0 Inhaltsverzeichnis S. 01
1 Einleitung S. 02
2 Die Ereignisse um „1968“ S. 03
2.1 „1968“ aus historischer Perspektive S. 04
2.2 Der Studentenprotest als soziale Bewegung S. 07
3 Massenmedien und Protestbewegung S. 11
3.1 Massenmedien und Protestbewegung: Eine symbiotische Beziehung? S. 11
3.2 Ereignisinszenierung in der Öffentlichkeit S. 15
4 Die Selbst- und Fremddarstellung von Rudi Dutschke und
der Kommune 1 in der Öffentlichkeit S. 19
4.1 Rudi Dutschke S. 19
4.2 Die Kommune 1 S. 22
5 Fazit S. 24
6 Literatur S. 26
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Ereignisse um „1968“
2.1 „1968“ aus historischer Perspektive
2.2 Der Studentenprotest als soziale Bewegung
3 Massenmedien und Protestbewegung
3.1 Massenmedien und Protestbewegung: Eine symbiotische Beziehung?
3.2 Ereignisinszenierung in der Öffentlichkeit
4 Die Selbst- und Fremddarstellung von Rudi Dutschke und der Kommune 1 in der Öffentlichkeit
4.1 Rudi Dutschke
4.2 Die Kommune 1
5 Fazit
6 Literatur
1 Einleitung
„Die Studenten- und Jugendbewegung der 60er Jahre ist die erste Protestbewegung, die ihre öffentlichen Protestformen theoretisch und praktisch an den Voraussetzungen der Massenmedien ausrichtet.“ (Fahlenbrach 2002, S. 176)
Die Verbindung von Protestbewegung und Massenmedien Ende der 1960er Jahre nimmt deshalb auch in der Forschung zur Deutung und Bedeutung dieser beiden Phänomene eine besondere Rolle ein. Nicht nur die Deutung der Chiffre 1968, sondern auch die Art der Wechselbeziehung zwischen der 68er-Bewegung und den etablierten Massenmedien ist bis heute umstritten. Auch, weil die Darstellung und Aufarbeitung der 68er-Bewegung damals wie heute vor allem durch die Medienberichterstattung geprägt ist. Jubiläumsbeiträge, Dokumentationen, Interviews mit ehemaligen Akteuren usw. - alles trägt zur Wechselhaftigkeit der Bedeutungszuweisungen bei. „Jedes bedeutende historische Ereignis hat im Rückblick mehrere Gesichter.“ (Sösemann 1999, S. 673) Die Wechselbeziehung von 68er-Bewegung und Massenmedien bestimmt deshalb auch gegenwärtig eine jeweils andere Sichtweise auf die damaligen Ereigniszusammenhänge.
Das Ziel dieser Arbeit ist die Analyse dieses Wechselverhältnisses von 68er-Bewegung und etablierten Massenmedien Ende der 1960er Jahre in den Bundesrepublik Deutschland. Der Fokus liegt auf den medienwirksamen Akteuren Rudi Dutschke und der Kommune 1. Zunächst wird ein kurzer Rückblick auf die Geschehnisse um 1968 gegeben. In diesem Zusammenhang wird auch die inhaltliche Bedeutung der Chiffre 1968 untersucht. Da die Studenten- und Jugendbewegung die erste soziale Bewegung in der Bundesrepublik war, die gezielt die Medien für die Herstellung von Öffentlichkeit nutzt, wird der Begriff soziale Bewegung analysiert. Im 2. Kapitel folgt eine kurze Darstellung der Entwicklung der Medienlandschaft in den 1960er Jahren. Anschließend wird die Wechselbeziehung von Massenmedien und Protestbewegung anhand von Proteststrategien und Ereignisinszenierungen in der Öffentlichkeit untersucht. Am Beispiel von Rudi Dutschke und der Kommune 1 soll dann analysiert werden, auf welche Weise die Akteure/Akteursgruppen der Protestbewegung die Medien zur Herstellung von Öffentlichkeit und zur Durchsetzung ihrer Ziele genutzt haben. Konnten beide dabei die Deutungsmacht über ihre Person und Aktionen in der Öffentlichkeit steuern oder haben die Massenmedien ein ganz anderes öffentliches Bild von Rudi Dutschke und der Kommune 1 produziert? Wer konnte am Ende die Deutungsmacht in der Öffentlichkeit übernehmen?
