Jahre 1912 (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 3). Marcs Gemälde beschreibt die Zeit des Expressionismus in der Kunst in jeglicher Hinsicht nur zu treffend. Sein Künstlerkollege Paul Klee hingegen beeindruckt den Betrachter mit eher märchenhaften Darstellungen, gleichsam einer Zauberwelt.
Jeder Maler behält über die Jahre seine individuelle und persönliche Form des Kunstausdruckes bei. Aus diesem Grund kann sich auch nach langjähriger Zusammenarbeit kein gemeinschaftlicher Kunststil herausbilden. Wider Erwarten hat Kandinsky diesen Zustand jedoch nicht als nachteilig betrachtet. Das Geistige in der Kunst[17] formvollendet zu erfassen, stellt für Kandinsky beispielsweise eine viel stärkere Bedeutung dar, als die Vereinheitlichung der Kunstformen zu perfektionieren.
Der bedeutendste Anspruch der Mitglieder des „Blauen Reiters“ liegt infolgedessen zweifellos in dem Bestreben, allen Kunstformen eine Gleichberechtigung zu zusprechen.
Bezug nehmend auf die Intentionen der Künstlergruppe soll der geplante Almanach jährlich erscheinen und einen Gesamtüberblick über neu entwickelte Ideen und zukunftsorientierte Gedanken geben. Was die Maler zu dieser Zeit allerdings nicht wissen konnten, ist, dass es lediglich bei einer Ausgabe ihres Almanachs bleiben sollte. Das einzige Exemplar erscheint im Jahre 1912 im Piper Verlag[18].
Für den Umschlag des Almanachs fühlt sich Kandinsky selbst verantwortlich und konzipiert daraufhin eine Vielzahl von Entwürfen. Der letztendlich geeignetste Entwurf bezieht sich auf eine Darstellung des Heiligen Georg (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 4) und des Heiligen Martin (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 5). Der Heilige Ritter St. Georg wird bis heute sowohl in der bayrischen Volkskunst als auch in den russischen Ikonen immer wieder als legendärer Drachentöter, Befreier und Märtyrer abgebildet. In diesem Zusammenhang entwirft Kandinsky neben einer Vielzahl von Ölbildern, einem Holzschnitt und mehreren Aquarellen (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 6 bis 9) für das Titelblatt des Almanachs eine Zeichnung des Heiligen Georg, in Gestalt eines Ritters, der mit einem langen Speer von seinem Pferd aus einen Drachen ersticht (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 10). Kandinsky und Marc betrachteten den christlichen Ritter, der den Drachen von seinem Pferd aus tötet und somit den Unglauben besiegt, als Symbol für den modernen Künstler, der die alte materialistische Kunst überwältigt und den Weg zu einer neuen „geistigen Kunst“ auf sich nimmt.[19] Kandinskys Glauben an diesen ernsten Hintergrund und seine Bedeutung in der modernen Kunst, hat sich nicht nur in seinen Gedanken, sonder auch auf all seinen Entwürfen für das Titelblatt des Almanachs fest verankert.
Des Weiteren haben alle Skizzen, die Kandinsky für die geplante Schrift entworfen hat, den gleichermaßen gewählten Titel des Jahrbuches – „Almanach“ gemein (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 11). Der Verlag Reinhard Piper sorgt allerdings dafür, dass kurz vor Druck der gewünschte Zusatz wieder von dem Einband entfernt wird. Die Gesamtkosten für die Herausgabe sind zum damaligen Zeitpunkt nicht unbeachtlich und ein immer wieder problematisches Thema bei allen Beteiligten. Alle Autoren, welche an der Herausgabe des Almanachs beteiligt sind, verzichteten zwar großzügigerweise auf ein Honorar, die Herstellungskosten müssen aber dennoch in irgendeiner Weise ausgeglichen werden. Kandinsky und Marc haben demzufolge gezwungenermaßen alle finanziellen Ausgaben zunächst selbst abgedeckt. Eine Unterstützung erfuhren sie lediglich durch den Berliner Sammler Bernhard Koehler[20] (1849–1927), welcher insofern das endgültige Erscheinen des Almanachs ermöglicht[21].
2.5 „Beide liebten wir Blau, Marc Pferde, ich – Reiter.“
Das Ende des ersten Kapitels widmet sich hauptsächlich der Namensgebung des Jahrbuches, welche einerseits derart selbsterklärend ist, dass es andererseits beinahe paradox erscheint.
Der Titel Der Blaue Reiter ist nach Kandinskys eigener Beschreibung wie folgt zu erläutern:
„Den Namen ‚Der Blaue Reiter‘ erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf[22] . Beide liebten wir Blau, Marc Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst.“[23]
Der Name für den Almanach entsteht im Jahre 1903 geradezu wie von selbst und vertritt zudem die Vorlieben der beiden engagierten Künstler gleichermaßen. Kandinskys nahezu schlaksige Äußerung bezüglich der Titelwahl soll jedoch keinesfalls den ernsthaften Hintergrund vergessen lassen, welcher bereits in Kapitel 2.4 verdeutlicht wurde. Hinzu kommt, dass für Marc das Tier als Symbolträger ohnehin seit geraumer Zeit von besonderer Bedeutung ist.[24] Im Gegensatz dazu verwendet Kandinsky in zahlreichen seiner Gemälde Pferde und Reiter als metaphorische Abbildungen. Bereits 1903, im selben Jahr der Namensgebung, verwendet der Maler das Motiv eines blauen Reiters in einem seiner Gemälde (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 12). Demzufolge ist der Name Der Blaue Reiter fortan als Titel für den Almanach vorgesehen. Dass die Künstlergruppe in den folgenden Jahren denselben Namen annehmen würde, war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht absehbar.
Im Jahre 1912 entwirft Kandinsky versuchsweise einen ersten Holzschnitt (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 13) für den geplanten Almanach. Da jedoch bis zur Erscheinung des Selbigen nicht mehr viel Zeit vergehen soll, entsteht noch im selben Jahr die endgültige Fassung für die Umschlagillustration (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 14), welche sich mit gleichnamigem Titel deutlich am zuvor entworfenen Holzschnitt orientiert.
Bezüglich des künstlerischen Werks Kandinskys ist deutlich zu erkennen, wie die Farbe Blau die Bilder dominiert. Der Maler selbst schreibt in diesem Zusammenhang:
„Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.“[25]
Die Farbe Blau verkörpert für Kandinsky und Marc eine hoffnungsvolle Zukunft und spiegelt die heilige und selige Farbe des Himmels wider.
Im Jahr 1912 erscheint der Almanach Der Blaue Reiter.
Bereits zwei Jahre später beendet der 1. Weltkrieg die Aktivitäten des „Blauen Reiters“. Während Wassily Kandinsky nach Russland zurückkehrt, emigriert Alexej von Jawlensky in die Schweiz. August Macke und Franz Marc verlieren nur kurze Zeit später ihr Leben in Frankreich.
Das tragische Ende des „Blauen Reiters“ lässt den einzig veröffentlichen Almanach in seiner gesamten Form jedoch nur noch einzigartiger und außergewöhnlicher erscheinen.
3. Der Maler Wassily Kandinsky
3.1 Ein Leben zur Jahrhundertwende
Wasily Kandinsky (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 15) ist ein bedeutender russischer Maler, Grafiker und Kunsthistoriker während des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bereits zu Lebzeiten ist der Maler in verschiedenen Regionen Europas bekannt und mit seinen Werken vertreten. Sein künstlerisches Schaffen reicht infolgedessen bis weit über die Grenzen Russlands hinaus und verbreitet sich ebenso erfolgreich in Deutschland und Frankreich.
Am 4. Dezember 1866 wird der Maler als Sohn eines Teehändlers in Moskau geboren. Trotz des eher wirtschaftlichen Berufes seines Vaters ist Kandinskys Interesse an Kunst und Kultur vornehmlich ihm zu verdanken. Dass sein Vater ein sehr talentierter Zeichner von auffällig intellektuellem Niveau war, ist möglicherweise eine Ursache dafür.[26] Im Alter von drei Jahren besucht Kandinsky zusammen mit seinen Eltern Italien. Bald darauf, im Jahre 1871, findet die Familie ihre neue Heimat in der ukrainischen Stadt Odessa. Dort besucht Kandinsky die Schule und bekommt erste Musikstunden, wobei er großes Talent beim Erlernen des Violoncellospielens aufweist und schnell große Fortschritte erzielt.[27]
Im Alter von 21 Jahren beginnt Kandinsky an der Universität in Moskau Rechtswissenschaft zu studieren. Bereits während seines Studiums besucht er verschiedenste Kunstausstellungen und beginnt, sich selbst auf dem Gebiet der Malerei auszuprobieren. Des Weiteren beteiligt sich Kandinsky während seines Studiums an einer wissenschaftlichen Expedition in der Region um Wologda[28]. Dort sammelt er Informationen über die religiösen Riten der dortigen ansässigen Volksstämme. Die Bilder und Holzschnitte dieser Volkskunst haben Kandinsky bereits zu dieser Zeit sehr stark beeindruckt sowie nachhaltig beeinflusst. Seine Reisen und Unternehmungen führen ihn schließlich nach St. Petersburg in die Eremitage, wo ihm vor allem die Werke Rembrandts[29] (1606-1669) sehr imponieren. Sieben Jahre nach Beginn seines Studiums heiratet er seine Cousine Anja Semjakina. Im Jahre 1892 bereist Kandinsky Paris, während ihm kurz zuvor die juristische Doktorwürde verliehen wird.[30] Nachdem er im Alter von 30 Jahren, im Jahre 1896, das Angebot einer Professur[31] im heutigen Estland ablehnt, siedelt er noch im selben Jahr nach München über, wo er vier Jahre später an der Kunstakademie aufgenommen wird[32]. In den Jahren seiner Ausbildung lernt Kandinsky Jawlensky kennen und wird 1900[33] Schüler von Franz Stuck (1863-1928).
Zwei Jahre später unterrichtet Kandinsky bereits seine erste Schülerin. Dabei handelt es sich um die begabte Künstlerin Gabriele Münter. Nach kurzer Zeit wird sie die neue Lebensgefährtin des Künstlers, weswegen er sich 1904 von seiner Ehefrau Anja trennt. Zusammen mit seiner neuen Lebenspartnerin besucht Kandinsky Holland, Belgien, Paris und Tunesien. Vor allem in dieser Zeit entstehen viele seiner Temperagemälde[34] und die sogenannte Poésie sans paroles[35]. Die ersten Kunstwerke Kandinskys werden im Jahr 1902 in der „Berliner Secession“[36] ausgestellt.[37] Im Jahr 1906 folgt in Dresden eine Ausstellung seiner Werke gemeinsam mit der Künstlergemeinschaft „Die Brücke“. Im Folgejahr verlässt Kandinsky jedoch allmählich seine Begeisterung für den Jugendstil, worauf seine stark ausgeprägten Tendenzen zum spätimpressionistischen Kunstausdruck nachhaltig abnehmen. Fortan finden sich in seinen Arbeiten expressive Kunstformen wieder. Mit dem Fauvismus beginnt Kandinsky, sich einer neue Stilrichtung zu widmen. Nachdem er 1908 wieder nach München zurückkehrt, blüht auch seine Freundschaft zu Jawlensky erneut auf. Bereits ein Jahr später gründet sich die „Neue Künstlervereinigung München“, deren Vorsitz Kandinsky übernimmt. In diesem Zusammenhang lernt Kandinsky 1910 den Maler Franz Marc kennen. Die ersten abstrakten Gemälde Kandinskys werden bereits im Jahre 1911 präsentiert.[38] Ein sehr bedeutendes Werk entsteht kurze Zeit nach einem Konzertbesuch mit Musik von Arnold Schönberg. Das Ölgemälde wird unter dem Namen Impression III (Konzert)[39] ausgestellt und veröffentlicht (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 16).
