Das Vorhandensein einer grundsätzlichen Bereitschaft zum sozialen Engagement wird überwiegend an der Resonanz auf die traditionellen Angebote gemessen, wie zum Beispiel dem freiwilligen sozialen Engagement. Kommt durch die Individualisierung der Bürger die nachlassende Bereitschaft dazu ersatzlos zum Erliegen?
Neben den hier nicht berücksichtigten Formen der herkömmlichen individuellen und familialen Selbsthilfe haben sich neue Muster wechselseitiger Hilfe herausgebildet, wie sie sich u. a. in sozialen Selbsthilfegruppen finden. Traditionelle Werte von sozialem Engagement sind auf Anhieb in einer Selbsthilfegruppe nur schwer erkennbar. Aufopferung, zeitliche Unbegrenztheit, Zurückstellen der eigenen Person und Interessen bis hin zum Altruismus, wie sie sich in der ehrenamtlichen sozialen Tätigkeit zeigen haben hier keine Anwendung.
Der Rückgang traditioneller Normen als Triebfeder sozialen Engagements, der in den ersten beiden Teilen der vorliegenden Broschüre nachgezeichnet werden soll, muss allerdings nicht bedeuten, dass das Engagement in einer Selbsthilfegruppe nichts mehr mit freiwilligem sozialem Ehrenamt zu tun hat. Es soll vielmehr nachgewiesen werden, dass durch die Selbsthilfegruppe neue Formen freiwilligen sozialen Engagements entstanden sind, die sich vom traditionellen Ehrenamt in Motivation und Strukturen grundlegend unterscheiden.
Inhalt
I Einleitung
II Merkmale und historische Entwicklung des sozialen Ehrenamts
III Rückgang traditioneller sozialer Hilfeleistung und ehrenamtlicher Tätigkeit
IV Zunehmender Bedarf an Lebenshilfen
V "Neues" soziales Engagement
VI Soziale Selbsthilfegruppen
a) Bestimmungselemente
b) Arbeitsweise
c) Motivation am Beispiel der Gruppenselbstbehandlung
VII Vom freiwilligen Ehrenamt zum solidarischen Handeln. Neue Begriffe für neue Formen freiwilligen sozialen Engagements
VIII Fußnoten
IX Literaturverzeichnis
I Einleitung
Das Vorhandensein einer grundsätzlichen Bereitschaft zum sozialen Engagement wird überwiegend an der Resonanz auf die traditionellen Angebote gemessen, wie zum Beispiel dem freiwilligen sozialen Ehrenamt. Kommt durch die Individualisierung der Bürger die nachlassende Bereitschaft dazu ersatzlos zum Erliegen?
Neben den hier nicht berücksichtigten Formen der herkömmlichen individuellen und familialen Selbsthilfe haben sich neue kulturelle Muster wechselseitiger Hilfe herausgebildet, wie sie sich u. a. in sozialen Selbsthilfegruppen finden. Traditionelle Werte von sozialem Engagement sind auf Anhieb in einer Selbsthilfegruppe nur schwer erkennbar; Aufopferung, zeitliche Unbegrenztheit, Zurückstellen der eigenen Person und Interessen bis hin zum Altruismus, wie sie sich in der ehrenamtlichen sozialen Tätigkeit zeigen, haben hier keine Anwendung.
Der Rückgang traditioneller Normen als Triebfeder sozialen Engagements, der in den ersten beiden Teilen der vorliegenden Arbeit nachgezeichnet werden soll, muß allerdings nicht bedeuten, daß das Engagement in einer Selbsthilfegruppe nichts mehr mit freiwilligem sozialen Ehrenamt zu tun hat. In der folgenden Arbeit soll vielmehr nachgewiesen werden, daß durch die Selbsthilfegruppen neue Formen freiwilligen sozialen Engagements entstanden sind, die sich vom traditionellen Ehrenamt in Motiven und Strukturen grundlegend unterscheiden.
