In dieser Arbeit geht es um die Frage nach den Bedingungen charismatischer Führungstheorien und deren mögliche Messung in simulationsorientierten Verfahren der Eignungsdiagnostik am Beispiel des Assessment Centers. In einem ersten Schritt soll Webers Ansatz charismatischer Herrschaft dargestellt werden, um darauf aufbauend die drei einflussreichsten Theorien charismatischer bzw. transformationaler Führung (Shamir & House, Conger und Kanungo, Bass und Kollegen) ausführlich zu erläutern und zu diskutieren. Kapitel 4 gibt einen ausführlichen Überblick zu Studien über die verschiedenen Kontextbedingungen, die für das Konzept charismatischer Führung von Bedeutung sind, darunter u.a. Kultur, Organisationale Faktoren und die Bedeutung der Geführten. Im folgenden Kapitel 5 werden bereits vorhandene Messinstrumente für das Phänomen transformationaler Führung vorgestellt. Der nachfolgende Teil der Arbeit widmet sich simulationsorientierten Verfahren psychologischer Eignungsdiagnostik am Bsp. von Assessment Centern. Dabei soll erörtert werden, unter welchen Bedingungen charismatische/transformationale Führung mit realitätsnahen Simulationen der Personalauswahl messbar gemacht werden kann. Was am AC eine Identifizierung charismatischer Führungskräfte möglich oder unmöglich macht bzw. diese hemmt? Wie die im vorhergehenden Kapitel erläuterten Kontextfaktoren charismatischer Führung die Auswahl beeinflussen und was daraus für das AC abgeleitet werden kann? Aus den bisher gewonnen Erkenntnissen sollen dann in einem abschließenden Kapitel folgende Fragestellungen eine Beantwortung finden: Wo sind charismatische Führungskräfte geeignet?, Wie sinnvoll ist es eine genuin charismatische Führungskraft auszuwählen bzw. in welchen Unternehmen wird diese gebraucht? und Kann das AC ein weiteres Instrument darstellen, um transformationale Führer auszuwählen und welche Bedingungen müssen vorliegen?
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Charisma
2.1 Charismabegriff
2.2 Charisma bei Max Weber
3 Neocharismatische Führungstheorien
3.1 Die Selbstkonzepttheorie charismatischer Führung von House und Shamir
3.1.1 Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale charismatischer Führungskräfte
3.1.2 Effekte auf das Selbstkonzept der Geführten
3.2 Die Attributionstheorie charismatischer Führung von Conger und Kanungo
3.2.1 Phasenmodell charismatischer Führung
3.2.2 Der Prozess der Einflussnahme durch charismatische Führung
3.2.3 Eigenschaften und Verhalten charismatischer Führer
3.3 Der Ansatz des „Full Range of Leadership“ nach Bass und Kollegen
3.3.1 Transformationale Führung
3.3.2 Transaktionale Führung
3.3.3 Passive Führung
3.4 Zusammenfassung
4 Kontextbedingungen neocharismatischer Führung
4.1 Krisen und Veränderungen
4.2 Kulturelle Bedingungen
4.3 Organisationale Faktoren
4.3.1 Struktur der Organisation
4.3.2 Unternehmensbereich der Organisation
4.4 Die Bedeutung der Mitarbeiter
4.4.1 Implizite Führungstheorien
4.4.2 Merkmale der Mitarbeiter
4.4.3 Bedürfnis nach Führung als Moderator
4.5 Zusammenfassung
5 Kritik an den Theorien neocharismatischer Führung
6 Vorhandene Instrumente zur Erfassung neocharismatischer Führung
6.1 Multifactor Leadership Questionnaire
6.2 Conger-Kanungo-Scale of Charismatic Leadership
6.3 Vergleich der Instrumente
7 Assessment Center zur Erfassung neocharismatischer Führung
7.1 Aufbau von Assessment Centern
7.1.1 Simulationsprinzip
7.1.2 Anforderungsprinzip
7.1.3 Prinzip der Methodenvielfalt
7.1.4 Prinzip der Mehrfachbeobachtung
7.1.5 Prinzip der Transparenz
7.2 Assessment Center zur Auswahl charismatischer Führungspersonen
7.2.1 Anforderungen
7.2.2 Simulationen/Übungen
7.2.3 Beobachtungsprozess
8 Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG
1 Einleitung
„Noch heute ist er für seine spektakulären Keynotes bekannt, noch heute betritt er die Bühne jeweils gekleidet mit verwaschenen Jeans und Rollkragenpullover. Auch seine Prioritäten und Charakterzüge haben sich nicht verändert. Seine Mitarbeiter bezeichnen ihn als ungeduldig, starrsinnig, eingebildet, selbstherrlich und exzentrisch. Doch gepaart mit seinem Ehrgeiz, seiner Willenskraft und dem Charisma, welches er an den Tag legt, ergibt sich ein Charakterbild, dessen Bann sich kaum jemand entziehen kann. Steve hat immer Recht und Steve bekommt immer, was er will. Zwei Eigenschaften, die in der Geschäftswelt von unschätzbarem Wert sind.