Die Europäische Union (EU) ist ein Gebilde sui generis. Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Unbestimmtheit der EU an und widmet sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen der EU als einer Union der Staaten und als einer Union der Bürger. Dieses Verhältnis soll anhand der Thematik eines etwaigen EU-Beitritts der Türkei untersucht werden. Die Arbeit gliedert sich dazu in drei Teile, denen jeweils eine bestimmte Leitfrage übergeordnet ist.
In dem ersten Teil wird zunächst geprüft, ob der noch laufende Prozess des EU-Beitritts der Türkei einen geeigneten Testfall hinsichtlich der Untersuchung dieses Verhältnisses darstellt. Dafür wird im ersten Punkt die europäische Integration im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und Bürgern einführend dargestellt. Nachdem im zweiten Punkt die theoretische Grundlage, in Form einer Bestimmung der Begriffe Union der Staaten und Union der Bürger, für eine solche Untersuchung gelegt ist, wird der Erweiterungsprozess der EU und seine vertraglich festgelegte Ausgestaltung näher beleuchtet. Anschließend soll der Weg der Türkei in die EU behandelt werden, wodurch ein gewisser Kontrast zwischen dem Erweiterungsprozess im Allgemeinen und dem EU-Beitritt der Türkei im Speziellen entsteht und die Frage nach der Geeignetheit als Testfall beantwortet werden kann.
Im zweiten Teil, dem Hauptteil der Arbeit, wird der Frage nachgegangen, welche Aussagen dieser Testfall über das Verhältnis ermöglicht. Dazu wird in einem ersten Schritt der aktuelle Forschungsstand zur politischen Auseinandersetzung vorgestellt und beleuchtet. Die Forschungsergebnisse werden daraufhin für die hier vorliegende Fragestellung weiter verwertet, indem sie die Grundlage einer Kategorisierung und Idealtypenbildung bilden, mittels derer der Untersuchungsgegenstand operationalisiert wird.
Der dritte Teil der Arbeit widmet sich letztlich der Frage wie dieses Verhältnis wissenschaftlich einzuordnen ist. Dazu wird zunächst auf die Bedeutung der politischen Entscheidung für das Verhältnis eingegangen, bevor das Verhältnis schließlich in einen größeren Zusammenhang gesetzt wird. Davon ausgehend werden in der Schlussbetrachtung die Ergebnisse nochmals kurz skizziert, weiterführende Forschungsansätze vorgestellt und ein Ausblick hinsichtlich der politischen Entwicklung gegeben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Ist der EU-Beitritt der Türkei ein Testfall für das Verhältnis zwischen einer Union der Staaten und einer Union der Bürger?
1. Die europäische Integration und das Verhältnis zwischen EU, Mitgliedstaat und Bürger
2. Die Union der Staaten und die Union der Bürger – eine Begriffsbestimmung
3. Die Kopenhagener Kriterien und der Erweiterungsprozess der EU
4. Der Weg der Türkei in die EU
II. Wie stellt sich das Verhältnis zwischen einer Union der Staaten und einer Union der Bürger anhand des EU-Beitritts der Türkei als Testfall dar?
5. Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei
5.1 Der aktuelle Forschungsstand hinsichtlich der Analyse der Türkei-Debatte
5.2 Eine Kategorisierung der Türkei-Debatte
6. Die Türkei-Debatte vor dem Hintergrund der jeweiligen Idealtypen
6.1 „Die EU als föderaler Bundesstaat mit einer exklusiven Identität“
6.2 „Die EU als föderaler Bundesstaat mit einer inklusiven Identität“
6.3 „Die EU als intergouvernementaler Staatenbund mit einer inklusiven Identität“
6.4 „Die EU als intergouvernementaler Staatenbund mit einer exklusiven Identität“