II Merkmale und historische Entwicklung des sozialen Ehrenamtes
Durch das "Elberfelder Modell" um 1850 wurde Armenfürsorge von einer kirchlichen zur kommunalen Aufgabe. Die Kommune setzte Armenpfleger ein. Mit Hausbesuchen überprüften sie die Bedürftigkeit der Antragsteller und Bezieher von Armenfürsorge und gewährten Lebensunterhalt. Zudem kontrollierten sie den Lebenswandel der Armen und gaben Unterstützung zur Beseitigung der Notlage. Organisiert wurde das ganze von der Armendirektion (heute Sozialamt). 1) Die Armenpfleger waren ursprünglich rein ehrenamtlich tätige Bürger. Ein ehrenhaftes Leben, das sich auf Prinzipien wie "Verdienst" und "Leistung" gründete, war die Voraussetzung für die Vergabe eines solchen Amtes. 2)
Parallel dazu entstand die freie Wohlfahrtspflege wie "Innere Mission" und "Rotes Kreuz", denen gegen Ende des Jahrhunderts die "Katholische Caritas" und der "Paritätische Wohlfahrtsverband" folgten. Auch hier wurde und wird ebenso heute noch ein Teil der Arbeit ehrenamtlich geleistet.
Religiöse Motivation, Mitverantwortung für den Nächsten und die Gemeinschaft, sowie - oft von Familienangehörigen - übernommene Auffassung von der sozialen Betätigung als ethische Pflicht sind überwiegende Beweggründe für die Tätigkeit der Ehrenbeamten. 3) Das Engagement ist institutionell eingebunden und mehr oder weniger von Bedürfnissen und Strukturen der jeweiligen Organisation geprägt, aber nicht mit einer Entlohnung verbunden. Ehrenamtliche Hilfe ist eine Form der Fremdhilfe, die sich jenseits von Verpflichtungen aufgrund familialer oder verwandtschaftlicher Beziehungen vollzieht. Heute findet sie sich in der Erbringung unmittelbarer persönlicher Dienstleistungen (innerhalb des organisierten Rahmens), in der Übernahme von Vormundschaften und Pflegschaften, umfaßt Tätigkeiten in sozialen Vorständen und Ausschüssen, als Bewährungshelfer und in Kirchengemeinden.
Mit dem Begriff ehrenamtliches soziales Engagement wird heute die Vielzahl persönlicher Hilfen bezeichnet, die ehrenamtliche Mitarbeiter/innen zur Bewältigung der Folgen von Krankheit, Behinderung und Pflegebedürfigkeit sowie zur Bearbeitung sozialer Probleme leisten. Der/Die Ehrenamtliche übernimmt eine in der Organisation des Trägers in der Regel fest "verplante" Funktion, die er/sie selber nur begrenzt gestalten und den eigenen Bedürfnissen anpassen kann.
III Rückgang traditioneller sozialer Hilfeleistung und ehrenamtlicher Tätigkeit
Wie eingangs festgestellt, wird das Vorhandensein einer grundsätzlichen Bereitschaft zum sozialen Ehrenamt an der Resonanz der Bürger auf die traditionellen Angebote gemessen. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände hat die Bereitschaft zu kontinuierlicher ehrenamtlicher Tätigkeit in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Der Rückgang der Zahl ehrenamtlich Tätiger basiert aber nicht auf empirischen Erhebungen, sondern ist aus den Äußerungen von Verbandsvertretern ersichtlich. Geschätzt wird sie auf etwa 1,5 Millionen; ein Drittel davon sind Männer, zwei Drittel Frauen. 4) Die Mitarbeiter der freien Wohlfahrtspflege müssen immer häufiger feststellen, daß sich die ehrenamtlichen Mitarbeiter aus den Einrichtungen und Diensten zurückziehen. Hinter den nicht genau festzumachenden quantitativen Verlusten des Ehrenamtes steht auch ein qualitativer Schwund. Konstatiert wird eine nachlassende Bereitschaft, sich auf zeitlich und inhaltlich umfangreiche und verpflichtende Tätigkeiten einzulassen ( vgl. Bilanz Zwischenbericht BAG 1985).