Kandinskys Bilder erfahren eine Art Verselbstständigung gegenüber den Dingen, und hinsichtlich der Musikalität des bezaubernden Farbzusammenspiels sowie der Rhythmisierung der Formen und Linien. Selbst während dieses bedeutenden Lebensabschnittes zieht es Kandinsky immer wieder zurück nach Moskau, St. Petersburg und Odessa.
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits ausführlich dargestellt wurde, gründet Wassily Kandinsky zusammen mit Franz Marc im selben Jahr die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ und eröffnet am 18. Dezember 1911 die erste Ausstellung in der „Modernen Galerie Heinrich Thannhauser“ in München[40]. Ein Jahr später veröffentlich Kandinsky in Zusammenarbeit mit Franz Marc den Almanach Der Blaue Reiter.[41] Die kunsthistorische Schrift ist nicht nur durch gemeinsame philosophische Gedanken sowie eine kollektive künstlerische Orientierung gekennzeichnet, sondern unterliegt maßgeblich den Vorstellungen Kandinskys, welche er bereits in dem 1911 veröffentlichten Buch Über das Geistige in der Kunst[42] geäußert.
Die erste Ausstellung des „Blauen Reiters“ ist so erfolgreich, dass die Zweite nicht lange auf sich warten lässt. Bereits im Februar desselben Jahres fand in der „Galerie Goltz“ die zweite Ausstellung der Künstlergruppe statt[43]. Im Jahre 1914 präsentiert sich die letzte Ausstellung des „Blauen Reiters“ in der „Berliner Galerie Sturm“[44].
Nach Ausbruch des Krieges im selben Jahr, reist Kandinsky mit seiner Mutter durch zahlreiche Städte, bis sie schließlich im Jahre 1915 in Stockholm ankommen und dort bis März 1916 verweilen. In dieser Zeit trennt sich Kandinsky von Gabriele Münter und heiratet bereits im Folgejahr Nina de Andreewskij. Im selben Jahr werden Kandinskys Werke zusammen mit Arbeiten von Max Ernst (1891-1976), Lyonel Feininger (1871-1956), Oskar Kokoschka (1886-1980), Paul Klee und Franz Marc in der „Galerie Dada“ in Zürich ausgestellt. Im Jahre 1920 wird Kandinsky Professor an der Universität in Moskau und zwei Jahre später auch am Bauhaus in Weimar.[45] Nach fünf Jahren zieht er im Juni 1925 zusammen mit seiner neuen Frau nach Dessau, wo das Ehepaar drei Jahre später die deutsche Staatsbürgerschaft zugesprochen bekommt. Trotz Kandinskys Aufenthalt in Dessau werden seine Werke weiterhin über die deutschen Ländergrenzen hinaus ausgestellt. In der „Pariser Galerie Zack“ sind seine Werke beispielsweise im Jahre 1929 erstmalig zu bestaunen. Im Jahr darauf übernimmt die „Galerie de France“ eine weitere Ausstellung des russischen Malers. Kandinskys Reiselust bleibt auch in den darauffolgenden Jahren bestehen. So besucht er zum wiederholten Male Belgien, um von dort aus weiter an die Côte d´Azur zu reisen. Weitere Unternehmungen führen ihn schließlich bis nach Ägypten, Syrien, in die Türkei und nach Griechenland.
Die gegebenen Umstände in den folgenden Jahren führen unweigerlich dazu, dass im März 1933 das Bauhaus von den Nationalsozialisten geschlossen wird, worauf Kandinsky nach Paris über siedelt. Seine letzte Reise führt ihn in den Jahren 1936 und 1937 in die Schweiz, wo er unter anderem seinen Freund Paul Klee besucht.
Im selben Zeitraum werden alle seine Werke von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ diffamiert. Insgesamt 57 seiner Gemälde werden nur kurze Zeit später aus allen deutschen Museen entfernt und beschlagnahmt. Im Jahre 1939 beendet Kandinsky in Frankreich sein letztes großes Werk mit dem Titel Komposition X (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 17). Der in der Literatur häufig als „Schöpfer des ersten abstrakten Bildes der Welt“ erwähnte Maler Wassily Kandinsky stirbt am 13. Dezember 1944 in der kleinen Stadt Neuilly-sur-Seine in der Nähe von Paris.
3.2 Kandinskys Malerei – Ein Weg zur Abstraktion
Leuchtende Gemälde. Fauvistische Farben. Gauguin’sche Linien. Einzigartige Perspektiven. Ausdrucksstarke Formelemente. Kräftige Motive. Individueller Charakter.
Diese Begriffe der Abstraktion[46] lassen sich in der heutigen Zeit fast ausnahmslos mit dem Namen Kandinsky in Verbindung bringen. Doch ist die heutige Auffassung von seiner Kunst tatsächlich das, was Kandinsky seinerzeit vermitteln wollte? Eine Antwort auf diese Frage gibt uns Kandinsky selbst in seinem 41 Seiten langen Werk aus dem Jahre 1913.
"[Ich] wurde immer durch die Behauptung, daß ich die alte Malerei umstoßen wolle, in Mißstimmung gebracht. Ich empfand dieses Umstoßen in meinen Arbeiten nie: ich fühlte in ihnen nur den innerlich logischen, äußerlich organischen unvermeidlichen Wuchs der Kunst"[47]
Diesem Zitat ist deutlich zu entnehmen, dass Kandinsky nie die Absicht hatte, die traditionelle, alte Malerei umzustoßen. Wie er selbst formuliert, entsteht die „Neue“ Kunst aus dem „Alten“. Diese Feststellung impliziert eindeutig, dass diese beiden Bestandteile der Kunstgeschichte unabänderlich miteinander verbunden sind.
Diesem Anreiz entsprechend widmete Kandinsky sein gesamtes Leben der Lösung eines Problems. Dieses lässt sich mit folgender Fragestellung sehr präzise zusammenfassen. Wie kann man die Befreiung des Bildes von seiner Abhängigkeit von undurchsichtigen, vagen und figurativen Normen erreichen?[48] Kandinskys größtes Anliegen besteht demnach darin, dieser bestehenden Gegenstandslosigkeit eine Bedeutsamkeit innerhalb der Kunst und in der Gesellschaft zu verschaffen.
Kandinskys Weg zur Abstraktion schreitet im Jahre 1910 mit großen Schritten voran. Vielen Gemälden aus dieser Zeit ist nicht eindeutig zuzuordnen, inwiefern sie noch der traditionellen Bildsprache entsprechen. Des Weiteren wäre darüber zu diskutieren, ob bereits die Musikalität der Motive den Charakter dieser Werke maßgeblich bestimmt.[49] Einen Teil dieser durchaus interessanten Erörterung wird sich jedoch in den folgenden Kapiteln wiederfinden.
Als erster Künstler, der den Weg der abstrakten Kunst wählt, lässt Kandinsky zusätzlich jede Art des Neutralismus[50] hinter sich. Der Bezug zur Musik, den er in diesem Zusammenhang immer wieder sucht, stärkt seinen Wandel in der Malerei zusätzlich. Der Maler ist überzeugt davon, dass „die äußere Form der geistigen Erhebung des Menschen nur hinderlich sei“.[51] Aus diesem Grund ist Kandinskys Bestreben, sich von dieser Form zu lösen, von wesentlicher Bedeutung. Der Expressionist gliedert seine Werke diesbezüglich bereits im Jahre 1909 in drei Kategorien.[52] Die von Kandinsky selbst gewählten Klassifikationen kennzeichnen die verschiedenen Etappen auf seinem Weg zur Abstraktion und lassen sich wie folgt charakterisieren.
Den direkten Eindruck von der äußeren Natur, welcher in einer zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck gebracht wird, bezeichnet Kandinsky als Impressionen.[53] Diese Bilder zählen zu den einfachsten und klarsten. Ein entsprechendes Beispiel für Kandinskys Impressionen wird in Kapitel 3.2.1 separat behandelt. Im Gegensatz zu den Impressionen beziehen sich Kandinskys Improvisationen auf Vorgänge des inneren Charakters.[54] Seine dritte Gruppe nennt Kandinsky Kompositionen. Diese Gemälde entstehen, im Vergleich zu den beiden vorher genannten Kategorien, am langsamsten und erst nach einer Vielzahl von Vorentwürfen. Ähnlich, wie musikalische Kompositionen heranreifen und sich aus einer Fülle von Entwürfen zusammensetzen, betrachtet auch Kandinsky seine Kompositionen. In Kapitel 3.2.3 werde ich speziell auf Kandinskys sowohl historisch als auch künstlerisch bedeutendes Gemälde Komposition V beispielhaft eingehen.
Die „innere Notwendigkeit“; ein Begriff, der im Zusammenhang mit Kandinsky und seinem Weg zur Abstraktion nicht fehlen darf. Doch was meint der Maler mit diesem abstrakten Satzelement wirklich? Eine Antwort auf diese Frage wird uns helfen, Kandinskys Weg zur Abstraktion ein Stück weit besser zu verstehen. Zunächst ist sich Kandinsky durchaus der Tatsache bewusst, dass in der Kunst eine absolut richtige Form[55] existieren muss. Bewusst ist ihm aber auch, dass jeder Künstler seine individuelle Form besitzen muss. Diese wohl eher als Paradoxon erscheinenden Gedanken führen jedoch direkt zum Wesen der „inneren Notwendigkeit“. Jeder Mensch kann lediglich das ausdrücken, was er in seinem Inneren fühlt. Dazu dienen ihm verschiedene Ausdrucksmittel, wie beispielsweise die Form. Die Form ist demnach nur der Ausdruck des Inhalts. Der Inhalt wiederum ist bei jedem Künstler von einzigartiger Gestalt. Daraus lässt sich letzten Endes schlussfolgern, dass es zur selben Zeit zahlreiche verschiedene Formen gegeben haben muss und gegeben haben kann.[56] Kandinsky betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass das, was für den einen Künstler das beste Ausdrucksmittel gewesen ist, nicht auch für die anderen Künstler das Beste sein muss. Diese Ansichten unterstützten Kandinskys Streben nach einer Gleichberechtigung der Kunstformen, wie auch im geplanten Almanach deutlich zum Ausdruck gebracht werden soll.