7. Ein Zwischenfazit
III. Wie ist das Verhältnis einzuordnen?
8. Die politische Entscheidung
9. Das Spannungsverhältnis als Ausdruck des Integrationsgrades
10. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Europäische Union (EU) stellt heute nach mehrheitlicher Meinung ein Gebilde sui generis dar. Der Begriff sui generis ist dabei Ausdruck der Schwierigkeiten, die EU mit staats-, völkerrechtlichen oder politikwissenschaftlichen Kategorien zu erfassen. Diese Charakterisierung ist dem Umstand geschuldet, dass sich die EU in ihrem strukturellen Aufbau, in ihren Verfahrensweisen und in ihren Kompetenzen einerseits grundlegend von zwischenstaatlichen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der NATO unterscheidet, andererseits aber trotz ihrer demokratischen Strukturen auch nicht mit einem Nationalstaat gleichzustellen ist. Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Unbestimmtheit der EU an und widmet sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen der EU als einer Union der Staaten und als einer Union der Bürger. Dieses Verhältnis soll anhand der Thematik eines etwaigen EU-Beitritts der Türkei untersucht werden. Die Arbeit gliedert sich dazu in drei Teile, denen jeweils eine bestimmte Leitfrage übergeordnet ist. In dem ersten Teil wird zunächst geprüft, ob der noch laufende Prozess des EU-Beitritts der Türkei einen geeigneten Testfall hinsichtlich der Untersuchung dieses Verhältnisses darstellt. Dafür wird im ersten Punkt die europäische Integration im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und Bürgern einführend dargestellt. Nachdem im zweiten Punkt die theoretische Grundlage, in Form einer Bestimmung der Begriffe Union der Staaten und Union der Bürger, für eine solche Untersuchung gelegt ist, wird der Erweiterungsprozess der EU und seine vertraglich festgelegte Ausgestaltung näher beleuchtet. Anschließend soll der Weg der Türkei in die EU behandelt werden, wodurch ein gewisser Kontrast zwischen dem Erweiterungsprozess im Allgemeinen und dem EU-Beitritt der Türkei im Speziellen entsteht und die Frage nach der Geeignetheit als Testfall beantwortet werden kann. Es wird deutlich, dass der politischen Auseinandersetzung für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen der EU als Staatenunion und als Bürgerunion eine besondere Bedeutung zukommt.
Im zweiten Teil, dem Hauptteil der Arbeit, wird der Frage nachgegangen, welche Aussagen dieser Testfall über das Verhältnis ermöglicht. Dazu wird in einem ersten Schritt der aktuelle Forschungsstand zur politischen Auseinandersetzung vorgestellt und beleuchtet. Die Forschungsergebnisse werden daraufhin für die hier vorliegende Fragestellung weiter verwertet, indem sie die Grundlage einer Kategorisierung und Idealtypenbildung bilden, mittels derer der Untersuchungsgegenstand operationalisiert wird. Nach einer ausgiebigen Analyse der politischen Auseinandersetzung werden die zentralen Erkenntnisse in einem Zwischenfazit festgehalten.
Der dritte Teil der Arbeit widmet sich letztlich der Frage wie dieses Verhältnis wissenschaftlich einzuordnen ist. Dazu wird zunächst auf die Bedeutung der politischen Entscheidung für das Verhältnis eingegangen, bevor das Verhältnis schließlich in einen größeren Zusammenhang gesetzt wird. Davon ausgehend werden in der Schlussbetrachtung die Ergebnisse nochmals kurz skizziert, weiterführende Forschungsansätze vorgestellt und ein Ausblick hinsichtlich der politischen Entwicklung gegeben.
Als besonders hilfreiche Literaturgrundlage erwiesen sich hier vor allem die Publikationen des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI). Eine Vielzahl von Wissenschaftlern betreiben unter dem Dach dieses Instituts eine vielseitige und breit aufgestellte Forschung, welche bei der Bearbeitung eines europapolitischen Themas in jedem Fall Beachtung finden sollte.
