Quintilians Werk wird anhand ausgewählter Textpartien kritisch nachgezeichnet, um einen Einblick in das römische Rechtsleben und dessen Verhältnis zur Rhetorik zu verschaffen. Der Gesamttext der Institutio Oratoria ist unterteilt in zwölf Bücher: So behandelt Buch I „was der Aufgabe des Lehrers der Rhetorik (des Rhetors) vorausgeht“, Buch II die „Anfangsgründe des Unterrichts beim Rhetor und was über das Wesen der Rhetorik selbst an Fragen besteht“. In den fünf folgenden Büchern werden ausführlich die inventio und dispositio abgehandelt; davon werden Quintilians Einlassungen zur Statuslehre und die Systematik der äußeren Beweismittel Gegenstand näherer Betrachtung sein. Vier weitere Bücher widmen sich „der sprachlichen Darstellung, wozu auch die Lehre vom Gedächtnis und dem Vortrag tritt […].“ Buch XII schließlich soll „das Bild des Redners selbst gestalten“, es soll erörtert werden „wie seine Lebensführung sein soll, welche Gesichtspunkte für die Übernahme, Vorbereitung und Durchführung der Prozesse gelten, welches die wirkungsvollste Stilart ist, wann man der Gerichtspraxis ein Ende setzen soll, und welche Studien sich anschließen.“ Buch XII soll ebenfalls Gegenstand genauerer Untersuchung sein, um einen Begriff von Quintilians "rhetorischer Ethik" zu gewinnen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Analyse
2.1 Die Institutio Oratoria: Ein Überblick
2.2 Quintilian zur Statuslehre
2.3 Die Behandlung der Beweismittel aus dem Fall selbst
2.4 Quintilians moralistische Rhetorik
2.5 Das Instrumentarium des Anwalts
3. Ausblick
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wenn man sich in die theoretische Konzeption der Rhetorik, wie die Antike sie kannte, einarbeiten will, wird man wahrscheinlich bei Platons Dialogen beginnen, sich Aristoteles vornehmen und sich schließlich zu Cicero durcharbeiten. Dann aber kommt man an Marcus Fabius Quintilianus nicht vorbei: Der Schulmeister aus der spanischen Provinz Roms legt schließlich ein umfangreiches Werk vor, das den Anspruch erhebt, ein Kompendium des rhetorischen Zeitwissens zu sein und gleichzeitig ein Lehrgang von der Kindheit bis zum Ruhestand des „echten“ Redners. Sein Wissen stützt sich nach eigenen Worten auf zwanzig Jahre Erfahrung als Schulleiter und umfassende Gerichtspraxis auf dem Forum. Quintilian wird im Jahre 71 n. Chr. der erste aus der Staatskasse besoldete Professor für Rhetorik in Rom und Leiter einer Rhetorikschule. Entstanden ist seine Institutio Oratoria oder Ausbildung des Redners in den 90er Jahren des ersten Jahrhunderts, unter der Herrschaft des Domitian, einem als raubeinig, paranoid und unbarmherzig notorischen Kaisers des frühen Imperium Romanum. Quintilian scheint jedoch durchaus sein Auskommen mit ihm gehabt zu haben, war er doch auch noch als Privatlehrer seiner Erben angestellt und erlangte im Jahre 95 sogar konsularische Würde. Beeinflusst war Quintilian vor Allem von Cicero, dem er in vielen Punkten seiner eigenen Systematiken folgt.
Diese Arbeit soll Quintilians Werk anhand ausgewählter Textpartien kritisch nachzeichnen und so einen Einblick in das römische Rechtsleben und dessen Verhältnis zur Rhetorik verschaffen.