Die Form wird folglich nur durch die „innere Notwendigkeit“ geschaffen. Der Geist des Künstlers dagegen spiegelt sich in der „inneren Notwendigkeit“ wider. Jede Form, die einen Ausdruck des Inhalts, der „inneren Notwendigkeit“ darstellt, ist demzufolge eine richtige Form. „Die Notwendigkeit schafft die Form“, so Kandinsky in seinem Artikel Über die Formfrage im Almanach Der Blaue Reiter.[57] Die Form, die Kandinsky seinerzeit geschaffen hat, ist das Abbild seiner „inneren Notwendigkeit“. Dazu zählt eine neue Form- und Farbsprache in der Kunst, die bis heute als Abstraktion in der Kunstgeschichte betrachtet werden kann.
„[…] das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist, oder nicht.“[58]
Behalten wir dieses Zitat für einen Moment in unseren Gedanken und betrachten in den folgenden Kapiteln speziell Kandinskys „innere Notwendigkeit“ im Bezug auf seine immer gegenstandsloser werdenden Kunstwerke.
3.2.1 Impression III (Konzert)
Aus dem Kapitel 3.1 zur Lebensgeschichte Kandinskys ist bereits hervorgegangen, dass es sich bei dem Gemälde Impression III um ein Werk handelt, welches nach einem Schönbergkonzert[59] im Jahre 1911 entstanden ist. Offensichtlich hat Kandinsky die starken Eindrücke des Konzerts kurze Zeit später in Form von Farben und abstrakten Linien auf einer 77,5 : 100 cm großen Leinwand verarbeitet. Dass das Ölgemälde kurze Zeit nach dem Konzertbesuch entstanden sein muss, wird bei der Betrachtung des Hauskataloges[60] deutlich. Das Gemälde erscheint als Drittes von insgesamt dreiunddreißig Nummern und führt somit zu der Annahme, dass zwischen dem Konzertbesuch und der Entstehung des Gemäldes ein lediglich kurzer Zeitraum gelegen haben muss. Die Zusatzbezeichnung Konzert im Bildtitel verdeutlicht darüber hinaus den engen Bezug zwischen Musik und Malerei, den Kandinsky nach dem Schönbergkonzert wohl empfunden haben muss. Offenbar waren Kandinskys Eindrücke sogar so groß, dass er noch im selben Monat einen Briefwechsel mit dem Komponisten Arnold Schönberg begonnen hat. Am 18. Januar 1911 schreibt Kandinsky folgende erste Worte an Schönberg[61].
„Entschuldigen Sie bitte, daß ich ohne das Vergnügen zu haben Sie persönlich zu kennen einfach an Sie schreibe. Ich habe eben Ihr Concert hier gehört und habe viel wirkliche Freude gehabt. [...] Sie haben in Ihren Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine große Sehnsucht hatte. Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Compositionen ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche.“[62]
Dass diese Worte den Anfang einer langjährigen Freundschaft bilden sollten, ist wahrscheinlich weder Kandinsky noch Schönberg zu diesem Zeitpunkt bewusst. Doch der sonst eher schüchterne Kandinsky hat mit seinem Brief (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 18) an Schönberg mehr bewirkt, als ursprünglich zu vermuten gewesen wäre. Die intensive Korrespondenz der beiden Künstler hat jedoch in den darauffolgenden Monaten immer mehr an Bedeutung und Intensität gewonnen, sowohl in Bezug auf Kandinskys immer abstrakter werdende Kunst als auch auf Schönbergs atonale Klänge. Hinsichtlich der Malerei äußert sich Kandinsky im weiteren Verlauf seines Briefes wie folgt:
„Es ist momentan in der Malerei eine große Neigung, auf construktivem Wege die »neue« Harmonie zu finden, wobei das Rhythmische auf einer beinahe geometrischen Form gebaut wird. Auf diesem Wege kommt mein Mitfühlen und Mitstreben nur halb mit. Construktion ist das, was der Malerei der letzteren Zeiten so fast hoffnungslos fehlte. Und das ist gut, daß sie gesucht wird. Nur denke ich über die Art der Construktion anders.“[63]
Kandinskys Andersartigkeit spiegelt sich in antigeometrischen Formen seiner Gemälde wider. Im Gemälde Impression III ist diese Art der Konstruktion sehr deutlich zu erkennen. Kandinsky schreibt weiterhin von einer „Dissonanz in der Kunst“[64], welche sich sowohl auf die Malerei, als auch auf die Musik beziehe. Der Maler verarbeitet seine Gedanken bezüglich „dissonanter Malerei“ verstärkt in seinen Bildern ab dem Jahre 1910. Dass sein Werk Impression III eine visualisierte Form Schönbergs Musik darstellen soll, verdeutlicht Kandinsky mit dem Satz, „[…] Es hat mich unendlich gefreut den selben Gedanken bei ihnen zu finden. […]“[65]
Kandinskys Ansichten sind in seinem Gemälde Impression III besonders stark ausgeprägt und kennzeichnen sich wie folgt:
Bei einer genaueren Betrachtung des Bildes wird deutlich, dass der große schwarze Fleck in der oberen Hälfte des Gemäldes eine dominierende und hervortretende Position einnimmt. Er erinnert an einen Flügel. Ein Blick in das Konzertprogramm lässt erkennen, dass der Flügel hinsichtlich der aufgeführten Komposition 3 Klavierstücke op.11 auch im Konzert eine führende Funktion eingenommen haben muss. Die zwei großen Farbflächen Schwarz und Gelb, die sich kontrastierend gegenüberstehen, bilden somit den Kerngedanken des Gemäldes. In Kandinskys Werk Über das Geistige in der Kunst lässt sich diesbezüglich folgende Formulierung entdecken: „Das in Gelb gemalte Bild strömt immer eine geistige Wärme aus […]“.[66] Die Bewegung und Lebendigkeit, die von der Farbe Gelb ausgeht, beschreibt Kandinsky mit den Worten: „[…] das Streben zum Menschen […] das Springen über die Grenzen, das Zerstreuen der Kraft in die Umgebung […]“[67] Gelb ist die Farbe, die den Menschen beunruhigt, sticht und aufregt, so Kandinsky in seinen weiteren Ausführungen. Kandinsky schreibt in seinem Werk Über das Geistige in der Kunst zudem sehr detailliert über die Wirkung und Funktion autonomer Farben. Wie Kandinskys erstes abstraktes Gemälde ist auch seine Schrift Über das Geistige in der Kunst im Jahre 1910 entstanden[68]. Die geistige Entfaltung Kandinskys, hinsichtlich der Deutung und Beschreibung des Farbausdrucks, entwickelte sich daher offensichtlich zeitgleich mit seinem immer größer werdenden Verlangen nach abstrakter Kunst. Mit folgendem Zitat beschreibt der Künstler meiner Meinung nach am deutlichsten, welchen Charakter er der Farbe Gelb zu ordnet und welche Bedeutung sich dahinter verbirgt.
„Diese Eigenschaft des Gelben, welches große Neigung zu helleren Tönen hat, kann zu einer dem Auge und dem Gemüt unerträglichen Kraft und Höhe gebracht werden. Bei dieser Erhöhung klingt es, wie eine immer lauter geblasene scharfe Trompete oder ein in die Höhe gebrachter Fanfarenton. Gelb ist die typische irdische Farbe.“[69]
Schenkt man den Worten Kandinskys Glauben, suggeriert das gelbe Feld eine Art „gelben Klang“. Eine weite Ebene ohne jegliche gegensätzliche Assoziation. Zur selben Zeit entsteht Kandinskys Farboper unter dem Namen Der Gelbe Klang. Musik und Malerei scheinen sich in Kandinskys Gedanken zu einem untrennbaren Netz aus visualisierten Tönen und klanglichen Farben zusammengefügt zu haben.
Im Gegensatz dazu äußert sich Kandinsky zur Farbe Schwarz in folgender Form:
„Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem Erlöschen der Sonne, wie ein einziges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung klingt innerlich das Schwarz. Es ist musikalisch dargestellt wie eine vollständige Pause […] Das ist äußerlich die klangloseste Farbe, auf welcher jede andere Farbe, auch die am schwächsten klingende, stärker und präziser klingt.“[70]
Auffällig ist auch hier der Vergleich zur Musik. Die Farbe Schwarz gleicht einer musikalischen Pause, in der nichts passiert. Gelb hingegen hat den Drang eine scharfe Trompete zu imitieren. Offenbar besitzt Kandinsky die Fähigkeit, seine Kunst mit charakteristischen Eigenschaften der Musik präzise zu beschreiben. Die Verbindung zwischen Malerei und Musik ist bei diesem Gemälde besonders ausgeprägt, da, wie bereits vermutet wurde, das Werk nur wenige Tage nach dem Konzertbesuch entstanden sein muss. Des Weiteren beschreibt Kandinsky in seinem Werk Über das Geistige in der Kunst eine Theorie der Klangfarben. Dieser Theorie nach zu urteilen entsprechen einzelne Farbtöne bestimmten musikalischen Tönen. Ein helles Zitronengelb beispielsweise entspricht einem schrillen und scharfen Klang (Trompete oder Geige). Im Gegensatz dazu assoziiert Kandinsky mit einem dunklen Marineblau einen tiefen Orgelton. Diese Theorie hat Kandinsky bereits im Jahre 1909 erstmals formuliert. Veröffentlicht wurde sie jedoch erst in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst im Dezember 1911[71]. Die Musik ist insbesondere in diesem Gemälde mit rein gestalterischen Mitteln visualisiert. Gelb und Schwarz bilden starke Dissonanzen. Dissonanzen, wie sie auch Franz Marc nach dem Konzertbesuch[72] in einem Brief an August Macke, jedoch im Bezug auf die Musik Schönbergs, beschreibt.
„Kannst du dir eine Musik denken, in der die Tonalität (also das Einhalten irgendeiner Tonart) völlig aufgehoben ist? […] Schönberg geht von dem Prinzip aus, dass die Begriffe Konsonanz und Dissonanz überhaupt nicht existieren, eine sogenannte Dissonanz ist nur eine weitliegende Konsonanz. […].“[73]
Führt man Kandinskys Interpretationen weiter aus, besteht durchaus die Möglichkeit, die gelbe Fläche als gedankliches Klangerzeugnis des Flügels zu betrachten. Gelb symbolisiert im Gegensatz zu Schwarz eindeutig die Musik, welche sich durch das gesamte Gemälde windet. Der schwarze Fleck hingegen richtet sich lediglich in eine Richtung. Er folgt der diagonal angedeuteten Bewegung der anderen Flecken, welche wohl die Zuhörer darstellen sollen. Die lautlose Dissonanz zwischen Schwarz und Gelb steht somit im Mittelpunkt der Impression III.[74] Die Analogie zwischen Musik und Malerei wird meiner Meinung nach in keinem anderen Gemälde Kandinskys deutlicher zum Ausdruck gebracht.