I. Ist der EU-Beitritt der Türkei ein Testfall für das Verhältnis zwischen einer Union der Staaten und einer Union der Bürger?
1. Die europäische Integration und das Verhältnis zwischen EU, Mitgliedstaaten und Bürgern
Die europäische Integrationsgeschichte nahm ihre Anfänge bereits im späten 18. Jahrhundert, doch bedurfte es weiterer eineinhalb Jahrhunderte bis die ersten substanziellen Grundsteine der EU gelegt wurden.[1] Gezeichnet von zwei Weltkriegen entstanden in den westeuropäischen Ländern verschiedene Bewegungen, die die Idee einer europäischen Einigung konkretisierten und verbreiteten. Dabei wurden die unterschiedlichsten Konzepte einer solchen Einigung entwickelt, welche von einer primär zwischenstaatlichen Kooperation bis hin zu einer europäischen politischen Einheit reichten. Ihnen allen gemeinsam war der Wunsch nach einem dauerhaften Frieden in Europa. Anfang der 1950er Jahre schaffte die Idee einer europäischen Einigung schließlich Eingang in die Realpolitik. Vorangetrieben von dem französischen Politiker Robert Schuman entschlossen sich Frankreich, Deutschland, Italien und die drei Beneluxstaaten durch eine wirtschaftliche Verflechtung zukünftige militärische Konflikte zu verhindern. Die europäische Integration galt daher lange Zeit in erster Linie als ein zwischenstaatliches Friedensprojekt, welches mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erste Formen annahm. In den Gründungsstaaten wurde jedoch schon bald das Potenzial einer solchen Kooperationsform erkannt und ambitioniertere Ziele aufgrund unterschiedlicher Motivationen anvisiert. Nach den gescheiterten Versuchen einer politischen und militärischen Integration konzentrierte man sich in erster Linie auf die ökonomische Integration (vgl. Thiemeyer 2010: 71ff). Schon Ende der 1950er Jahre gründeten die genannten Staaten die Europäische Atomgemeinschaft und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), mittels derer ein gemeinsamer Markt und damit die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten gefördert werden sollte (vgl. Weidenfeld 2010: 61-66). In der Präambel des EWG-Vertrages vom 25. März 1957 bekundeten die sechs Mitgliedstaaten jedoch bereits ihren Willen mit der EWG „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“ (Präambel EWG-Vertrag). Die EWG entpuppte sich schnell als ein erfolgreicher Integrationsmotor, der durch „spill-over-Effekte“[2] die Übertragung weiterer Politikbereiche auf die Gemeinschaftsebene vorantrieb. Mit der supranationalen Kommission als Exekutivgewalt, dem intergouvernementalen Ministerrat als Legislativgewalt und einem relativ schwachen Europäischen Parlament (EP), welches zu Beginn eher eine Art Diskussionsforum darstellte, entwickelte sich die Gemeinschaft zu einem Erfolgsmodell, welches nach außen stetig an Attraktivität gewann. Die Innenwirkung war vorerst marginal, schließlich beschränkte sich die europäische Politik zunächst auf wirtschaftliche Politikbereiche und war vor allem auf die Binnenmarktintegration beziehungsweise den Abbau von Handelsbeschränkungen ausgerichtet. Die europäische Integration wurde länderübergreifend als ein Projekt