“ (Macprime). Dieses Zitat bezieht sich auf den Apple-CEO Steve Jobs, dem in der Presse immer wieder nachgesagt wird, eine charismatische Führungsperson zu sein. Doch wie kommen die Medien zu dieser Feststellung? Vieles in Jobs’ Biografie deutet daraufhin, dass der Apple-Firmenchef nicht zu Unrecht diese Eigenschaft zugesprochen bekommt. So revolutionierte er bereits in seiner Jugend den Computermarkt, mit der Einführung des ersten PCs, dann mit dem Macintosh, der als erster Computer eine grafische Benutzeroberfläche hatte. Nach einem internen Machtkampf musste Jobs 1985 das Unternehmen verlassen, kehrte aber im Jahre 1996 zu dem nun angeschlagenen Konzern zurück und führte Apple zu seinem heutigen Erfolg[1] durch innovative Produkte wie das Betriebssystem Mac OS X, dem iMac, der als einer der wenigen PCs bereits 1998 Design und Technik zu einer Einheit werden ließ, sowie dem iPod und der Software iTunes, welche den Umgang mit portabler Musik grundlegend veränderten. Durch immer wiederkehrende Rituale bei den Apple-Events und der Erschaffung eines Mythos rund um das Unternehmen konnte über lange Zeit eine, mit anderen Konzernen wenig vergleichbare, Fan- und Käufergemeinde aufgebaut werden. Dabei betonte er, dass finanzieller Erfolg für ihn nie das Ziel war: "I was worth over $1m when I was 23, and over $10m when I was 24, and over $100m when I was 25, and, erm, it wasn't that important, erm, because I never did it for the money" (Campell 2004). Gil Amelio, Jobs’ Vorgänger als CEO bei Apple sagte über seinen Nachfolger: „He is one of those magnetic, charismatic personalities that light up a room but his invaluable contributions can be largely overshadowed by the dissension he shows.“ (ebd.), was bereits darauf hinweist, dass charismatische Führung, so überragend und Erfolg versprechend sie ist, auch immer eine Schattenseite besitzt.
Seit Mitte der 1980er Jahre werden in der Führungsforschung verstärkt Ansätze der charismatischen bzw. transformationalen Führung diskutiert und erforscht. Die Popularität und das steigende Interesse an diesen Theorien lassen sich dadurch erklären, dass es charismatischen/transformationalen Führern[2] in besonderem Maße gelingen soll, unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung und steigendem Wettbewerb, Veränderungen zu bewirken und herausragende Leistungen zu erzielen (vgl. Felfe 2006, S. 163). Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass eine Vielzahl von Organisationen solch innovative Führung brauchen kann, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Dabei stellt sich die Frage, wie Unternehmen zu charismatischen Führungskräften kommen können. Dies kann durch personalpsychologische Maßnahmen auf zweierlei Wegen erfolgen: einerseits durch Methoden der Personalentwicklung, wie bspw. Conger und Kanungo (1998) und Bass und Riggio (2006) in ihren Veröffentlichungen beschreiben, sowie durch Verfahren der Personalauswahl (z.B. das Fragebogeninstrument MLQ von Bass und Avolio). Da speziell die Personalentwicklung hin zu charismatischer Führung bereits intensiv dokumentiert wurde und sich einige Fragebogeninstrumente zur Diagnostik etabliert haben, soll in dieser Arbeit versucht werden, das Konzept neocharismatischer Führung auf die simulationsorientierte Personalauswahl zu übertragen. Konkret geht es dabei um die Frage nach den Kontextbedingungen neocharismatischer Führungstheorien und deren Einfluss auf simulationsorientierte Verfahren der Eignungsdiagnostik am Beispiel des Assessment Centers.
Dazu soll in einem ersten Schritt Webers Ansatz charismatischer Herrschaft dargestellt werden, um darauf aufbauend in Kapitel 3 die drei einflussreichsten Theorien neocharismatischer Führung ausführlich zu erläutern und zu diskutieren. Kapitel 4 gibt einen ausführlichen Überblick zu Studien über die verschiedenen Kontextbedingungen, die für das Konzept charismatischer Führung von Bedeutung sind, darunter u.a. Kultur, organisationale Faktoren und die Bedeutung der Geführten. Im folgenden Kapitel 5 wird ein kritischer Blick auf die Ansätze neocharismatischer Führung geworfen. Das 6. Kapitel bezieht sich auf bereits vorhandene Messinstrumente für das Phänomen transformationaler Führung und beinhaltet Überlegungen zur Erfassung charismatischer Führung mit der Assessment-Center-Methode, wobei folgende Fragen beantwortet werden sollen: Unter welchen Bedingungen kann charismatische/transformationale Führung mit realitätsnahen Simulationen der Personalauswahl messbar gemacht werden? Wie beeinflussen die im vorhergehenden Kapitel erläuterten Kontextfaktoren charismatischer Führung die Auswahl und was kann daraus für das AC abgeleitet werden? Den Abschluss bildet ein Resümee, indem vor allem folgende Fragestellungen eine Beantwortung finden sollen: Was am Assessment Center macht eine Identifizierung charismatischer Führungskräfte möglich oder unmöglich bzw. hemmt diese? Kann das AC ein weiteres Instrument darstellen, um charismatische/transformationale Führer auszuwählen?
2 Charisma
2.1 Charismabegriff
Der Begriff ‚Charisma’ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Gnadengabe. Im alltagssprachlichen Gebrauch wird er meist verwendet um zu beschreiben, dass eine bestimmte Person eine gewisse Ausstrahlung bzw. Anziehungskraft besitzt. Menschen mit Charisma wird nachgesagt sie hätten eine nahezu mystische Gabe andere Personen in ihren Bann zu ziehen und die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Aus wissenschaftlicher Perspektive kann der Begriff ‚Charisma’ aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden.