3.2.2 Romantische Landschaft
Kandinskys Romantische Landschaft (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 19) ist im Jahre 1911 entstanden. Das Ölgemälde ist auf einer 94,3 : 129 cm großen Leinwand abgebildet und befindet sich heute in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München.[75] Arnold Schönberg hat die Romantische Landschaft 1911 in Berlin zum ersten Mal gesehen und schreibt Kandinsky in diesem Zusammenhang am 14. Dezember desselben Jahres, wie sehr er es bewundert habe.
„[…] Nun muß ich Ihnen noch über Ihre Bilder schreiben. Also: sie haben mir außerordentlich gefallen. Ich war gleich am Tag, nachdem ich ihren Brief bekommen[76] , dort. Am besten gefiel mir die » romantische Landschaft« . […]“[77]
Im Gegensatz dazu äußert sich Kandinsky im Jahre 1930 wie folgt gegenüber seinem Biografen Will Grohmann[78].
„Ich habe 1910 eine » Romantische Landschaft« gemalt, die mit der früheren Romantik nichts zu tun hatte. Ich habe die Absicht, wieder einmal so eine Bezeichnung zu verwenden […] . Die kommende Romantik ist tatsächlich tief, inhaltsvoll, sie ist ein Stück Eis, in dem eine Flamme brennt.“[79]
Bei genauerer Betrachtung des Gemäldes ist durchaus ein Stück Eis, wenn nicht sogar eine ganze Fläche zu erkennen, in der eine Flamme zubrennen scheint. Weiterhin lassen sich drei Reiter ausmachen, die sich diagonal, von oben rechts beginnend, förmlich rasend durch das Gemälde bewegen. Die Sonne, die sich links von der Bildmitte befindet, strahlt jedoch im Gegensatz zu den Reitern eine gewisse Ruhe aus. Im Vordergrund, auf der rechten unteren Bildseite, ist eine große dunkle Tanne[80] zu sehen, die wie ein starker Kontrast, zu der ihr umgebenen filigranen Winterlandschaft wirkt.
Während der Entstehung der Romantischen Landscha ft im Jahre 1911 befand sich Kandinsky gerade in einer Phase des Übergangs zwischen figurativen und abstrakten Darstellungen. Da der Begriff „Abstraktion“[81] für Kandinsky jedoch lediglich einen natürlichen Vorgang einer Entwicklung bezeichnet[82], stellt sich zum wiederholten Male die Frage, inwiefern „Abstraktion“ in Kandinskys Gedankenwelt abstrakt ist.[83]
Die Romantische Landschaft vermittelt, im Vergleich zu späteren Werken[84] Kandinskys, zunächst ein narratives Verständnis gegenüber dem Bild. Trotz der zum Teil verschwommenen Formen sind die drei Reiter, welche sich wohl auf einer Flucht befinden, deutlich zu erkennen. Des Weiteren erinnert die Landschaft, die die Reiter umgibt, stark an ein Gebirge während der Winterzeit. Vor allem der weiße Gletscher im oberen Teil des Bildes, der gelbbraune Felsen auf der linken Seite und die bereits erwähnte Tanne auf der rechten Bildseite. Der Weg, auf dem sich die drei Reiter befinden, verbindet auch gleichzeitig alle drei Landschaftselemente miteinander. Sieht man nun einmal von dem Begriff „Romantisch“ im Bildtitel ab, lässt sich zunächst nur schwerlich etwas aus dem Bild bezüglich der Romantik entnehmen. Der Betrachter ist jedoch durch die Vorgabe im Bildtitel beinahe gezwungen, nach der vermeintlich romantischen Darstellung zu suchen. Trotz des thematisch vorgegebenen Assoziationsrahmens, den Kandinsky mit seiner Bildüberschrift hervorruft, bleibt der Betrachter zum Teil dennoch in seiner eigenen Ungewissheit, in seinen eigenen Zweifeln und in seinen eigenen Fragen gefangen. Doch das ist genau das, was Kandinsky will. In einem Brief an Grohmann äußert sich Kandinsky diesbezüglich wie folgt:
„Ich möchte tatsächlich, daß man endlich das sieht, was hinter meiner Malerei steckt, weil mich ausschließlich und nur gerade das interessiert. […] Es muß endlich verstanden werden, daß die Form für mich nur Mittel zum Zweck ist“[85]
Kandinsky spricht in seinem Brief sehr deutlich über seine Vorstellungen, was die Interpretation seiner Werke betrifft. Nicht die Formfrage soll im Mittelpunkt des Betrachters stehen, sondern das Tiefsinnige im Inneren des Bildes. Im Bezug auf den Terminus „Romantik“, den Kandinsky bewusst verwendet, sei gesagt, dass sich seine Vorstellungen, entgegen der Tradition, nicht an der Vergangenheit orientieren. Kandinsky meint mit dem Begriff „Romantik“ die „kommende Romantik“, welche auf die Zukunft ausgerichtet ist.[86] In Anbetracht seiner Definition setzt sich die Interpretation des Bildes wie folgt weiter fort:
Das gesamte Gemälde verkörpert einen in sich geschlossenen Bewegungsablauf, der maßgeblich von den drei Reitern im Mittelpunkt des Bildes ausgeht. Diese Beobachtung lässt sich durch nachstehendes Zitat bestätigen.
„Die Schräge des Stürmens der Reiter wird im Bild durch zahlreiche Strichlagen aufgegriffen, die die Dynamik der Bewegung an alle Elemente der umgebenden Landschaft weitergeben.“[87]
Ausschlaggebend ist, dass die deutlich zu erkennenden Reiter den Ursprung der dynamischen Bewegung darstellen. Die Frage, die sich allerdings an dieser Stelle ergibt, ist, welches Ziel die Gestalten auf den Pferden haben. Der Weg der Reiter erschließt sich aufgrund der gut zu erkennenden Linie sehr deutlich. Sie eilen aus dem dunklen Gebirge[88] in, aus unserer Perspektive gesehen, abwärtsgerichteter Bewegung hinüber zum hellen Teil des Bildes in Richtung Felsgestein. Das Ziel der Reiter bleibt für den Betrachter jedoch im Verborgenen. Jede weitere Interpretation würde sich aus einer Reihe spekulativer Gedanken zusammensetzten. Fest steht, dass Kandinsky das Ziel der Gestalten in seinem Werk nicht eindeutig zur Kenntnis geben will. Analog zu Kandinskys Zielsetzungen lässt sich das unbekannte Ziel der Reiter vielmehr als ein Aufbruch in eine unbestimmte Zukunft definieren. Ein durchaus passender Dialog, den einer der Reiter vor Beginn seiner Reise geführt haben könnte, findet sich in einer Parabel[89] von Franz Kafka (1883-1924) wieder, in der ein Bediensteter seinen Herren fragt, „Wohin reitest du, Herr?“ und der Herr antwortet mit den schlichten Worten „[…] nur weg von hier.“[90]
Folglich ist festzustellen, dass sich die Form in Kandinskys Romantischer Landschaft noch nicht in dem Maße verselbstständigt hat, wie sie es in seinen späteren Werken unaufhaltsam tun wird. Vielmehr ist in diesem Gemälde die Bildsprache noch gut erkennbar. Der Titel des Bildes setzte sich aus einer bildbeschreibenden Komponente und einer thematischen Sinngebung zusammen, wodurch ein direkter Objektbezug zum Bild hergestellt werden kann. Wie bereits erwähnt handelt es sich dabei um einen Weg in eine unbekannte Zukunft, welche Kandinsky als die „kommende Romanik“ beschreibt; Kandinsky blickt mit seinem Werk in die ungewisse Zukunft, die seiner Ansicht nach nur durch die Auflösung des bisherigen Kunstverständnisses erreicht werden kann.
3.2.3 Komposition V
Wie die Impression III und die Romantische Landschaft ist auch die Komposition V im Jahre 1911 entstanden. Das Gemälde befindet sich derzeit in Privatbesitz und misst stolze 190 cm x 275 cm. Das Ölgemälde gibt nur noch rudimentär einige gegenständliche Details zu erkennen. Der sehr abstrakt wirkende Farbkosmos, der beinahe den gesamten Raum des Bildes einnimmt, übermannt fast die letzten Überreste des Wahrzunehmenden. Bei genauer Betrachtung des Gemäldes ist jedoch oberhalb der überladenen und beinahe zerstörerisch wirkenden Landschaft ein Berg zu erkennen. Auf diesem Berg befindet sich eine Burg. Diese Erhebung innerhalb des apokalyptischen Wirrwarrs aus Formen, Farben und Linien verkörpert für Kandinsky den rettenden Ort. Einen Ort, der Zuflucht gewährt und Schutz bietet - ein heiliger Ort. An diesem mystischen Platz erschließt sich für Kandinsky die neue Vision einer geistigen Welt. Diese neue Welt ist das Heil aller Menschen, nachdem die alte Welt an sich selbst zugrunde gegangen ist.
Deutlich ist der Unterschied zur Impression III und zur Romantischen Landschaft zu erkennen. Der Betrachter ist auf sich selbst gestellt. Keine erkennbare Form gibt Aufschluss über den Inhalt der Komposition, wie sie Kandinsky selbst nennt. Wie bereits in Kapitel 2.2 erklärt, handelt es sich bei der Komposition V um ein Gemälde in „Übergröße“, was wiederum die „Neue Künstlervereinigung München“ letztendlich dazu veranlasst hat, dieses Werk nicht zur dritten Ausstellung zuzulassen. Den daraus resultierenden Konflikt nimmt Kandinsky zum Anlass, um sein riesenhaftes Kunstwerk mit dem Untertitel Das Jüngste Gericht zu versehen. Nun ist es natürlich eine Sache der Interpretation, den Zerfall einer alten Welt auf das Ende der „Neue Künstlervereinigung München“ zu übertragen und im gleichen Atemzug die Gründung des „Blauen Reiters“ als die von Kandinsky beschriebene neue Zukunft zu betrachten. Eine neue Welt, die aus dem Verfall einer alten vergangenen Epoche das Heil der Menschen symbolisieren soll. Inwiefern der von Kandinsky gewählte Titel Das Jüngste Gericht diesbezüglich zu deuten ist, bleibt wohl im Sinne des Malers jedem Betrachter selbst überlassen.
Sicher ist, dass die immer stärker werdende Abstraktion in Kandinskys Werken deutlich zu erkennen ist. Diese Entwicklung begleitet den Maler in den darauf folgenden Jahren merklich. Eine vollstände Interpretation der Komposition V ist im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht möglich, da eine solche Betrachtung den geplanten Umfang der Arbeit bei Weitem überschreiten würde.
3.3 Über das Geistige in der Kunst
Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst beginnt mit den Worten[91]:
„Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle.“[92]
Zehn Jahre lang hat Kandinsky seine Gedanken gesammelt und aufgeschrieben, bis sie letztendlich in einer Schrift von ihm zusammengeführt wurden und als Buch erschienen sind. Der erste Satz, welcher die Einleitung ziert, spiegelt deutlich wider, was sich bereits in Bezug auf die Frage der Form in der Malerei im vorangegangen Kapitel herausgebildet hat.[93] Ein Kunstwerk hat die Aufgabe, die „innere Notwendigkeit“ des Malers, also seine Gefühle, auszudrücken. Dieser Schaffensprozess ist zu jeder Zeit unterschiedlich, womit Kandinsky das gleichzeitige Bestehen mehrerer verschiedener Kunstformen begründet.