gedeutet, das allen Beteiligten wirtschaftliche Vorteile verschaffe und deswegen kaum öffentlicher Kontrolle unterliegen müsse (vgl. Weidenfeld 2010: 68-80). Der ausgeprägte Ausbau des Wohlfahrtstaates sowie der medial und politisch vermittelte wirtschaftliche Mehrwert aufgrund einer Mitgliedschaft erzeugten seitens der Bürger eine stillschweigende Zustimmung (vgl. Thalmaier 2006: 6). So schritt die europäische Integration stetig voran. Probleme, die zuvor noch auf nationaler Ebene gelöst wurden, erforderten im Zuge von sozialem, ökonomischem und ökologischem Wandel mehr und mehr europaweite Lösungsansätze. Zur Kontrolle von Externalitäten, aber auch zur Wiedererlangung teilweise durch fortschreitende Globalisierungs- und Denationalisierungsprozesse verlorener Steuerungskapazitäten, wurden immer mehr zentrale Politikfelder auf die europäische Ebene verlagert. Um in einer stetig wachsenden europäischen Gemeinschaft ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit zu erhalten, wurde in den intergouvernemental organisierten Gemeinschaftsorganen Schritt für Schritt von dem Einstimmigkeitsprinzip abgerückt und qualifizierte Mehrheits-entscheidungen eingeführt. Die Schaffung demokratischer Strukturen, die den Bürgern einen angemessenen Einfluss auf die Gestaltung europäischer Politik ermöglichen, blieb indessen hinter dieser Entwicklung zurück (vgl. Thiemeyer 2010: 146-178). Doch spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wird der Wandel von europäischer Staatlichkeit hin zu vielschichtigen Regierungssystemen jenseits des Nationalstaates aus demokratietheoretischer Perspektive zunehmend als problematisch angesehen. Es besteht die Sorge, dass hinter der supranational vollzogenen ökonomischen Integration die nationalstaatlich verfassten demokratischen Prozesse zurückbleiben könnten. Um die mit dem Vertrag von Maastricht geschaffene EU stärker zu demokratisieren und damit zu legitimieren, wurden die Mitwirkungs- und Mitgestaltungsrechte der einzigen direkt gewählten EU-Institution -des EP- stetig ausgebaut (vgl. Weidenfeld 2010: 80-84, 109-116, Kohler-Koch; Conzelmann; Knodt 2004: 195-199). Der direkte Einfluss der EU-Politik auf das Leben der Bürger wird spätestens seit der Schaffung des Schengenraums[3] und der Einführung des Euro im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion für die Menschen immer offensichtlicher. Dabei wird dieser Einfluss nicht unkritisch gesehen, doch beschränkt sich ihre Partizipation weitestgehend auf den öffentlichen Diskurs innerhalb der Nationalstaaten, der meist von einer negativen Berichterstattung ausgelöst wird, während die Wahlbeteiligung zum EP eine rückläufige Tendenz aufweist. Zunehmend wird erkannt, dass es einer stärkeren Einbindung der Bürger bedarf um das Integrationsprojekt zu legitimieren und ein Abwenden ihrerseits zu verhindern. Die Proteste und die gescheiterten Referenden über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im Mai und Juni 2005 ließen die Problematik des Akzeptanz- und Legitimationsdefizits einer EU als Elitenprojekt nur allzu deutlich werden (vgl. Oppelland 2010: 81-83, Weidenfeld 2010: 88-94, 112f).