2. Analyse
2.1 Die Institutio Oratoria: Ein Überblick
Die „Institutio Oratoria“ ist, abgesehen von zwei Büchern mit Deklamationen, bei denen er wohl nur als Editor tätig war, und zwei ebenfalls in Buchform veröffentlichten, aber nicht erhaltenen Vorträgen, Quintilians einziges bedeutendes Werk. Es ist gegliedert in zwölf Bücher, eine Unterteilung die nicht etwa von Scriptoren in Klöstern nachträglich gemacht worden ist, sondern aufgrund der zahlreichen Querverweise im Werk auf Quintilian selber zurückgehen müssen. So behandelt Buch I „was der Aufgabe des Lehrers der Rhetorik (des Rhetors) vorausgeht“[i], Buch II die „Anfangsgründe des Unterrichts beim Rhetor und was über das Wesen der Rhetorik selbst an Fragen besteht“[ii]. In den fünf folgenden Büchern werden ausführlich die inventio und dispositio abgehandelt, davon werden wir Quintilians Statuslehre und die Systematik der äusseren Beweismittel näher betrachten. Vier weitere Bücher widmen sich „der sprachlichen Darstellung, wozu auch die Lehre vom Gedächtnis und dem Vortrag tritt […].[iii]“ Buch XII schliesslich soll „das Bild des Redners selbst gestalten“[iv], es soll erörtert werden „wie seine Lebensführung sein soll, welche Gesichtspunkte für die Übernahme, Vorbereitung und Durchführung der Prozesse gelten, welches die wirkungsvollste Stilart ist, wann man der Gerichtspraxis ein Ende setzen soll, und welche Studien sich anschliessen.“[v] Buch XII soll ebenfalls Gegenstand genauerer Betrachtungen werden.
Während sich Quintilians Ausführungen im ersten Buch noch an den Redelehrer richten, spricht er in späteren Abschnitten immer häufiger den bereits erwachsenen Redner an und gibt ihm Ratschläge, immer der von ihm oft beschworenen „ordo naturalis“ folgend, der natürlichen Ordnung der Dinge, die sowohl für sein Werk wie auch für jede Oratio als Gerüst dienen soll. Ausgangspunkt ist dabei die Oratordefinition des Älteren Cato als „vir bonus dicendi peritus“[vi].
Insgesamt fällt Quintilians Lebenszeit in eine schwierige Periode, auch Domitians Vorgänger, etwa Caligula, Claudius und Nero, zählen heute nicht gerade zu den Glanzpunkten der römischen Geschichte. Das Ansehen der Beredsamkeit, früher Grundfeste des römischen Staates, ist schwer angekratzt. Quintilian beklagt dies sowohl in der Institutio als auch in einer verlorenen Schrift „Über die Gründe des Verfalls der Beredsamkeit“. Seine Institutio ist auch als Versuch zu sehen, dieser Tendenz gegenzusteuern.
2.2 Quintilian zur Statuslehre
Im sechsten Kapitel des 3. Buches behandelt Quintilian „Die Feststellung der Rechtsfrage“[vii] und führt in der für ihn typischen Art und Weise in die Thematik ein: Er beleuchtet kritisch verschiedene Lehrmeinungen, u. A. etwa des Hermagoras, des Cicero, der Appolodorischen und Theodorischen Schulen und des Aristoteles, um dann zum eigenen Standpunkt zu gelangen. Der status oder die Grundfrage eines Rechtsfalles ist für ihn „[…] nicht der erste Zusammenstoss der Behauptungen […], sondern was aus dem ersten Zusammenstoss entsteht, das heisst die Form der Fragestellung: ‚du hast es getan, ich habe es nicht getan: hat er es getan?’
Nach ausführlicher Bewertung verschiedener vorgeschlagener Einteilungssysteme bleiben für Quintilian drei mögliche Grundfragen, die auf alle Rechtsfälle, sogar auf alle möglichen Reden[viii] zutreffen: Der Vermutungsstatus oder status conjecturalis mit der Grundfrage ‚hat er es getan?’, der Definitionsstatus oder status definitionis ‚was hat er getan?’ und der Beschaffenheitsstaus oder status qualitatis ‚wie, auf welche Weise hat er es getan? (Etwa zu Recht?)’.