Zunächst einmal findet sich der Begriff ‚Charisma’ im religiösen Sinne wieder und bezeichnet im Neuen Testament und älteren Christentum die Gaben des Heiligen Geistes an die Christen. Charisma wird hier also „... einerseits für die Begabung oder Befähigung zum Empfang von Offenbarungen, Inspirationen oder Erleuchtungen verwendet, anderseits – verbunden mit religiöser Devianz und Innovation – für die Schaffung einer eigenen von einer bestimmten Gruppe anerkannten numinosen Autorität.“ (Wikipedia: Charisma).
Eine etwas differenziertere Betrachtung von Charisma wurde durch die Soziologie vorgenommen, hierbei in erster Linie von Max Weber. Dieser brachte auch erstmals den Begriff in Verbindung mit Führung von Personen und machte damit den entscheidenden Anstoß zur Untersuchung dieses Phänomens durch die Führungsforschung.
2.2 Charisma bei Max Weber
In Webers 1921 erschienenem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ unterscheidet er drei Typen legitimer Herrschaft:
1. rationale Herrschaft, welche gekennzeichnet ist durch den Glauben der Beherrschten an die formale Legalität und das Anweisungsrecht der Führungskraft[3]
2. traditionale Herrschaft, die auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit bestehender Traditionen und der durch diese legitimierten Herrscher/Führer beruht
3. charismatische Herrschaft, welche begründet ist durch die außeralltägliche Hingabe der Geführten an die Heiligkeit oder die Heldenkraft bzw. den Vorbildcharakter der Führungskraft und durch sie offenbarte und geschaffene Ordnungen (vgl. Weber 1990, S.124)
Weber betrachtet Charisma als ein Persönlichkeitsmerkmal, durch das die Person des Führers mit besonderen Begabungen ausgestattet ist und als übermenschlich, gottgesandt und vorbildlich wahrgenommen wird und somit die Führungsrolle zugeschrieben bekommt. Dabei seien objektive oder auch ethische Standpunkte irrelevant. Von Bedeutung ist nur die emotionale Beziehung zwischen Führer und Geführten, wodurch letztendlich die charismatische Führungsbeziehung zustande komme. Es gibt dabei keine feststehenden Regeln oder Pflichten noch Gesetzmäßigkeiten, vielmehr werden die (neuen) Strukturen durch den charismatischen Herrscher vorgegeben. Ebenso werden Geführte nicht durch strukturell legitimierte Vorgaben ernannt, sondern aufgrund ihrer charismatischen Qualifikation durch den Herrscher berufen (vgl. ebd.). Dieser Umstand birgt aber auch eine Gefahr in sich, denn der Erfolg des charismatischen Herrschers hängt direkt davon ab, ob er sich gegenüber seinen Geführten bewähren kann und diese ihn als ihr „Herr“ anerkennen. Gelingt ihm dies nicht, bricht sein Anspruch zusammen, ebenso wie sein Charisma. Aufgrund der Eigenschaften dieser Führer-Geführten-Beziehung bezeichnet Weber die charismatische Herrschaft als „schroffen“ Kontrast zu bürokratischer, patriarchalischer oder ständischer Herrschaft, da sie, anders als rationale Herrschaftsformen, nicht an Regeln gebunden und somit irrational ist. Daher stellt Weber fest: „...die natürlichen Leiter in psychischer, physischer, ökonomischer ... Not waren weder angestellte Amtspersonen, noch Inhaber eines als Fachwissen erlernten und gegen Entgelt geübten „Berufs“... , sondern Träger spezifischer, als übernatürlich (im Sinne von: nicht jedermann zugänglich) gedachter Gaben des Körper und Geistes.“ (ebd., S. 654) .Weiter sieht Weber reines Charisma als „...spezifisch wirtschaftsfremd.“ (ebd., S. 142) an, was er damit erklärt, dass charismatische Führer „... die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von regulären „Einnahmen“ durch eine darauf gerichtete kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit.“ (ebd.) ablehnen.
Ein bedeutendes Merkmal von Charisma ist dessen revolutionäre Macht in konventionellen und traditionalen Epochen. Bürokratische Rationalisierung bewirkt, allein durch technische Mittel, Veränderungen und revolutioniert zuerst die Rahmenbedingungen und passt dann die Menschen an diese an. Im Gegensatz dazu führen der Glaube an und die Überzeugung von charismatischen Führungspersonen zu einer Veränderung der Menschen von innen heraus und dieser Glaube „... sucht Dinge und Ordnungen nach seinem revolutionären Willen zu gestalten.“ (ebd., S. 658).
Ein Großteil der Gedankengänge Webers lässt sich auch in aktuelleren Ansätzen, Modellen bzw. Theorien der Führungsforschung wieder finden[4]. Viel vom dem, was Weber als charismatische Herrschaft definierte, stimmt mit den Merkmalen überein, anhand denen Shamir und House (1993; 1995), Conger und Kanungo (1998) sowie Bass und Kollegen (1986; 2006)[5] charismatische bzw. transformationale Führung charakterisieren.