Seit dem Vertrag von Lissabon handelt es sich bei der auf 27 Staaten angewachsenen EU um einen supranationalen Herrschaftsverband mit der Europäischen Kommission als oberster Verwaltungsbehörde, dem Rat der EU (Rat) und dem EP als gemeinsamer Legislative.[4] Durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem der Subsidiarität, ist das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union insofern klargestellt, als dass der Union keine Kompetenz-Kompetenz zukommt. Sie verfügt nur über begrenzte, von den Mitgliedstaaten übertragene Kompetenzen, deren Ausübung wiederum unter der Kontrolle der Mitgliedstaaten steht. Mit der erheblichen Aufwertung des Europäischen Rates (ER) im Lissabon-Vertrag, erhält das zentrale intergouvernementale Beratungsorgan, in dem die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, eine Reihe wichtiger institutioneller Befugnisse, die ihm eine Art Führungsfunktion verleihen. Die mit dieser Aufwertung einhergehende Betonung der Staatenkompetenz stellte in gewisser Hinsicht den Preis für den weiteren Ausbau demokratischer Strukturen dar (vgl. Höreth 2010: 184-186, Langenfeld 2008: 14f). Es ist also nicht die Union, sondern die Mitgliedstaaten, die die Herren der Verträge sind. Sie haben der EU in Gestalt der Gesamtheit ihrer Mitgliedstaaten und in der Gesamtheit der EU-Bürger - die jeweils im Rat sowie im Europäischen Parlament vertreten sind - zwei kollektive Souveräne verliehen und so der Union eine doppelte Legitimationsbasis beschafft (vgl. Drescher 2010: 61f, Wagner 2010: 135). Folgt man dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, handelt es sich bei der EU um einen Staatenverbund. Damit wird ausgedrückt, dass die EU in den Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten über kein Vetorecht mehr verfügen, weit über einen Staatenbund hinausgeht. Aufgrund der zahlreichen Bereiche, in denen es lediglich zwischenstaatliche kooperative Strukturen gibt, jedoch auch keinen Bundesstaat darstellt (vgl. Oppelland 2010: 79f). Der Begriff, beschreibt eine „auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker (…) der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“ (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009). Es wird also deutlich, dass die beiden Legitimationsbasen, Mitgliedstaaten und Bürger, nicht gleich ausgeprägt sind. Zwar sind die Bürger die Subjekte der demokratischen Legitimation, diese vollzieht sich jedoch in erster Linie indirekt über die Mitgliedstaaten. In Anbetracht der Politikfelder, an deren Mitwirkung das EP nicht voll beteiligt wird, sowie den bestehenden Demokratiedefiziten, bleibt die direkte Legitimation über das EP hinter der indirekten über die Mitgliedstaaten zurück.[5]
2. Union der Staaten und Union der Bürger – eine Begriffsbestimmung
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer Union der Staaten und einer Union der Bürger setzt eine genauere Begriffsbestimmung dieser beiden Unionen voraus. Die beiden Begriffe werden hier in erster Linie hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf die Entscheidungsgewalt wie auch hinsichtlich ihrer Legitimationsquellen unterschieden. Vor dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses soll der Begriff Union der Staaten an dem ursprünglichen Wesensgehalt der europäischen Gemeinschaft, welche ursprünglich ein zwischenstaatliches Friedensprojekt darstellte, anknüpfen. In diesem Sinne handelt es sich um eine Union, die auf dem Zusammenwirken souveräner Staaten, repräsentiert durch die jeweiligen Regierungen, basiert und sich auch über diese legitimiert. Die intergouvernementale Dimension steht hier im Vordergrund. Jegliche Entscheidungen auf europäischer Ebene müssen im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten getroffen werden. Ist dies nicht der Fall, so hat jeder Mitgliedstaat das Recht nationale Interessen geltend zu machen. In diesem Fall kann er die Entscheidung entweder mit einem Veto blockieren oder sich mittels der konstruktiven Enthaltung der Betroffenheit entziehen. Auf der Grundlage des Lissabon-Vertrages ist der EU der Charakter als eine Union der Staaten immer noch weitgehend immanent (vgl. Höreth 2010: 177-193). Wenn im Folgenden von der Union der Staaten gesprochen wird, so wird die EU in ihrer intergouvernementalen Dimension gemeint.