Er revidiert dabei, wie er wortreich erklärt, seine von ihm bisher vertretene Lehrmeinung, es gebe zu den drei vorausgehenden, die er die rationalen Grundfragen nennt, noch einen vierten, legalen Status, der sich auf den Gesetzestext bezieht und beispielsweise auf widersprüchliche Gesetze oder die Verschiebung der Gerichtszuständigkeit abzielt. Er stellt nun fest, dass sich sämtliche Rechstfragen ebenfalls aus den rationalen statūs gewinnen lassen, „denn keine Rechtsfrage kann ohne Definition, Bestimmung der Beschaffenheit und Vermutung über den Tatbestand entwickelt werden.“[ix]
Nun können in einem Rechtsfall durchaus mehrere Fragen auftauchen, wie etwa bei der Behauptung eines Angeklagten ‚auch wenn ich es getan habe, habe ich es zu Recht getan. Aber ich hab es nicht getan’[x]. Aber immer wird dabei eine Frage in den Vordergrund treten, und Quintilian schlägt vor, der Status wäre in solch einem Fall „was ich sagen würde, wenn ich nicht mehr als Eines nennen dürfte.“[xi]
Die Stärkste Position ist zweifellos die, von sich zu sagen man habe eine Tat nicht begangen, die zweitstärkste man habe nicht das getan, wofür man angeklagt ist und die drittstärkste, man habe dabei ehrenhaft gehandelt. Kann man nichts davon direkt für den Prozess benutzen, wird man versuchen, eine Verfahrensfrage aufzuwerfen, etwa ob das Gericht befugt sei, die Verhandlung zu führen.
Im siebten Buch geht Quintilian noch einmal sehr ausführlich auf jeden der statūs und auch auf die Rechtsfragen mit all ihren Ausformungen ausführlich ein.
Der Vermutungsstatus teilt sich auf: Entweder ist das Geschehen als Ganzes strittig oder nur, ob der Angeklagte der Täter war. Am nützlichsten ist dabei die erste Position, weil man, „wenn [man] damit durchkommt, gar keine Veranlassung hat, das Restliche noch zu behandeln“[xii]. Die zweite Position besteht entweder darin, nur zu sagen, man war nicht der Täter, oder gleichzeitig die Schuld auf einen anderen abzuwälzen.
Die Definitionsfrage behandelt die Wesensabgrenzung. Sie liegt am nächsten, wenn man als Angeklagter nicht behaupten kann, man habe nichts getan: Man wird sagen, man habe „nicht das getan, was einem vorgeworfen wurde“[xiii]. Den Begriff ‚Wesensabgrenzung’ definiert Quintilian als „der dem Gegenstand eigentümliche klare und kurz in Worte gefasste Ausdruck eines angegebenen Sachverhalts“[xiv]. Man kann zwei Formen der Definitionsfrage unterscheiden: „Entweder besteht Gewissheit über die Benennung [einer Tat], es ergibt sich aber die Frage, welcher Sachverhalt ihr zugrunde liegen soll“, oder der Sachverhalt ist klar, „aber die Benennung steht nicht fest“[xv]. Ein Beispiel für die erste Art wäre „ob jemand, der mit der Frau eines anderen im Bordell ertappt worden ist, ein Ehebrecher ist“, weil ja nicht die Benennung strittig ist, es kann sich schließlich nur um Ehebruch drehen. Strittig aber ist die Bewertung oder „die Bedeutung der Tat, ob er überhaupt etwas Strafbares getan hat“[xvi].
Bei der Frage dagegen ‚Ist jemand der sich selbst tötet, ein Mörder?’ geht es nur um die Bezeichnung der Tat, während der Sachverhalt klar ist. Die allgemeine Formulierung der Frage ist hier ‚was es ist?’, daraus folgt natürlicherweise die Frage ‚ob es dieses ist?’. Letztendlich wird sich die Verhandlung in einem solchen Fall immer um Begriffsbestimmungen drehen, die beide Parteien gegeneinander in Stellung bringen. Hilfreich kann hier die Etymologie sein, „das Gefühl der Billigkeit“ oder „zuweilen auch eine glückliche Vermutung“[xvii] eine Stütze bieten.