Im Sommer 1909 beginnt Kandinsky zum ersten Mal, mehrere Tage und Wochen an einem Manuskript zu arbeiten. In diesem Skript gibt Kandinsky, Auskunft über seine Ideen und versucht sich für seine kunsthistorischen und philosophischen Vorstellungen (mehr oder weniger) zu rechtfertigen. Mit dem Vorwort der ersten Auflage gibt Kandinsky dem Leser und der Leserin einen kurzen Einblick darüber, was zu erwarten ist.
„Die Gedanken, die ich hier entwickle, sind Resultate von Beobachtungen und Gefühlserfahrungen, die sich allmählich im Laufe der letzten fünf bis sechs Jahre sammelten. Ich wollte ein größeres Buch über das Thema schreiben, wozu viele Experimente auf dem Gebiet des Gefühls gemacht werden müßten. […] Ich bin also gezwungen, in den Grenzen eines einfachen Schemas zu bleiben und mich mit der Weisung auf das große Problem zu begnügen. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn diese Weisung nicht im Leeren verhallt.“[94]
Den Notizen, die sich über die vergangenen Jahre angesammelt haben, schenkt Kandinsky in diesem Zusammenhang auch wieder mehr Aufmerksamkeit und nutz einen Teil seiner Zeit dafür, seine Aufzeichnungen aus zurückliegenden Tagen zu überdenken. Noch im selben Jahr hat der Maler seinen ersten Entwurf an den Verleger Georg Müller (1877-1917) in München geschickt. Die Absage des Verlegers, die ihn daraufhin kurze Zeit später ereilt, sorgt zunächst für große Enttäuschung. Zu vieldeutig und zu wenig publikumswirksam seien seine Texte, so Müller.[95] Daraufhin überarbeite Kandinsky seine Worte unter Berücksichtigung der genannten Aspekte. Als Kandinsky seinen zweiten Entwurf bei dem Münchener Piper Verlag einreicht, erfährt er kurz darauf eine Zusage. Zwar müssen noch stilistische Überarbeitungen vorgenommen werden, einer Veröffentlichung sollte aber nichts im Wege stehen. Unter den Titel Über das Geistige in der Kunst erscheint Kandinskys Werk noch im Dezember 1911.[96] Am 9. Dezember schickt der Maler seinem Freund Arnold Schönberg ein Exemplar seiner gerade fertiggestellten Schrift. Auf der ersten Seite ist die persönliche Widmung „Meinem lieben Herrn Schönberg, mit Ausdruck der Sympathie.“[97], zu lesen (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 20). Kandinskys Widmung zeigt die enge Beziehung der beiden Männer in diesem Zusammenhang sehr deutlich.
Nur drei Tage später, am 12. Dezember 1911, schreibt Schönberg in seiner Harmonielehre eine Widmung an Kandinsky und nimmt darüber hinaus Bezug zu seinem Werk Über das Geistige in der Kunst.
„HARMONIELEHRE, die führt ja vielleicht ab vom »Geistigen in der Kunst« und möchte doch eigentlich so gerne hinführen. Aber Sie wissen den Weg doch und auch ein Ziel: muß Ihr Weg zu Ihrem Ziel führen? Ist Ihr Ziel nur auf Ihrem Weg zu erreichen? Ist es nicht das Wichtigste, daß Sie sich auf einem Weg, zu einem Ziel bemühen? Vielleicht führt also sogar die Harmonielehre zum »Geistigen in der Kunst«. Uns, die wir uns beide auf einem Weg bemühen, beinahe auf dem gleichen, hat sie ja schon einmal zusammengeführt – aber das
ist unsere private Angelegenheit, über die ich mich sehr freue.
Viele herzlichste Grüße Ihr Arnold Schönberg
12. Dezember 1911“[98]
Schönbergs Harmonielehre, welche ebenfalls Ende 1911 erscheinen ist[99], hat den Maler in vielen seiner Ideen und Gedanken nachhaltig beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit Schönbergs Werk und seiner Theorie veranlasst Kandinsky dazu, seine Überlegungen an bereits formulierte Aussagen anzupassen und ergänzend fortzuführen. Beispielsweise hat Kandinsky durch Schönberg die Erkenntnis erlangt, „[…] dass es keinen invarianten Harmoniebegriff gibt, sondern dass auch dieser einem Wandel unterliegt, in dem die Dissonanz […] sich emanzipiert.“[100] Aus dieser Annahme heraus beschreibt Kandinsky das gültige Harmonieverständnis hinsichtlich der Malerei in seiner theoretischen Abhandlung mit folgenden Worten:
„Kampf der Töne, das verlorene Gleichgewicht, fallende »Prinzipien«, unerwartete Trommelschläge, große Fragen, scheinbar zielloses Streben, scheinbar zerrissener Drang und Sehnsucht, zerschlagene Ketten und Bänder, die mehrere zu einem machen, Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie. Auf dieser Harmonie fußende Komposition ist eine Zusammenstellung farbiger und zeichnerischer Formen, die als solche selbstständig existieren, von der inneren Notwendigkeit herausgeholt werden und im dadurch entstandenen gemeinsamen Leben ein Ganzes bilden, welches Bild heißt.“[101]
Das Interesse an Kandinskys Schrift ist außerordentlich groß. Schon bald erreicht das Werk seine dritte Auflage und wird zudem in eine Vielzahl anderer Sprachen übersetzt. Kandinsky eröffnet dem Leser und der Leserin mit seinem Buch einen nahezu grenzenlosen Einblick in seine Bild- und Gedankenwelt. Diesbezüglich begleitet es nicht nur Kandinsky binderisches Schaffen, sondern fördert gleichzeitig auch die unweigerlich aufkommenden Diskussionen um seine Bilder mehr denn je.[102] Trotz der Tatsache, dass Kandinsky selbst nicht alles realisiert hat, was er in seiner Schrift programmiert, sind seine Gedanken doch unaufhaltsam von den Rezipienten aufgenommen wurden. Folglich haben sich seine Ideen und Vorstellungen durch die Auffassung und Weitergabe der Leser und Leserinnen sehr schnell verbreitet und weiterentwickelt. Dass Kandinskys Werk „lediglich“ ein geistiges Dokument seiner eigenen Gedanken darstellt und es sich um keine kunsttheoretische Abhandlung in dem Sinne handelt, sollte an dieser Stelle deutlich geworden sein.
In dem ersten Kapitel „Die Bewegung“ stellt Kandinsky einen Entwurf eines Dreieckbildes vor, welches das geistige Leben widerspiegeln soll. An der Spitze des Dreiecks befindet sich nur eine einzelne Person. In Kandinskys Vorstellungen bewegt sich der von ihm visualisierte Geist des Lebens unaufhaltsam voran. Diesen Gedanken konkretisiert er schließlich in seinem Kapitel „Geistige Wendung“. Kandinskys Bestrebungen, alle Künste zu einer „monumentalen Kunst“ zu vereinen, ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk. Besonders im Abschnitt „Die Pyramide“ beschreibt Kandinsky die bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Kunstformen. In der Literatur verweist Kandinsky diesbezüglich auf Maurice Maeterlinck (1862 – 1949) und Alfred Kubin, während er in der Musik auf Arnold Schönberg und Claude Debussy (1862-1918) zurückgreift. In der Malerei hebt Kandinsky in diesem Zusammenhang besonders Pablo Picasso und Henri Matisse hervor.
Kandinsky war überzeugt, dass der abstrakten Kunst die Zukunft gehöre.[103] In seinem Buch wird dieser Kerngedanke immer wieder aufgegriffen und durch den Autor unterstützend erläutert. Die kunsthistorische Schrift dient als gedankliche Quelle für die Anfänge der modernen Kunst und bietet subjektive Selbstinterpretationen eines zeitgemäßen Künstlers. Besonders prägend verwendet Kandinsky den Begriff der „inneren Notwendigkeit“. Im Abschnitt „Geistige Wendung“[104] erläutert Kandinsky seine Gedanken zur „inneren Notwendigkeit“ daraufhin genauer. Wie bereits im Kapitel 3.2.2 angesprochen wurde, ist der Aspekt, die „innere Notwendigkeit“ durch Farben und Formen zum Ausdruck zu bringen, für Kandinsky von überragender Bedeutung. Besonders in der Musik nimmt die „innere Notwendigkeit“ für Kandinsky eine bemerkenswerte Position ein. Dass die Musik der Kunst bereits um einiges voraus gewesen zu sein scheint, ist für Kandinsky fast selbstverständlich. So unterscheidet er am Beispiel von der Musik Debussys zwischen äußerem und innerem "Schönen". Kandinsky bezieht diese Aussage allerdings maßgeblich auf die harmonisch unterschiedlich empfundenen Klänge.
„[…] Die modernsten Musiker, wie Debussy, bringen geistige Impressionen, die sie oft aus der Natur nehmen und in rein musikalischer Form in geistige Bilder verwandeln. […] Dieses innere Schöne ist das Schöne, welches mit Verzicht auf das gewohnte Schöne aus befehlender innerer Notwendigkeit angewendet wird. […]“[105]
Auch der Komponist Arnold Schönberg findet in diesem Zusammenhang bereits eine nennenswerte Erwähnung in Kandinskys kunsttheoretischer Schrift. Folgende Gedanken Kandinskys sind diesbezüglich dem Werk zu entnehmen:
„[…] Mit diesem vollen Verzicht auf das gewohnte Schöne, alle Mittel, die zum Zweck der Selbstäußerung führen, heilig heißend, geht heute noch allein, nur von wenigen begeisterten anerkannt, der Wiener Komponist Arnold Schönberg. […] Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelisch. Hier beginnt die ‚Zukunftsmusik‘. Nach den idealistischen Ideen kommen die ablösenden impressionistischen Bestrebungen in der Malerei. […][106]
Dementsprechend widmet Kandinsky einen großen Teil seiner Arbeit dem zweiten Teil, welchen er mit dem Titel „Malerei“ überschreibt. In diesem Kapitel äußert er sich zum einen über die „Wirkung der Farbe“ und zum anderen über die “Formen- und Farbensprache“. Er bezieht sich insbesondere auf die „Wirkung der Farbe auf Physis und Psyche“ sowie auf die Wahrnehmung und Empfindung der Farbe im Hinblick auf die Seele. Nach Kandinsky beruht die Farbharmonie lediglich auf dem Grundsatz der „zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele“[107]. Außerdem beschreibt Kandinsky eindrucksvoll, inwiefern Farben für Sinnesreizungen oder aber Sinnesberuhigungen verantwortlich sind. Kandinskys besondere Affinität bezüglich der Farbtöne lässt sich an vielen Stellen seines Werkes entnehmen.