Der Begriff Union der Bürger wird dem der Union der Staaten gegenübergestellt. Er knüpft an den bereits in der Präambel des EWG-Vertrages bekundeten Willen der Staats- und Regierungschefs, einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu fördern, an (vgl. Präambel EWG-Vertrag). Inklusive dem Lissabon-Vertrag zielten im Laufe der europäischen Integration verschiedene gemeinschaftspolitische Maßnahmen auf die Stärkung der Identifikation der Bürger mit dem europäischen Integrationsprojekt ab. So wurde neben unterschiedlichen Symbolen, wie Fahne und Hymne[6], auch die Unionsbürgerschaft eingeführt, welche die nationale Staatsbürgerschaft zwar nicht ersetzen soll, dieser jedoch zur Seite gestellt wird. Mit der Unionsbürgerschaft sind weitreichende Rechte verbunden. Zu diesen zählen das Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU, das Recht auf diplomatischen und konsultarischen Schutz, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei den Wahlen zum EP, das Petitionsrecht sowie schließlich die Grundrechte, die in der Charta der Grundrechte der EU niedergeschrieben sind. Es zeichnen sich schließlich Bestrebungen ab, analog zur stärkeren Demokratisierung der EU, welche letztlich in der stetigen Stärkung des EP im Institutionengefüge Ausdruck findet, einen dafür notwendigen europäischen Demos zu schaffen (vgl. Nielsen-Sikora 2008: 3-8, Wiesner 2007: 66ff). Der Begriff Union der Bürger baut auf diese Entwicklung auf, führt sie weiter und weist schließlich gewisse Analogien zu parlamentarischen Demokratiesystemen einiger Nationalstaaten, wie zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, auf. In diesen und so auch in einer Union der Bürger wird die Volkssouveränität als grundlegendes Prinzip der Legitimation demokratisch politischer Herrschaft über allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen und Abstimmungen sicher gestellt. Das direkt gewählte Parlament, welches das Volk repräsentiert, stellt die oberste Instanz der Legislative dar, gegenüber welcher die Regierung verantwortlich ist. Dieses System wird durch die Möglichkeit der Abstimmung, zum Beispiel in Form eines Volksentscheids, ergänzt, wodurch die Entscheidungsgewalt auf das Volk zurückverlagert und ein Höchstmaß an Legitimation angestrebt wird. Der Einsatz solcher direktdemokratischer Elemente ist wiederum nicht unumstritten. Die Frage nach einem erhöhten Demokratiegehalt durch direkt-demokratische Elemente ist schließlich elementarer Bestandteil einer seit langem anhaltenden Demokratiediskussion, welche auch in den nationalen Kontexten geführt wird.[7] Ein Einstieg in die Demokratiediskussion kann jedoch aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit an dieser Stelle nicht geleistet werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sich nicht nur die politischen Systeme der Mitgliedstaaten untereinander hinsichtlich der Existenz direktdemokratischer Elemente unterscheiden, sondern in dieser Hinsicht auch Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und der EU bestehen. Das mit dem Lissabon-Vertrag eingeführte Bürgerbegehren auf EU-Ebene stellt in diesem Zusammenhang ein direktdemokratisches Element dar, dass es in dieser Form zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland auf Bundesebene nicht gibt (vgl. Sonnicksen 2010a: 149). Ohne auf die Frage einzugehen, wann und in welchem Ausmaß direktdemokratische Elemente zum Einsatz kommen sollten, muss die Definition des Begriffs Union der Bürger in Bezug auf die systemische Ausgestaltung folglich relativ unkonkret bleiben. Da hier die Unterscheidung zwischen einer Union der Staaten und einer Union der Bürger in erster Linie anhand der Verortung der Entscheidungsgewalt wie auch hinsichtlich ihrer Legitimationsquellen unterschieden werden, soll eine Union der Bürger in dieser Arbeit mit einem demokratischen System assoziiert werden, welches die Bürger maximal einbezieht, die Entscheidungsgewalt grundsätzlich bei dem direkt gewählten Parlament verortet und sie bei schwerwiegenden Fragen auf die Bürger zurückverlagert und somit schließlich ein Höchstmaß an Legitimation erhält (vgl. Nielsen-Sikora 2008: 7f). Der Begriff beinhaltet indessen auch die Existenz eines für eine solche Demokratie notwendigen Demos, welcher jedoch weitaus mehr als eine Konzeption einer Unionsbürgerschaft, wie sie oben ausgeführt wurde, beinhaltet. Als grundlegende Charakteristika eines solchen Demos werden auch die Existenz einer gemeinsamen Identität sowie einer europäischen Öffentlichkeit, innerhalb derer die Konstitution integrierter Selbstverständigungsdiskurse ein wesentliches Merkmal öffentlicher Kommunikation darstellen und entscheidend zur Legitimation der politischen Gemeinschaft beitragen, genannt (vgl. Wiesner 2007: 15-20). Seit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU in ihrer Eigenschaft als eine Union der Bürger stetig weiter ausgebaut und erreichte mit dem Lissabon-Vertrag einen Entwicklungsstand, der durchaus zulässt die EU heute ansatzweise auch als eine Union der Bürger zu charakterisieren. Wenn im Folgenden von einer Union der Bürger gesprochen wird, so ist damit der gegenwärtige Entwicklungsstand der EU in dieser Dimension gemeint sowie das damit verbundene Entwicklungsziel.