3 Neocharismatische Führungstheorien
Seit Mitte der 70er Jahre und vor allem seit den 1980er Jahren haben sich neue Ansätze auf dem Gebiet der Führungsforschung herausgebildet. Diese enthalten zwar durchaus Elemente klassischer Theorien, unterscheiden sich aber von diesen durch einige Merkmale, aufgrund derer die traditionellen Theorien in ihrer Erklärungskraft zu kurz greifen. Die bisherige Fokussierung auf die Führungsperson und ihr Handeln wird in zweierlei Hinsicht relativiert. Einerseits tritt durch einen stärkeren Einbezug des Verhaltens der Geführten die Führung als Interaktionsprozess einer wechselseitigen Einflussnahme zwischen Führungskraft und Mitarbeitern in den Vordergrund (vgl. Hentze et al. 2005, S. 331ff.). Dabei werden die am Führungsprozess Beteiligten als bewusst handelnde Subjekte mit je eigenen Zielen betrachtet, die auf Basis ihrer sozialen Handlungen ihre Umwelt subjektiv wahrnehmen und konstruieren. Zum anderen erfahren strukturelle Faktoren eine zunehmende Aufmerksamkeit. Die Führungsumwelt wird nicht mehr als statisch und beeinflussbar, sondern als komplex, dynamisch und mehrdeutig aufgefasst (vgl. Lang 2003, 35f.).
Die neuen Theorien umfassen bspw. transaktionale Führungskonzepte, Konzepte der symbolischen Führung und Ansätze visionärer Führung.
Unter diese Ansätze fällt aber auch der in Nordamerika entwickelte neocharismatische Führungsansatz, den Parry und Bryman als " New Leadership Approach " bezeichnen (vgl. Parry & Bryman 2006, S. 450). Unter diesem Ansatz werden verschiedene Theorien subsumiert, die sich durch bestimmte Gemeinsamkeiten auszeichnen und einen neuen Weg der Konzeptualisierung und Erforschung von Führung einschlagen. Den Begriff "neocharismatisch" prägten House und Shamir, da nach ihrer Ansicht die implizite oder explizite Konzeptualisierung von charismatischem Verhalten der gemeinsame Nenner aller einzelnen Theorien und Forschungen darstellt: "We refer to this new genre of theories as charismatic because charisma is a central concept in all of them, either explicitly or implicitly." (Shamir, House & Arthur 1993, S. 577).
Da der neocharismatische Führungsansatz die theoretische Grundlage dieser Arbeit bildet, sollen dessen zentrale Theorien nun ausführlicher dargestellt werden.
3.1 Die Selbstkonzepttheorie charismatischer Führung von House und Shamir
Eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema charismatische Führung nach Weber legte Robert House im Jahre 1977 vor. In diesem ersten Modell wurden nicht nur Verhaltensweisen charismatischer Führungskräfte beschrieben, es nahm zudem auch gewisse Persönlichkeitsmerkmale und Situationsvariablen in den Fokus. Shamir, House und Arthur (1993) erweiterten die von House aufgestellte Theorie durch Einbezug neuer Entwicklungen aus dem Forschungsfeld der Motivationspsychologie und einer genaueren Beschreibung des Prozesses der Einflussnahme auf Geführte (vgl. Yukl 2006, S. 252). Die Merkmale von Charisma wurden von Houses ursprünglicher Theorie übernommen: „... starke Zuneigung der Geführten zur Führungsperson, emotionale Verbundenheit mit den Zielen der Gruppe bzw. Organisation, der feste Glaube, zum Erfolg beitragen zu können und die uneingeschränkte Zustimmung zu hoher Leistung... .“ (Hentze et al. 2005, S. 191). Ziel dieses Ansatzes ist es die Frage zu beantworten, warum Geführte charismatischen Führern ohne Vorbehalte folgen und dadurch zu außergewöhnlichen Leistungen und Handlungen befähigt werden. Die Autoren verweisen darin kritisch darauf, dass die meisten vorliegenden Theorien zu charismatischer und transformationaler Führung keine Erklärungsansätze zur Vermittlung von motivationalen Prozessen bieten. Daher stellen sie ihren Überlegungen einige Grundannahmen hinsichtlich der Motivation von Menschen voran, angelehnt an „... Bandura’s (1986) Social-Cognitive Theory, Stryker’s (1980) Identitiy Theory, and Tajfel and Turner’s Social Identitiy Theory (Tajfel and Turner 1985, Ashforth and Mael 1989).“ (Shamir, House & Arthur 1993, S. 579f.).
- Grundannahmen zur menschlichen Motivation
1. Menschen verhalten sich nicht ausschließlich pragmatisch und zielorientiert, sie handeln auch selbst-expressiv anhand von Gefühlen, Werten und im Hinblick auf ihre Selbstwahrnehmung: „We 'do' things because of what we 'are', because of doing them we establish and affirm an identity of ourselves.“ (ebd., S. 580). In Extremfällen zeigt sich dies durch Selbstaufopferung und somit Verzicht auf Eigeninteressen.
2. Personen sind intrinsisch motiviert ihre Selbstachtung zu erhöhen und zu steigern, wobei es einerseits um ihren Selbstwert (Erfüllung von Moralität/Tugend, kulturellen Normen und Werten) und anderseits um ihre Selbstwirksamkeit geht (Gefühl, sein eigenes Schicksal bestimmen zu können, Aufgaben für eine effektive Leistung meistern zu können).
3. Individuen sind intrinsisch motiviert ihre Selbstkonsistenz zu erhalten und zu steigern. Primär geht es dabei um eine Korrespondenz zwischen dem Selbstkonzept und dem Verhalten sowie um Kontinuität in der Zeit und zwischen den Komponenten.