„Manche Farben können unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas Glattes, Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern streicheln möchte. […] Selbst der Unterschied zwischen Kalt und Warm des Farbentones beruht auf dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen (Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün, grünblau Oxyd), so daß die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe für trokken gehalten werden kann. Der Ausdruck «duftende Farben» ist allgemein gebräuchlich. Endlich ist das Hören der Farben so präzis, daß man vielleicht keinen Menschen findet, welcher den Eindruck von Grellgelb auf den Baßtasten des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel als eine Sopranstimme bezeichnen würde. […] Im allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten.“[108]
Sehr sinnlich und berührend beschreibt Kandinsky Zeile für Zeile die Wirkung der Farben. Dabei erscheint der ständig anhaltende Bezug zur Musik in seinen Worten wie selbstverständlich zu sein. Weiterhin lässt sich bei Kandinsky die Grundeinteilung der Farben durch warm-kalt und hell-dunkel charakterisieren. Er ordnet jeder Farbe einen speziellen seelischen Ausdruck zu, welchen er zusätzlich mit einem Beispiel der Musik verdeutlicht.[109]
Im Gegensatz dazu entwickelt Kandinsky in seinem Kapitel “Formen- und Farbensprache“ folgende interessante Theorie: Die Grundaussage seiner Behauptung besteht darin, dass eine Form selbstständig für sich existieren kann. Eine Farbe jedoch nicht. Eine bestimmte Form beeinflusst eine Farbe sogar so sehr, dass ihr Charakter den der Form vollkommen annimmt und sich ihm unterwirft. Die Farbe erhält ihre Ausdrucksstärke allein durch die Form, die sie ausfüllt. Ein „Gelb“ in einer „Spitze“ strahlt einen anderen Charakter aus als ein „Gelb“ in einer runden Form.
Diese neue Schaffensperiode, die der Schrift folgen sollte, beschreibt Kandinsky in seinem Buch zunächst theoretisch. Er zeigt in diesem Zusammenhang neue und von den Menschen noch nicht erschlossene Wege in Bezug auf die Form und die Gesamtheit des geistigen Lebens auf. Die von Kandinsky beschriebene „Geistige Wendung“ macht sich vorrangig in der Literatur, der Musik und der Kunst bemerkbar. In diesem Zusammenhang schreibt Kandinsky folgenden Satz:
"Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten empfindlichsten Gebiete, wo sich die geistige Wendung bemerkbar macht in realer Form. Diese Gebiete spiegeln das düstere Bild der Gegenwart sofort ab, sie erraten das Große, was erst als ein ganz kleines Pünktchen nur von wenigen bemerkt wird und für die große Menge nicht existiert."[110]
Das Schlusswort seiner theoretischen Abhandlungen widmet Kandinsky seinen eigenen Werken. Wie bereits im Kapitel 3.2 zu lesen war, unterteilt er seine Gemälde in Impressionen, Improvisationen und Kompositionen. In diesem Zusammenhang thematisiert Kandinsky die eigenen Motive und Ziele, welche sich in seinen persönlichen Bildern verbergen.
Zusammenfassend ist aus Kandinskys Werk Rückblicke von 1913 Folgendes zu entnehmen:
„Mein Buch <Über das Geistige in der Kunst> und ebenso <Der Blaue Reiter> hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Der Wunsch, diese beglückende Fähigkeit in den Menschen, die sie nicht hatten, hervorzurufen, war das Hauptziel der Publikationen.“[111]
Hinsichtlich der Vielseitigkeit von Kandinskys einflussreicher Schrift, in der teilweise persönliche Eindrücke, Intentionen und Ansichten aufeinanderfolgend erscheinen, ist mit Nachdruck festzuhalten, dass es sich hierbei um eine durchaus anspruchsvolle, sowie geistig herausfordernde Literatur handelt. Für die weitere Entwicklung der abstrakten Malerei waren die Gedanken Kandinskys von fundamentaler Bedeutung. Dass seine programmatische Schrift kurz vor der Entstehung seines ersten abstrakten Gemäldes[112] erschienen ist, wird daher wohl kein Zufall gewesen sein. Zitate und Bezüge aus der Schrift finden sich noch bis in die gegenwärtige Zeit in verschiedensten Abhandlungen über die Entfaltung und Schöpfung der modernen Kunst wieder.
Über das Geistige in der Kunst zählt daher bis heute zu einer der einflussreichsten kunsttheoretischen Schriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
4. Arnold Schönberg - Ein Komponist unter Malern
Bevor sich das vierte Kapitel der Arbeit ausführlich Schönbergs Leben zuwende, möchte ich einleitend folgende These formulieren.
Kein anderer Komponist hätte Schönbergs Position im „Blauen Reiter“ ersetzen können.
In Bezug auf den Almanach Der Blaue Reiter stellt der Komponist Arnold Schönberg eine nicht wegzudenkende Verbindung zwischen Musik und Malerei dar. Kandinsky hatte daher großes Interesse, Schönberg an der Herausgabe der kunsthistorischen Schrift, welche im Jahre 1912 erscheinen sollte, zu beteiligen. Diesbezüglich schreibt Arnold Schönberg 1911 folgenden Brief an Wassily Kandinsky:
„Auf den „Blauen Reiter“ bin ich schon sehr neugierig. Wann erscheint er denn endlich? Oder sind Sie noch nicht so weit? Ihnen einen Aufsatz für die zweite Nummer zu schreiben, fand ich noch immer nicht Zeit. Aber vielleicht komme ich doch bald dazu. Augenblicklich geht’s wohl kaum, denn ich halte vom 20. November angefangen im Sternschen Konservatorium einen Cyklus von 8 – 10 Vorträgen über ‚Ästhetik und Kompositionslehre‘. Wie Sie sich wohl denken werden, handelt es sich dabei darum, beide umzustoßen. Vielleicht werde ich einen dieser Vorträge schriftlich ausarbeiten und ihn dem blauen Reiter geben.“[113]
Aufgrund der umfangreichen Bemühungen Kandinskys Arnold Schönberg für seinen Almanach zu gewinnen, fand bereits ab dem Jahre 1911 ein reger Briefwechsel zwischen dem Künstler und dem Komponisten statt. Somit stand Schönberg bereits zwei Jahre vor der Erscheinung des Almanachs im engen Kontakt mit Kandinsky und der expressionistischen Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. Letztendlich verfasste Schönberg einen umfassenden theoretischen Beitrag unter dem Titel Das Verhältnis zum Text für das geplante Jahrbuch Der Blaue Reiter. Wassily Kandinsky äußert sich 1912 wie folgt zu Schönbergs Artikel: „Was Ihren Artikel im BR anbelangt, so habe ich ihn mit der ständigen Freude genossen. […]“[114]
4.1 Ein Musiker zwischen Tönen und Farben
Arnold Schönberg (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 21) ist ein österreichischer Komponist jüdischer Herkunft. Aus musikhistorischer Sicht ist sein Wirken und Schaffen als Musiker vor allem in der Zeit der Spät- und Nachromantik einzuordnen. Als Musiktheoretiker, Maler, Lehrer und Dichter zählt Schönberg bis heute zu den bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Zeit.[115]
Am 13. September 1874 wird der Komponist als Ältestes von drei Kindern als Sohn des Kaufmannes Samuel Schönberg (1838-1890) in Wien geboren. Da Schönberg eine eher autodidakische Veranlagung zu zuschreiben ist, erlernt der musikbegeisterte Junge bereits im Kindesalter die Geige nach seinen eigenen Vorstellungen zu spielen. In diesem Zusammenhang entstehen auch seine ersten individuellen Kompositionsversuche. Dass Schönberg sich mit viel Engagement dem Erlernen eines Streichinstrumentes widmet, ist wohl nicht auf das Interesse der Eltern zurückzuführen. Bekanntermaßen ist eine musikalische Tradition in seiner Familie nur schwerlich zu entdecken.[116] Seine Inspirationen und neuen Gedanken bezüglich seines musikalischen Schaffens sammelt Schönberg in seinen bevorzugten Bühnenwerken von Richard Wagner (1813-1883). Im Alter von 21 Jahren gibt Schönberg seinen derzeitigen Beruf als Mitarbeiter einer Privatbank auf und verkündet seiner Familie in diesem Zusammenhang, dass er Musiker werden wolle. Trotz aufkommender Ablehnung bezüglich seiner Zukunftspläne wird der junge Musikliebhaber 1895 Mitglied in dem kleinen Orchester „Polyhymnia“. Der Leiter des Orchesters ist der gerade einmal 24 Jahre alte Alexander von Zemlinsky[117]. Während Schönbergs Zeit im Orchester entsteht zwischen den Männern eine intensive Freundschaft, trotz der Tatsache, dass Zemlinsky Schönbergs Versuche, im Orchester Cello zu spielen, eher als „misslungen“ betrachtet.[118]
„[…] an dem einzigen Cellopult saß ein junger Mann, der ebenso feurig wie falsch sein Instrument mißhandelte (das übrigens nicht Besseres verdiente – es war von seinem Spieler um sauer ersparte drei Gulden am sogenannten Tandelmarkt in Wien gekauft), und dieser Cellospieler war niemand anderes als Arnold Schönberg.“[119]
Der Unterricht, den Schönberg bei Zemlinsky zu dieser Zeit bekommt, ist nicht nur von kurzer Dauer, sondern auch der Einzige, den er je in Anspruch genommen hat. Abgesehen von einigen kontrapunktischen Kompositionstechniken, die Zemlinsky seinem Schüler vermittelt, besteht der Unterricht oft aus hitzigen Diskussionen über ungeklärte Fragen auf dem Gebiet der Musiktheorie. In den darauf folgenden Jahren schreibt der dreiundzwanzigjährige Schönberg sein erstes Streichquartett in D-Dur op. 7. Ein Jahr später, 1897, wird das Quartett erstmals öffentlich aufgeführt. Im Gegensatz dazu lassen sich die Jahre zwischen 1898 und 1900 durch zahlreiche Liedkompositionen charakterisieren. Schönberg vertont unter anderem Gedichte von Richard Dehmel (1863-1920), Gottfried Keller (1819-1890), Jens Peter Jacobsen (1847-1885) und Karl von Levetzow (1827-1903). Dass sich Schönberg hinsichtlich seiner Textauswahl nicht immer sicher gewesen zu sein schien, wird vor allem bei der stilistischen und inhaltlichen Betrachtung der Gedichte deutlich. Schönberg bedient sich, ausgehend von der Spätromantik (1816-1835) bis zum Neutralismus (1880-1900) in alle Stilrichtungen sehr ausgiebig. Aus diesem Grund weisen die Texte sehr unterschiedliche literarische Merkmale auf. In seinem Aufsatz Das Verhältnis zum Text[120] schreibt Schönberg im Bezug seiner Textauswahl folgende Selbsteinschätzung:
„Es zeigt sich mir, daß ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfaßt hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre. Noch entscheidender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, daß ich viele meiner Lieder, berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja, ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im geringsten zu erfassen, zuende geschrieben und erst nach Tagen daraufkam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sein“[121]
Dem Zitat ist deutlich zu entnehmen, dass Schönberg sich der eigentlichen Inhalte der Gedichte erst nach geraumer Zeit, wenn überhaupt, in ihrer Gesamtheit erschlossen hat. Entscheidend waren für ihn die Anfangsworte und nicht der lyrisch-poetische Gehalt der Gedichte. In diesem Sinne beantwortet Schönberg die Frage, weshalb die Auswahl seiner Texte wohl keinem vornehmlichen und einheitlichen Genre zuzuordnen sind, gewissermaßen selbst.