[...]
[1] Eine dezidierte Darstellung des historischen Integrationsprozesses über fast drei Jahrhunderte hinweg bietet Peter Krüger (2006).
[2] Dieser Begriff wird vor allem von Anhängern der neofunktionalistischen Integrationstheorie verwendet. Ihnen zufolge kann die Überführung bestimmter Politikbereiche auf die Unionsebene dazu führen, dass auch in anderen Bereichen sich eine Überführung anbietet oder gar notwendig wird (vgl. Rosamond 2000: 50-60).
[3] Der Schengen-Raum und die entsprechende Zusammenarbeit stützen sich auf das Schengener Abkommen von 1985. Der Schengen-Raum stellt ein Gebiet dar, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Die Unterzeichnerstaaten des Abkommens haben alle Binnengrenzen zugunsten einer einzigen Außengrenze abgeschafft. Um die Sicherheit innerhalb des Schengen-Raums zu gewährleisten wurden gleichzeitig die Zusammenarbeit und die Koordinierung zwischen den Polizeidiensten und den Justizbehörden verstärkt. Die Zusammenarbeit im Schengen-Raum wurde durch den Vertrag von Amsterdam von 1997 in den Rechtsrahmen der EU einbezogen. Allerdings gehören nicht alle Staaten, die sich an der Schengen-Zusammenarbeit beteiligen, dem Schengen-Raum an (vgl. Weidenfeld 2010: 171-176).
[4] Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das ordentliche Gesetzgebungsverfahren eingeführt, innerhalb dessen das EP als gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat steht. Doch gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nicht für alle Politikbereiche. So bestehen weiterhin Bereiche in denen das EP nur eingeschränkt beteiligt wird (vgl. Höreth 2010: 194-197). Für eine umfassende Darstellung der Ergebnisse des Lissaboner-Vertrages siehe Marchetti; Demesmay (2010).
[5] Aus demokratietheoretischer Perspektive ist eines der Hauptdefizite die Nichtverwirklichung des demokratischen Gleichheitsgrundsatzes. Aufgrund dessen, dass sich die Größe der mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente im EP nicht proportional an der Bevölkerungsgröße orientieren, sind kleine Mitgliedstaaten verhältnismäßig überrepräsentiert, während große Mitgliedstaaten unterrepräsentiert sind. In diesem Zusammenhang lässt sich die Funktion des EP, die europäischen Bürger zu repräsentieren, durchaus anzweifeln (vgl. Höreth 2010: 196). Für eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Demokratiegehalt der EU siehe Jared Sonnicksen (2010a).
[6] Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden, wurden staatsähnliche Symbole wie Fahne und Hymne zwar wieder aus den Verträgen gestrichen, doch de facto als solche weiter genutzt.
[7] Einen umfassenden Einblick in die derartige Demokratiediskussion bietet Günther Rüther (1996).
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- Benjamin Spörer (Author), 2011, Die EU – Vom Elitenprojekt zum Bürgerprojekt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209419
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