4. Das Selbstkonzept besteht aus verschiedenen sozialen/persönlichen Identitäten, die in einer spezifischen hierarchischen Ordnung zueinander stehen: Je dominanter eine Identität ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Person Gelegenheiten wahrnimmt, dieser Identität entsprechende Leistungen zu vollbringen.
5. Individuen werden durch Vertrauen als auch durch rational kalkulierende Erfolgs- und Fehlerwahrscheinlichkeiten motiviert, wobei der spezifische Charakter von Vertrauen hervorgehoben wird: „By definition, faith cannot be reduced to subjective prohabilities since the mere translation of faith into calculations implies loss of faith.“ (ebd.).
Die Selbstkonzepttheorie von Shamir et al. versucht die transformationalen Effekte charismatischer Führung zu erklären. Ihr Ansatz unterscheidet vier Bestandteile: a) Verhaltensweisen des Führers, b) Effekte auf das Selbstkonzept der Geführten, c) weitere Effekte auf die Geführten und d) motivationale Prozesse im Verhalten der Führungskraft, die charismatische Effekte bewirken. Zentral in der Erörterung stehen vor allem die Auswirkungen dieses Führungsansatzes auf das Selbstkonzept der Geführten.
Abbildung 1 : Modell der motivationalen Wirkung charismatischer Führung nach Shamir, House & Arthur (1993)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.1.1 Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale charismatischer Führungskräfte
Die Basisannahme der Theorie besagt, dass charismatisch Führende die intrinsische Valenz von Anstrengungen und Zielen erhöhen, indem sie eine Anbindung an wertbezogene Aspekte der Selbstkonzepte bei den Geführten herstellen (vgl. Steyrer 1995, S. 127). Charismatische Führer haben wahrscheinlich ein starkes Bedürfnis nach Macht, ein hohes Selbstvertrauen und sind stark von ihrem Glauben und ihren Idealen überzeugt (vgl. Yukl 2006, S. 252). Eine der wichtigsten Eigenschaften von charismatischen Führern ist es, dass sie Arbeitstätigkeiten dermaßen verändern können, dass die Bewältigung dieser als heldenhaft, moralisch korrekt und bedeutungsvoll auf Mitarbeiter wirkt. Im Wesentlichen betonen charismatische Führungskräfte weniger extrinsische Belohnungen (Geld, Statussymbole), sondern fokussieren eher auf intrinsische Gegenleistungen (sich wertvoll und gut fühlen, an einem außergewöhnlichen Projekt teilhaben zu können, etc.) für die geleistete Arbeit durch erweiterte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung (vgl. Conger & Kanungo 1998; Neuberger 2002). Charismatische Führung zeichnet sich außerdem darin aus, dass an Geführte hohe Erwartungen ausgesprochen werden und darauf vertraut wird, dass sie diese erfüllen. „Die Verbindung aus hohen Ansprüchen mit hohem Vertrauen ist hoch motivierend[6].“ (House/ Shamir 1995, S. 884) und bewirkt bei Geführten ein gesteigertes Selbstwertgefühl, hohes Selbstvertrauen und erhöhte Selbstkonsistenz. Es wird somit eine Verbindung zwischen dem Selbstkonzept der Geführten und der Erreichung organisationaler Ziele hergestellt.
Charakteristisch für charismatische Führer ist es eine Vision zu entwickeln, die jene Grundwerte verkörpert, die von Führern und Geführten zugleich geteilt werden. Die gemeinsame Vision erzeugt eine starke kollektive Identität und stellt damit die Basis für eine gemeinsame Gruppenidentität dar. Diese Vorstellung, einer besseren und viel versprechenden Zukunft, erhöht die Bedeutung der Organisationsziele für den Einzelnen; persönliche Interessen der Geführten werden zugunsten von Gruppenzielen überwunden. Zusätzlich vermitteln charismatische Führungskräfte ihren Untergebenen, dass sie außergewöhnliche Leistungen vollbringen können, wenn sie als Gruppe zusammenhalten. Um die Gruppenidentität weiter zu festigen und deren Bedeutung zu unterstreichen, führen sie Rituale, Zeremonien sowie Symbole ein und erzählen Geschichten vergangener Erfolge und Heldentaten (vgl. Yukl 2006, S. 253).
Aufopferungsvolles Hingeben an eine Vision und die Überzeugung von der Richtigkeit und moralischen Notwenigkeit dieser, zeichnet charismatische Führungskräfte aus. Dies verstärke ihre Glaubwürdigkeit als Führer, der im Sinne seines Traumes handelt, was wiederum die Geführten zu Gefolgschaft und Einsatz für diese höheren Ziele motiviere. Führer, die mit ihrer Vision den Status quo gefährden brauchen starkes Selbstvertrauen und Entschlossenheit, angesichts der hohen Risiken, die sie eingehen (vgl. House & Shamir 1995). Diese Eigenschaften signalisieren Mut und Überzeugung und können Mitarbeiter ermutigen sowie motivierend wirken.