Auch für die Beschaffenheitsfrage lassen sich mehrere Unterkategorien bilden: Die wirkungsvollste Art, die Verteidigung auf der Beschaffenheitsfrage aufzubauen, ist die Rechtfertigung: Die Tat, die einem vorgeworfen wird, zeugt von ehrbarer Gesinnung. Quintilian schaltet hier einen kurzen Abriss zur Erläuterung des Begriffs „gerecht“ ein:
Alles Gerechte ist entweder auf die Natur gegründet oder auf Satzung: auf die Natur bei dem, was gemäß dem Rang, den ein jedes Ding einnimmt, geschieht. Hierhin gehören die sittlichen Maßstäbe der Frömmigkeit, Treue, Selbstbeherrschung und dergleichen. […] Das Gerechte durch Satzung beruht auf Gesetz, Brauch, gerichtlicher Vorentscheidung oder Vereinbarung.[xviii]
Die zweite Möglichkeit der Verteidigung ist es „eine Tat für die sich keine Rechtfertigungsmittel bietet, durch von aussen hinzugenommene Hilfsmittel in Schutz zu nehmen“[xix], etwa durch den ehrenhaften Grund einer Tat. Als weitere Option kann sich ein pragmatischer Standpunkt anbieten: Durch seine Tat habe man Schlimmeres verhindert. „Denn bei der Vergleichung der Übel nimmt das Geringere die Stellung des Guten ein“.[xx]
Einen anderen Ansatz innerhalb der Beschaffenheitsfrage bietet die Abwälzung der Anklage auf jemand anderes oder einen Sachverhalt: Ein Soldat kann vorbringen, er habe auf Befehl seines Vorgesetzten gehandelt, wer wegen einer unterlassenen Handlung angeklagt ist, kann möglicherweise sagen, ein Gesetz habe ihm die Durchführung verboten.
Es bleiben noch die Entschuldigung, etwa wegen Unkenntnis, Gesundheitszustand, unglückliche Umstände oder Zufall, und schließlich die Abbitte, bei der die Schuld in vollem Umfang eingestanden wird um die Richter milde zu stimmen.
Kann man von diesen drei Oberkategorien keine für einen speziellen Fall verwerten, bleibt die Möglichkeit, eine Rechtsfrage aufzuwerfen. Bei Erfolg wäre eine Untersuchung des Sachverhalts selbst dann nicht mehr erforderlich. Rechtsfragen können z. B. abzielen auf Differenzen zwischen Wortlaut und Absicht eines Gesetzes. Der Anwalt wird je nach Lage den Fokus auf den einen oder anderen Aspekt des zugrunde liegenden Textes richten. Manchmal lässt sich auch ein Gesetz finden, dass dem, aufgrund welchem verhandelt wird, direkt widerspricht. Oder man findet sein Heil in der Zweideutigkeit (Amphibolie) eines Gesetzestextes.
Am Ende sind aber alle Rechtsfragen lediglich spezielle Ausprägungen einer der drei rationalen Grundfragen und sind deshalb nicht als eigener Status zu betrachten.
[...]
[i] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (I,Prooemium, 21), 13
[ii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (I,Prooemium, 21), 13
[iii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (I,Prooemium, 22), 13
[iv] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (I,Prooemium, 22) 13
[v] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (I,Prooemium, 22) 13
[vi] Quintilian, Ausbildung des Redners: Zweiter Teil, Buch V-XII, (XII,1, 1,) 685
[vii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (III, 1) 309
[viii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (III, 1, 1) 309
[ix] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (III, 6, 82) 339
[x] Eine ähnliche Stellung, wie sie Cicero in der Rede für den Milo eingenommen hat;
[xi] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (III,6, 10) 311
[xii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 2, 16) 39
[xiii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 3, 1) 59
[xiv] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 3, 2) 59
[xv] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 3, 4) 59
[xvi] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 3, 6) 59
[xvii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 3, 25) 69
[xviii] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 4, 5f) 77
[xix] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 4, 7) 77
[xx] Quintilian, Ausbildung des Redners: Erster Teil, Buch I-VI, (VII, 4, 12) 79
- Arbeit zitieren
- Andreas Glombitza (Autor:in), 2003, Rechtspraxis und Anwaltsberuf in Quintilians Institutio Oratoria: Der 'ideale Redner' vor Gericht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20901
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