Freiwillige Hilfsbereitschaft ist scheinbar zurückgegangen. Sicherheit, Zusammenhalt und Versorgung durch die Familie ist größtenteils zerfallen. 5) Traditionelle Verwurzelungen und deren soziale Bindungen (Freunde, Nachbarn) werden auch durch die Mobilität, die der Arbeitsmarkt erzwingt, aufgelöst. Frauen nehmen am Arbeitsmarkt teil und leisten nicht mehr selbstverständliche Hilfe in Familie, Nachbarschaft oder ehrenamtlich in Verbänden und Kirchen. Letztere sind zudem oft als Sinnvermittler durch freiwillige soziale Arbeit in Frage gestellt. "Es wächst die Neigung, Freizeit ohne Einschränkung zu genießen. Soziale Verantwortung wird weniger übernommen, man macht sich von gegenseitiger Hilfeleistung unabhängig durch bezahlte Dienstleistungen." 5)
Als Parallele dazu wurde zu lange der Staat als verantwortlich für die soziale Versorgung diskutiert. "Soziale Verpflichtungen werden wegindividualisiert, da durch sie der Freizeitspaß aufhört ." 6) Der private Vorteil gilt als Grundgesetz, Gemeinsinn dagegen als "Blödheit". Und gar Hans Küng mit seiner Aussage: "Die antiautoritäre Erziehung/Nichterziehung hat auch nach der Auffassung mancher ihrer Vertreter ihr Ziel kaum erreicht: Weniger eine mündige, sozial und ökologisch engagierte, politisch hochmotivierte Jugend ließ man da 'heranwachsen', als eine zuallererst egozentrische, konsumorientierte und im schlimmsten Fall gewalttätige und fremdenfeindliche Generation (...)" 7)
Lust an der ehrenamtlichen Tätigkeit in Verein, Kirche, Partei oder Gewerkschaft haben eigentlich nur noch die Rentner (9%) und die ältere Generation von 50 - 64 Jahren (8%) sowie Mitglieder der Vier-Personenhaushalte (8%). 8) Solches Engagement findet als Freizeitaktivität bei den übrigen Bevölkerungsgruppen deutlich weniger Interesse. Die Zentralwerte des herkömmlichen Ehrenamtes wie christliche Nächstenliebe, Klassensolidarität und Humanität verlieren an Bedeutung.
IV Zunehmender Bedarf an Lebenshilfen
Das gegenwärtige System der sozialstaatlichen Absicherung und Bewältigung sozialer und gesundheitlicher Problemlagen ist den gesellschaftlichen Veränderungen nur noch teilweise gewachsen. Demographischer Wandel, chronisch degenerative Krankheiten und die Veränderung sozialer Netze bilden dazu die Herausforderung. Wenn informelle Netzwerke wie die Familie ebenso wie traditionelle Milieus, Nachbarschaften etc. an Kraft verlieren, wird der Sinnvermittlungsbedarf in der Privatsphäre größer. Zunehmende Krisenhaftigkeit von Identitätsbildung und Isolation sind Begleiterscheinungen. Pluralisierung bringt auf den verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit Instabilität hervor - im Extremfall auch in einem psychiatrisch relevanten Sinn.
So werden Schuldnerberatungsstellen von immer mehr Menschen aufgesucht, die in der Familie oder anderen traditionellen Solidargemeinschaften keine finanzielle Rükendekung mehr erhalten. Ein weiteres Beispiel sind Menschen, denen die grundlegenden Wandlungen im Geschlechterverhältnis feste Orientierungen für Sexualität und Partnerschaft entzogen haben. Diese Gruppe braucht in zunehmendem Maße Entscheidungshilfen im Bereich Sexual-, Schwangerschafts- und Ehe/Lebensberatung. Lösen sich traditionelle Familienbindungen auf, geht Kindern vielfach die Orientierung am elterlichen Vorbild verloren; sie benötigen dann Rat und Unterstützung in einem anderen Kontext.
Menschen, die nicht in der Lage sind, immer neu problemadäquate soziale Beziehungen aufzubauen, müssen dabei Hilfestellung erhalten - etwa in Form von Selbsthilfegruppen Betroffener.
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- Arbeit zitieren
- Maria-Margareta Weitzig (Autor:in), 1997, Vom Ehrenamt zur Selbsthilfegruppe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20899
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