- Motivationale Prozesse
Die beschriebenen Motivationsprozesse werden nach Shamir et al. (1993) durch zwei Arten von Führungsverhalten initiiert: a) Rollengestaltung und b) Rahmenbildung.
a) Rollengestaltung: Die Führungskraft wird durch ihr Verhalten, ihren Lebensstil, ihre emotionalen Reaktionen, ihre Werte, Hoffnungen und ähnlichem zu einer repräsentativen Persönlichkeit. Charismatisch Geführte sehen darin Eigenschaften, Werte, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die von ihnen legitim entwickelt und nachgeahmt werden können. Der Führer wird also als Vorbild gesehen, als eine Person an der sich die Geführten orientieren können und wollen.
b) Rahmenbildung: Charismatische Vorgesetzte sind auf Rahmenbildung bedacht zur Akzeptanz und Inszenierung von Veränderungen. Als Rahmen werden Interpretationsmuster bezeichnet, die Individuen befähigen, Ereignisse ihrer Lebensperspektive einzuordnen, wahrzunehmen und zu benennen. In Kommunikationsprozessen sind Führungskräfte darum bemüht Attitüden, Werte und Perspektiven der Mitarbeiter ihren eigenen anzupassen. Dies geschieht durch klare Ideologieformulierung, Nutzung eigener Etiketten und Slogans, Beschwörung der Vision und dichotomer Ziele anhand der Verkündung einer besseren Zukunft sowie den Verweis auf Grundwerte und moralische Rechtfertigung. Dabei verbinden sie Ereignisse der Gegenwart mit vergangenen Ereignissen, indem sie gegenwärtiges Verhalten mit historischen Beispielen belegen. (vgl. Shamir, House & Arthur 1993 und House & Shamir 1995). „Sie suggerieren Verbindungen zwischen historischen Vorfällen und Werten, Identitäten, erwartetem Verhalten und zukünftigem Geschehen.“ (House & Shamir 1995, S. 886).
3.1.2 Effekte auf das Selbstkonzept der Geführten
Shamir und Kollegen (1993) argumentieren, dass die Effekte charismatischer Führung auf das Selbstkonzept der Geführten durch insbesondere drei Faktoren psychologischen Bindungsverhaltens hervorgerufen werden.
1. Persönliche Identifikation beruht auf dem Verlangen die Eigenschaften der Führungskraft nachzuahmen oder indirekt zu erwerben. Je mehr ein Führer Identitäten, Werte und Merkmale in seinem Verhalten äußert, die für andere erstrebenswert erscheinen, desto stärker können sich Untergebene damit identifizieren.
2. Die Soziale Identifikation der Geführten wird von charismatischen Führern erhöht, indem diese das Selbstkonzept eines jeden Gruppenmitglieds mit den von der Gruppe geteilten Werten und Identitäten verbinden. Je ausgeprägter die kollektive Identifikation ist, desto mehr sind Geführte bereit, individuelle Bedürfnisse zurückzustellen und Opfer für die Gemeinschaft zu bringen.
3. Werteinternalisierung bezieht sich auf die Anbindung von Werten an das Selbstkonzept als handlungsleitende Prinzipien. Obwohl bestimmte Werte der Führungskraft bzw. der Gruppe zugeordnet werden, kann die Internalisierung von Werten auch ohne persönliche und soziale Identifizierung erfolgen. Ebenso kann Identifikation auch ohne Werteverinnerlichung stattfinden (vgl. Shamir, House & Arthur 1993, S. 586f.).
Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen motivationalen Effekte auf die Geführten in Abgrenzung von traditionellem und charismatischem Führungsverhalten gibt die Übersicht (Tabelle 1).
Die Selbstkonzepttheorie Shamirs et al. rückt von Houses ursprünglicher Konzeption des Führungsprozesses als dyadischen Vorgang ab und stellt charismatische Führung als kollektiven und wechselseitigen Prozess heraus.
Tabelle 1: Motivationale Effekte traditioneller und charismatischer Führung nach Shamir, House & Arthur 1993
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.2 Die Attributionstheorie charismatischer Führung von Conger und Kanungo
Für Conger und Kanungo (1998) stellt charismatische Führung ein Phänomen dar, das auf der Attribution der Geführten beruht. Also entsteht die Bewertung charismatischer Führungsqualitäten durch die Geführten primär aus den von der Führungskraft gezeigten Verhaltensweisen und Fähigkeiten sowie aus situationalen Merkmalen. Diese Qualitäten werden als ein Teil der inneren Neigung oder des persönlichen Interaktionsstils von Geführten wahrgenommen (vgl. Conger & Kanungo 1998, S. 48).