Nachdem Arnold Schönberg 1899 sein erstes großes Werk, Verklärte Nacht op. 4, ein Streichsextett für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli, fertig gestellt hat, heiratet er zwei Jahre später Zemlinskys Schwester Mathilde (1877–1923) und zieht mit ihr nach Berlin. Noch im selben Jahr wird Schönberg Kapellmeister im „Berliner Kabarett“[122]. Während sich Schönberg mit seiner Frau in der Metropole aufhält, begegnet er kurze Zeit später dem Komponisten Richard Strauss (1864-1949). Bereits ein Jahr später erhält Schönberg durch die Unterstützung des hochgeschätzten Komponisten das Liszt-Stipendium und tritt in diesem Zusammenhang eine Stelle als Kompositionslehrer am „Sternschen Konservatorium“ in Berlin an. Schönberg kehrt jedoch im Jahre 1903 vorläufig nach Wien zurück, um unter anderem ein Jahr später den „Verein schaffender Tonkünstler“[123] zu gründen. Zudem konzentriert er sich in Wien insbesondere auf seine Tätigkeit als Komponist und Kompositionslehrer. Daraufhin werden im selben Jahr, 1904, Anton Webern und Alban Berg seine Schüler und langjährige Freunde. Schönbergs Position als Lehrer und sein Aufenthalt in Wien sind maßgebliche dafür verantwortlich, dass Schönberg bis heute zu dem bedeutendsten Komponisten der sogenannten „Zweiten Wiener Schule“[124] zu zählen ist. In den Jahren zwischen 1906 und 1912 widmete sich der Komponist überwiegend der Malerei. In Kapitel 4.4 wird dieser bedeutsame Lebensabschnitt Schönbergs im Detail erläutert und behandelt.
Während der Zeit, in der sich Schönberg intensiv der Malerei hingibt, entsteht zwischen 1907 und 1908 sein Zweites Streichquartett in fis-Moll op. 10.[125] Die Uraufführung im Jahr der Fertigstellung gleicht einer Katastrophe und sorgt bei den Zuhörern für blankes Entsetzten. Drei Jahre nach dieser missglückten Uraufführung beendet Schönberg seine Harmonielehre[126] und reist kurze Zeit später zurück nach Berlin. Bereits im Jahr darauf führt der Komponist die Methode „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen” (Zwölftonmusik) als eine der bedeutendsten Kompositionstechniken der zeitgenössischen Musik ein und vermittelt diese in den folgenden Jahren an seine Schüler. Im selben Jahr entsteht die Komposition Pierrot lunaire, welche in Kapitel 4.3 ausführlich behandelt wird.
[...]
[1] Der Begriff „Bildende Kunst“ bezieht sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im Allgemeinen auf visuell gestaltete Künste und stellt somit einen Sammelbegriff mehrerer Gattungen dar. In diesem Kontext bezieht sich der Begriff jedoch vorrangig auf die Gattung der Musik und der in der Kunstgattung zu findenden Malerei.
[2] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky, Wassily. Über das Geistige in der Kunst. Benteli Verlag. Bern. 1952. S. 49.
[3] Arnold Schönberg: Brief an Wassily Kandinsky, 08.03.1912; zit. nach Hahl-Koch, Jalena (Hrsg.). Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky: Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1983. S. 6.
[4] Auf die Grundgedanken, Zielsetzungen, Konzeptionen und Entwürfe wird im Kapitel 2.4 näher eingegangen.
[5] Stilrichtung der französischen Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
[6] Periodische, meist einmal im Jahr erscheinende Schrift zu einem thematisch abgegrenzten Fachbereich (Nachschlagewerk).
[7] Franz Marc: Brief an August Macke, 8.9.1911; zit. nach Hüneke, Andreas (Hrsg.). Der Blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung. Reclam-Verlag. Leipzig. 1989. S. 78.
[8] Wassily Kandinsky: Brief an Arnold Schönberg, 16.11.1911; zit. nach Hüneke. 1989. S. 89.
[9] Hierbei handelt es sich bereits um die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“.
[10] Die Komposition V ist ein Ölgemälde auf Leinwand mit einer Größe von 190 x 275 cm.
[11] Herzgewächse op. 20 ist eine Komposition von Arnold Schönberg aus dem Jahr 1911.
[12] Die Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung München“ fand ebenfalls am 18. Dezember 1911 bis zum 1. Januar 1912 in der Galerie Thannhauser in München statt.
[13] Künstlervereinigung von 1905 bis 1913.
[14] Franz Marc: Subskriptionsprospekt, 1912; zit. nach Hüneke. 1989. S. 98.
[15] Vgl. Düchting, Hajo. Die Kunst des Blauen Reiters. Belser Gesellschaft für Verlagsgeschäfte. Stuttgart. 2010. S. 20.
[16] www.spiegel.de/lexikon (Datum des Zugriffes: 20.12.2011)
[17] Es ist nicht direkt der Titel seines Werkes gemeint. Der Titel des programmatischen Buches, welches 1912 erscheint, lautet Über das Geistige in der Kunst.
[18] Der Piper Verlag ist ein in München 1904 gegründeter Buchverlag für Belletristik und Sachbücher.
[19] Vgl. Düchting. 2010. S. 20.
[20] Bernhard Koehler ist ein großzügiger deutscher Kunstmäzen und Kunstsammler mit einer Vorliebe für expressionistisch anmutende Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
[21] Verlegte Stückzahl: 600.
[22] Wohnsitz von Franz Marc.
[23] Wassily Kandinsky: 1903; zit. nach Hollmann, Eckard. Der Blaue Reiter. Auf den Spuren der Künstlergruppe. Prestel. München. 2011. S. 47.
[24] Vgl. Göttler, Norbert. Der Blaue Reiter. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg. 2008. S. 83.
[25] Wassily Kandinsky: 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 92.
[26] Vgl. Orlandini, Marisa Volpi. Kandinsky und der Blaue Reiter. Galerie Schuler. Herrsching. 1988. S. 89.
[27] Während seiner Münchner Zeit widmete er sich außerdem sehr begeistert dem Klavierspiel.
[28] Wologda ist die Gebietshauptstadt von Oblast Wologda und befindet sich rund 500 km nordöstlich von Moskau.
[29] Rembrandt van Rijn gilt als einer der bedeutendsten niederländischen Künstler des Barocks, welcher vornehmlich unter seinem Vornamen einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat.
[30] Vgl. Orlandini. 1988. S. 89.
[31] 1893: Dissertation "Über die Gesetzmäßigkeit der Arbeiterlöhne".
[32] Da Kandinskys Großmutter mütterlicherseits aus Deutschland stammte, war er bereits als Kind mit der deutschen Sprache vertraut.
[33] In Jahr 1900 immatrikulierte sich auch Franz Marc an der Kunstakademie in München. Es dauert dennoch zehn Jahre bis sie sich kennlernen.
[34] Der Begriff Tempera stammt aus dem lateinischen und bedeutet „mäßig“ oder auch „mischen“. Als Temperafarben werden demnach Farben bezeichnet, deren Pigmente mit einem Bindemittel, welches sich aus einer Wasser-Öl-Emulsion zusammensetzt, gebunden werden.
[35] Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Holzschnitten.
[36] Deutsche Künstlergruppe von 1898 bis ca. 1936, bestehend aus Malern und Bildhauern aus Berlin.
[37] Drei Jahre später kehrt Kandinsky für kurze Zeit nach Odessa zurück. Danach führen ihn seine Wege über Rapallo, Sèvres, durch die Schweiz und nach Berlin.
[38] Darunter befanden sich verschiedene Aquarelle und drei Kompositionen.
[39] Eine detaillierte Beschreibung des Gemäldes bezüglich seiner Bedeutung und Gestalt folgt in Kapitel 3.2.1.
[40] Die Ausstellung fand bis zum 1. Januar 1912 statt.
[41] Aufgrund der bereits umfangreichen Darstellungen im vorangegangenen Kapitel wird an dieser Stelle in Kandinskys Biografie auf eine ausführliche Betrachtung dieses Ereignisses verzichtet.
[42] Kandinskys Werk Über das Geistige in der Kunst widme ich mich ausführlich in Kapitel 3.3.
[43] Die zweite Ausstellung bestand nur aus Schwarz-Weiß-Zeichnungen.
[44] Vgl. Orlandini. 1988. S. 90.
[45] Dort lehrt Kandinsky bis 1932.
[46] Im Bezug auf die Kunst.
[47] Wassily Kandinsky: 1913; zit. nach Kandinsky, Wassily. Rückblicke und Notizen von Kandinsky in „Kandinsky 1901-1913“. Verlag Der Sturm. Berlin. 1913. S. 31.
[48] Vgl. Orlandini. 1988. S. 12.
[49] Vgl. Orlandini. 1988. S. 12.
[50] Kunstströmung von ca. 1850 bis 1900. Analog zum Neutralismus wird der Begriff Realismus, vor allem aus heutiger Sicht, gleichbedeutend im Bereich Kunstgeschichte verwendet.
[51] Zit. nach Peccatori, Stefano; Zuffi, Stefano (Hrsg.). Wassily Kandinsky. DuMont. Köln. 1999. S. 42.
[52] Vgl. Ebd. S. 42.
[53] Vgl. Hahl-Koch. 1983. S. 42.
[54] Eine detaillierte Betrachtung dieser Werke ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Weitere Untersuchungen würden sich in Bezug auf eine kunsttheoretische Arbeit jedoch sehr anbieten.
[55] Die Sinneinheit „Form“ verwendet Kandinsky im Bezug auf ein Ausdrucksmittel in der Kunst.
[56] Vgl. Kandinsky, Wassily; Marc, Franz (Hrsg.). Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. R. Piper & Co. Verlag. München. 1965. S. 139.
[57] Kandinsky, Wassily; Marc, Franz (Hrsg.). 1965. S. 139.
[58] Wassily Kandinsky: 1912; zit. nach Kandinsky, Wassily; Marc, Franz (Hrsg.). 1965. S. 139.
[59] Das Konzert fand am 2. Januar 1911 in München statt. Aufgeführt wurden zwei Kompositionen. Streichquartett op. 10 von 1907/08 und 3 Klavierstücke op. 11 von 1909.
[60] Diesen Katalog hat Kandinsky selbst angelegt und seine Werke dort chronologisch aufgeführt (Archiv Nina Kandinsky, Paris.).
[61] Die Adresse von Schönberg hat Kandinsky der Recherche seiner Lebensgefährtin Gabriele Münter zu verdanken.
[62] Wassily Kandinsky: 1911; zit. nach Hahl-Koch. 1983. S. 19.