3.2.1 Phasenmodell charismatischer Führung
Die Verhaltensweisen einer charismatischen Führungskraft werden nach Conger und Kanungo von verschiedenen Personen in verschieden hohem Maße gezeigt. Sie gehen dabei davon aus, dass Führung einen Veränderungsprozess beschreibt, weg vom gegenwärtigen Zustand (Status quo) hin zu einem lange angestrebten/ersehnten Ziel. Dieser Prozess wird von ihnen als ein Phasenmodell mit drei spezifischen Stadien dargestellt. In der ersten Phase (Analyse des Status quo) führen charismatische Führer eine kritische Analyse der aktuellen Situation der Organisation durch. Dabei müssen sie besonders sensibel für ihre Umwelt vorgehen. Charismatische Führungskräfte ermitteln Unzulänglichkeiten und Defizite, bewerten vorhandene Ressourcen und identifizieren mögliche Hindernisse zukünftiger Ziele. Dazu gehört es ebenfalls die Neigungen, Fähigkeiten, Bedürfnisse und den Grad der Zufriedenheit der Geführten zu beurteilen. Auf Basis dieser Analyse erfolgt im nächsten Schritt (Entwicklung und Kommunikation einer strategischen Vision) die Entwicklung und Formulierung von Zielen und Visionen. Diese unterscheiden sich deutlich vom Status quo und bieten Identifikationsmöglichkeiten für Untergebene. Je ideeller oder utopischer das angestrebte Ziel der Führungskraft ist, desto mehr weicht es von der aktuellen Situation ab und desto mehr wird ihr eine außergewöhnliche Vision zugeschrieben. Die Autoren argumentieren, dass Personen aber erst dann als charismatische Führer wahrgenommen werden, wenn sie erfolgreich die Einstellung der Geführten ändern können und diese fortan die Vision der Führungskraft als ihre eigene ansehen und verfolgen (vgl. ebd., S. 54). Charismatischen Führungskräften fällt es dabei leicht, ihre Vorstellungen inspirierend und motivierend zu kommunizieren sowie ein Bild von sich zu zeichnen, dass es anderen leicht macht, sie als sympathisch, vertrauenswürdig und sachkundig wahrzunehmen. Bei der Formulierung ihrer Vision stellen sie den Status quo als nicht hinzunehmenden Zustand dar und beschreiben ihre Vorstellung der Zukunft in klaren, deutlichen Worten als die beste erreichbare Alternative. Ihre Führungsbereitschaft unterstreichen charismatisch Führende durch Offenbarung ihrer Überzeugungen, Selbstbewusstsein und Hingabe an die Verwirklichung ihrer Ziele. Dazu bedienen sie sich ausdrucksstarker Handlungsweisen; verbaler und nonverbaler Art. Charismatische Führungskräfte verfügen über ein ausgesprochen hohes „Impression Management“. In der dritten Phase des Führungsprozesses (Mittel und Wege der Umsetzung) wird schließlich hohes Vertrauen in die Fähigkeiten der Führungskraft erzeugt und aufgezeigt, welche Taktiken und Handlungsweisen nötig sind, um die Ziele der Organisation bzw. der Mitarbeiter zu erreichen (vgl. ebd. S. 56). Gleichzeitig ermutigen sie diese und schaffen bspw. durch Qualifikationsmaßnahmen unterstützende Voraussetzungen für eine hohe Leistungsfähigkeit. Durch ihre Bereitschaft persönliche Risiken einzugehen und durch persönliches Vorbild das vorzuleben, was sie von ihren Untergebenen erwarten, wirken sie besonders integer. Außerdem verfügen sie über persönlichen Einfluss, welcher auf hoher Fachkompetenz und Expertentum gründet und bei den Mitarbeitern Respekt und Bewunderung erzeugt. Nicht-charismatische Führungskräfte verlassen sich eher auf ihre Positions- bzw. Sanktionsmacht oder versuchen Beziehungen zu nutzen, die auf Freundschaft und Sympathie bestellt sind.
Abbildung 2: Phasenmodell charismatischer Führung nach Conger und Kanungo (1998)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.2.2 Der Prozess der Einflussnahme durch charismatische Führung
Das Verhalten eines charismatischen Führers kann als Versuch gesehen werden, die Werte, Einstellungen und das Verhalten von Geführten zu beeinflussen (vgl. ebd., S. 57). Conger und Kanungo folgen Burns’ (1978) Unterscheidung von zwei Wegen, auf denen Führungskräfte Einfluss auf ihre Mitarbeiter ausüben – transaktional oder transformational[7].
Transaktionale Beeinflussungsprozesse seitens des Vorgesetzten zielen darauf ab, durch Belohnung bzw. Bestrafung sicherzustellen, dass Mitarbeiter das von ihnen geforderte Verhalten zeigen. Führungskräfte nutzen wahrscheinlich dieses Führungsmodell, um das Funktionieren alltäglicher Arbeitsabläufe durch ihre Untergebenen zu gewährleisten, weniger, wenn es darum geht, dass bedeutsame Veränderungen im Unternehmen mitgetragen werden. Der Erfolg dieses Modells ist abhängig von der „Lebensdauer“ der Güter, die im Austausch für Gefolgschaft, Commitment und Loyalität der Mitarbeiter angeboten werden. Denn diese sind nur motiviert, die von ihrem Vorgesetzten gewünschten Verhaltensweisen zu zeigen, wenn erwartet werden kann, dass sie im Austausch dafür gewisse Gegenleistungen erhalten.
Eine andere Form der Einflussnahme auf Geführte ist auf transformationalem Wege, welcher nach Conger und Kanungo implizit bei charismatischen Führungskräften vorhanden ist (vgl. ebd., S. 58). Charismatische Führungskräfte handeln dann transformational, „When managers no longer accept the status quo of their organizations and instead formulate an idealized vision that is discrepant from the status quo and that is shared by subordinates.“ (ebd., S. 58). Manager handeln dabei nicht mehr als Bewahrer oder Verwalter des bestehenden Zustandes, sondern als transformational Führende. Es geht hier um die Transformation der Werte und Einstellungen der Mitarbeiter, damit die dargestellte Vision der Zukunft gemeinsam erreicht werden kann. Diesen Wertewandel bewirken transformationale Führer u.a. durch Stärkung des Selbstvertrauens der Geführten und der Beteuerung, dass sie gemeinsam das Ziel in der Zukunft erreichen werden (Empowerment). Nach Conger und Kanungo (1998) sind zwei Faktoren für die Folgsamkeit der Mitarbeiter von Bedeutung: die Verinnerlichung der Vision der charismatischen Führungskraft und die Steigerung ihres Selbstvertrauens. Die Kraft dafür schöpfen charismatische Führer aus ihrer persönlichen Macht durch Expertentum und Vorbildcharakter, weniger aus Machtbefugnissen aufgrund einer bestimmten hierarchischen Position. Persönliche Identifikation mit den Zielen des Vorgesetzten wird dadurch erreicht, dass charismatisch Geführte ihrem Vorbild gefallen möchten sowie durch den Versuch die Führungskraft nachzuahmen. Transformationale charismatische Führer erzeugen eine Situation, in der von ihren Mitarbeitern hohe Leistungen erwartet werden, um die enormen Erwartungen zu erfüllen. Yukl (2006) berichtet, dass viele charismatisch Geführte angeben, ihre größte Motivationsquelle sei der Wunsch nach Anerkennung durch ihren Vorgesetzten: „At the same time, it was evident that followers were also motivated by fear of disappointing the leader and being rejected.“ (Yukl 2006, S. 251).
3.2.3 Eigenschaften und Verhalten charismatischer Führer
In den vorangestellten Ausführungen zur Einflussnahme charismatischer Führungskräfte auf Geführte sowie im abgebildeten Modell der Phasen charismatischer Führung nach Conger und Kanungo wurde bereits eine Vielzahl an Verhaltensweisen und persönlicher Eigenschaften erkennbar, welche charakteristisch für charismatische Führung sind und im folgenden intensiver erläutert werden sollen. Diese, oft nicht isoliert zu betrachtenden Verhaltensweisen tragen dazu bei, dass Geführte ihren Vorgesetzten Charisma attribuieren. Meist führt das Zusammenspiel verschiedener Verhaltensweisen dazu, dass sich charismatische Führungskräfte von anderen abheben.
Conger und Kanungo nennen drei Hauptmerkmale dieser Handlungskomponenten, die es wahrscheinlich machen, dass Geführte ihrem Vorgesetzten Charisma zuschreiben (vgl. Conger & Kanungo 1998, S. 61f.):
1. Die Anzahl dieser Verhaltensweisen, die die Führungskraft zeigt: je mehr (charismatische) Verhaltensweisen sich im Verhalten der Führungskraft zeigen, desto wahrscheinlicher ist die Attribuierung von Charisma durch Geführte.
2. Der Grad der Intensität jeder dieser Verhaltensweisen, die sich im Verhalten der Führungskraft äußert: je größer der Grad bzw. die Häufigkeit, in der die Verhaltensweisen gezeigt werden, desto wahrscheinlicher wird Charisma wahrgenommen.
3. Das Ausmaß des Herausragens bzw. der Bedeutung, der diesen Verhaltensweisen in der jeweiligen Situation oder im organisationalen Kontext zukommt und dem Grad der Nähe zwischen Führer und Geführten: um einen charismatischen Einfluss ausüben zu können, müssen Führungskräfte ein Gespür dafür haben, wie angebracht die verschiedenen Verhaltensweisen in einem bestimmten situationalen Kontext sind; je nach Nähe zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter sind verschiedene Verhaltenweisen von Bedeutung, die eine Attribuierung von Charisma bedingen.
Konkret bedeutet dies, dass Führungskräfte wahrscheinlich als charismatisch wahrgenommen werden, wenn:
[...]
[1] Apple-Produkte hatten 2007 im Computermarkt weltweit 2,7% Marktanteil, in den USA 5,6% (Platz 5), auf dem MP3-Player-Markt USA 72% und bei Internet-Musikdownloaddiensten in den USA 85% (Wikipedia: Apple)
[2] Wenn in dieser Arbeit an vielen Stellen die männliche Sprachform gewählt wurde, dient das ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Natürlich sind immer in gleichem Maße Frauen wie Männer gemeint.
[3] Weber spricht hierbei auch von dem „zur Herrschaft Berufenen“ bzw. vom Vorgesetzten, vgl. Weber 1990, S.124
[4] bemerkenswert ist, dass bereits bei Weber alle drei zentralen Aspekte des Führungsprozesses behandelt werden – Führer, Geführte, Situation
[5] Bass’ Konzept der transformationalen Führung schließt als einen wesentlichen Bestandteil charismatische Führung mit ein, vgl. Bass 1986
[6] Shamir et al. betonen speziell Selbstvertrauen/ Selbstwirksamkeit als Quelle der Motivation und folgen damit Bandura (vgl. Shamir, House & Arthur 1993, S. 582). Weiter lässt sich ein Bezug herstellen zur „Self-fulfilling prophecy“ bzw. dem Pygmalion Effekt, Forschungsarbeiten zu diesem Thema unterstützen die Aussage der Theorie von Shamir & House, nach der Geführte leistungsfähiger sind, wenn Führungskräfte ihnen gegenüber Vertrauen aussprechen (vgl. Field 1995; Steyrer 1995; Neuberger 2002).
[7] vgl. dazu auch Burns (1978); Bass (1986, 1995); Bass & Riggio (2006)
- Citar trabajo
- Torsten Kreissl (Autor), 2008, Neocharismatische Führung und simulationsorientierte Personalauswahl, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209379
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