[63] Wassily Kandinsky: zit. nach ebd. S. 19.
[64] Zit. nach Hahl-Koch. 1983. S. 19.
[65] Zit. nach ebd. S. 19.
[66] Zit. nach ebd. S. 42.
[67] Zit. nach ebd. S. 42.
[68] Erschienen ist das Buch erst im Dezember 1911 und datiert auf 1912.
[69] Wassily Kandinsky: zit. nach Hahl-Koch. 1983. S. 42.
[70] Wassily Kandinsky: zit. nach ebd. S. 42.
[71] Datiert auf 1912.
[72] Marc besuchte das Konzert zusammen mit Kandinsky am 2. Januar 1911.
[73] Franz Marc: zit. nach Düchting. 2010. S. 42.
[74] Vgl. Ebd. S. 40f.
[75] Gabriele Münter-Stiftung.
[76] Schönberg bezieht sich auf Kandinskys Brief vom 16.11.1911, in dem er schreibt: „Schreiben Sie mir doch bitte auch, wie auf Sie meine Sachen in der »Neuen Secession« wirken werden.“ (Wassily Kandinsky: Brief an Arnold Schönberg, 16.11.1911; zit. nach Meyer, Christian; Muxeneder, Therese (Hrsg.). Arnold Schönberg. Catalogue raisonné. Eigenverlag der Arnold Schönberg Center Privatstiftung. Wien. 2005. S. 74.) Die Ausstellung, auf die sich Kandinsky bezieht, ist die bereits vierte und letzte erfolgreiche Ausstellung der „Neuen Secession“. Sie fand vom 18.11 1911 bis 31.01.1912 in Berlin statt und präsentierte insgesamt 38 Werke von Mitgliedern der „Neuen Künstlervereinigung München“.
[77] Arnold Schönberg: Brief an Wassily Kandinsky, 14.12.1911; zit. nach Hüneke. 1989. S. 196.
[78] Will Grohmann (1887-1968) war ein deutscher Kunsthistoriker und Kunstkritiker. Nachdem er in Leipzig und Paris Kunst- und Literaturgeschichte, sowie Philosophie und Orientalistik studiert hat, war er ab 1914 als Lehrer in Dresden tätig. Schon bald war Grohmann ein Teil des Dresdener Kulturlebens und suchte in diesem Zusammenhang vermehrt Kontakt zu jungen Malern der Künstlergruppe „Die Brücke“. Besonders widmete sich Grohmann jedoch den Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), welcher als Gründungsmitglied „Der Brücke“ einer besonderen Erwähnung verdient. Grohmanns 1924 erschienener Band über die Zeichnungen Kirchners zählen bis heute zu seinen berühmtesten Künstlermonografien. Doch auch der 21 Jahre ältere Wassily Kandinsky gehört zum Freundeskreis Grohmanns. Auch für ihn verfasst Grohmann eine Monografie. Des Weiteren setzt sich Grohmann stark für ein besseres Verständnis der neuen Kunst ein und sorgt maßgeblich für die Etablierung des deutschen Expressionismus in Frankreich. Seine Schriften fördern beinahe ausnahmslos die abstrakte Kunst in Deutschland. Als Grohmann im Jahre 1968 stirbt, wird in der Staatsgalerie Stuttgart ein Grohmann-Archiv eingerichtet.
[79] Wassily Kandinsky: Bemerkung zu Will Grohmann, um 1930; zit. nach Hahl-Koch. 1983. S. 44.
[80] Ob es sich bei dem beschriebenen Bildteil tatsächlich um eine Tanne handelt, ist natürlich rein subjektive. Ich möchte allerdings in den folgenden Betrachtungen davon ausgehen, dass es sich durchaus um eine Tanne handeln könnte.
[81] Abstraktion in Bezug auf die Kunst.
[82] Diese Entwicklung ist aber wiederum nur die Voraussetzung für den Zugang zu einer neuen abstrakten Phase. Bei Kandinsky handelt es sich dabei vorzugsweise um eine Phase rein geistigen Ursprungs.
[83] Vgl. Anderegg, Johannes; Härter, Andreas; Kunz, Edith Anna; Weidmann Heiner (Hrsg.). Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Vandenhoeck Ruprecht. Göttingen. 2003. S. 237.
[84] Zum Beispiel im Vergleich zu seinem Werk Komposition X von 1939 (siehe 7. Anhang. 7.1 Abbildungen. Abbildung 17).
[85] Wassily Kandinsky: Brief an Grohmann, vermutlich um 1931; zit. nach Grohmann, Will. Wassily Kandinsky. Friedenauer Presse. Berlin. 1966. S. 180f.
[86] Vgl. Anderegg. 2003. S. 240.
[87] Zit. nach Hober, Annegret; Friedel, Helmut (Hrsg.). Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. Prestel. 2004. Texte zu Tafel 38.
[88] Die Deutung der Landschaft im rechten Teil des Bildes ist natürlich Interpretationssache, ich möchte an dieser Stelle den Begriff Gebirge gebrauchen, da ich ihn für sehr naheliegend erachte.
[89] Der Aufbruch von 1922.
[90] Raabe, Paul (Hrsg.). Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. S. Fischer Verlag. Frankfurt a.M. 1970. S. 320.
[91] In der Einleitung.
[92] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 21.
[93] Siehe Kapitel 3.2.
[94] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 17.
[95] Vgl. Göttler. 2008. S. 73.
[96] Wie bereits erwähnt ist es jedoch auf 1912 datiert.
[97] Wassily Kandinsky: Widmung in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst, 09.12.1911; zit. nach Meyer; Muxeneder. 2005. S. 75.
[98] Arnold Schönberg: Widmung an Wassily Kandinsky, 12.12.1911; zit. nach Hollein, Max; Perica, Blaženka, (Hrsg.). Die Visionen des Arnold Schönberg: Jahre der Malerei. Hatje Cantz. Schirn Kunsthalle Frankfurt. 2002. S. 182.
[99] Ein erster Auszug der Harmonielehre wurde jedoch bereits 1910 in der Zeitschrift Musik veröffentlicht.
[100] Karin von Maur: In Ihrem Aufsatz „Arnold Schönberg oder die Vereinigung von Musik und Malerei“, 2002; zit. nach Hollein; Perica. 2002. S. 33.
[101] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 108f.
[102] Vgl. Kandinsky. 1952. S. 12.
[103] Wie bereits durch sein Bild Romantische Landschaft deutlich geworden ist.
[104] Dabei handelt es sich um den III. Abschnitt seiner Schrift.
[105] Wassily Kandinsky: zit. nach Hüneke. 1989. S.333.
[106] Wasily Kandinsky: zit. nach ebd. S.334.
[107] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 48f.
[108] Ebd. S. 62ff.
[109] Vgl. Jens, Walter. Kindlers Neues Literaturlexikon. Kindler Verlag. München. 1996.
[110] Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911; zit. nach Kandinsky. 1952. S. 43.
[111] Zit. nach Kandinsky. 1952. S. 6.
[112] Lange Zeit gingen die Kunsthistoriker davon aus, dass das erste abstrakte Gemälde Kandinskys im Jahre 1913 entstanden sei. Später beschloss man jedoch die Vordatierung des „Ersten abstrakten Aquarells" von 1913 auf 1910. Diese Entscheidung scheint bisweilen die richtige gewesen zu sein, da sie bis heute nie wieder angezweifelt wurde.
[113] Arnold Schönberg: Brief an Wassily Kandinsky, 11.11.1911; zit. nach Hüneke. 1989. S. 89.
[114] Wassily Kandinsky: Brief an Arnold Schönberg, 22.08.1912; zit. nach Hüneke. 1989. S. 151.
[115] Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
[116] Vgl. Freitag, Eberhard. Arnold Schönberg. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg. 1973. S. 7.
[117] Alexander von Zemlinsky (1871-1942) war ein österreichischer Komponist und Dirigent. Auch wenn der Name Zemlinsky heute eher zu einem der unbekannteren gehört, ist darauf hinzuweisen, dass Zemlinsky seinerzeit eine bedeutende und wichtige Persönlichkeit im europäischen Musikleben darstellte. Seine Kompositionen haben die Musikgeschichte zwar nicht nachhaltig verändert oder maßgeblich beeinflusst, doch spiegelt sich die stürmische Zeit zwischen 1890 und 1940 so stark in ihnen wider, dass sie bis heute ein historisch wertvolles Abbild der damaligen Entwicklung repräsentieren. Wie auch Arnold Schönberg wirkte Zemlinsky hauptsächlich in einer Zeit des stilistischen Umbruchs, diesbezüglich ist es sehr beeindruckend, dass er dennoch seinen eigenen und unverwechselbaren musikalischen Ausdruck in der Musik gefunden und somit jede seiner Kompositionen mit einer persönlichen Nuance versehen hat. Folglich lässt sich in seinen Werken die, womöglich aufregendste Kunstepoche Europas, deutlich wieder erkennen.
[118] Bericht Zemlinskys: Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag am 13. September 1934. Wien. 1934. S. 33f.
[119] Alexander von Zemlinsky: In „Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag am 13. September 1934“, zit. nach Freitag. 1973. S. 10.
[120] Das Verhältnis zum Text ist ein wichtiger Aufsatz Schönbergs über die frühe Ästhetik. Des Weiteren erscheint der Aufsatz 1912 im Almanach „Der Blaue Reiter“. In Kapitel 5.1 wird der Aufsatz Das Verhältnis zum Text von Schönberg gesondert betrachtet.
[121] Arnold Schönberg: Das Verhältnis zum Text, 1912; zit. nach Kandinsky; Marc. 1965. S. 66.
[122] „Buntes Theater“ oder auch „Überbrettl“ unter der Leitung von Ernst von Wolzogen (1855-1934).
[123] Der „Verein der schaffenden Tonkünstler“ besteht nur während der Saison 1904/1905.
[124] Der Begriff „Zweite Wiener Schule“ bezeichnet aus heutiger Sicht vornehmlich den Komponistenkreis, welcher sich um Arnold Schönberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien entwickelt hat. Weitere wichtige Komponisten, die der „Zweiten Wiener Schule“ zuzuordnen sind, sind die Schönbergschüler Alban Berg und Anton Webern. Der Wirkungskreis um Schönberg gilt bis heute als einer der wichtigsten Ausprägungen hinsichtlich der Entwicklung der Neuen Musik in den darauf folgenden Jahren. Die „Zweite Wiener Schule“ zerbricht nur kurze Zeit später, nachdem Schönberg aufgrund der Kriegsauswirkungen in den dreißiger Jahren aus Europa fliehen muss.
[125] In Kapitel 4.2 wird das Zweite Streichquartett op. 10 gesondert behandelt.
[126] Schönbergs Harmonielehre erscheint im Jahr 1911 und vermittelt strenge Verfahren zur Kompositionsanalyse sowie die korrekte Darstellung musikalischer Formmittel.
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- Anja Göbel (Author), 2012, Der Blaue Reiter - Schönberg und Kandinsky im Wandel der Zeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210222
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