2 Die Ereignisse um 1968
„Was „68“ war, ist seit jeher umstritten. Was davon blieb, ist Gegenstand nicht endender Debatten.“ (Frei 2008, S. 209)
Mit dem Jahr „1968“ verbinden Menschen weltweit ähnliche Schlagworte: Studentenbewegung, Protest, Revolution, Generationskonflikt, neue Lebensstile, freie Liebe und viele andere. Die symbolische Jahreszahl 1968 oder nur 68, die 68er-Generation oder die 68er-Bewegung haben sich tief in das historische Gedächtnis eingebrannt und selbst jüngere Generationen können heute Stichworte, Parolen, Bilder oder Personen mit diesem historischen Ereignis verknüpfen (Vgl. Hecken 2008, S. 7). Ein Grund dafür ist vor allem die mediale Aufbereitung seit vier Jahrzehnten. Durch wiederkehrende Jubiläumsbeiträge im Fernsehen, in Printmedien oder Ausstellungen wird die Geschichte der 68er-Bewegung immer wieder dargestellt. Auf dem Cover des Wochenmagazins STERN zum Thema „60 Jahre Bundesrepublik - Eine opulente Zeitreise von 1949-2009“ prangt deshalb auch die halbnackte Uschi Obermaier, sinnbildlich für die sexuelle Revolution in den 1960er Jahren (Vgl. Stern EXTRA 1/2009). Doch bieten diese Jubiläumsausgaben und die mannigfaltigen Artikel, Dokumentationen, Bildbände, Meinungen und auch Deutungen über 1968 einen wahren Blick auf die komplexen Geschehnisse? Oskar NEGT schreibt dazu, dass jedes von den Medien gestaltete „Rückerinnerungsdatum“ die Ereignisse verdreht, Perspektiven verzerrt und retuschiert, um die Erinnerung an das heutige Bild von 1968 anzupassen (Negt 2008, S. 3). Es sind die immer wieder gleichen Bilder über 1968, die aus den Archiven geholt werden und die immer wiederkehrenden Aussagen zu der „68er-Generation“, welche die gegenwärtige Erinnerung prägen. Immer präsent sind die Bilder der protestierenden Studenten oder die, der nackten Kommunarden und die Schlagworte: jugendlicher Protest, generationelle Revolte oder sexuelle Befreiung, die fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses1 von Generationen sind. Ebenso mannigfaltig wie die massenmediale Aufbereitung sind kritische Auseinandersetzungen zur Deutung, Bewertungen und Bezeichnungen der 68er- Bewegung vieler Autoren aus historischer, kultureller, sozialwissenschaftlicher, medienwissenschaftlicher oder auch politischer Perspektive. Doch auch hier gibt es nach 40 Jahren einen Meinungskampf um die Deutungshoheit der 68er-Bewegung, denn 1968 ist vieldeutig, es polarisiert, es ist umstritten und es erregt die Gemüter. So schreibt Albrecht von LUCKE, dass vor allem im Jubiläumsjahr 2008 wie seit Jahren nicht mehr „um die Bedeutung von 1968 gestritten wird“ und die Frage, wofür 1968 steht, bis heute „gewaltige emotionale Energie“ freisetzt (Lucke 2008, S. 25).
Für eine Betrachtung von 1968 aus historischer Perspektive stehen mir deshalb auch „Gebirge von Literatur“ zur Verfügung, wie es Axel SCHILDT in einem Artikel in der Zeit schreibt (Vgl. Schildt 2008, S.1). In der folgenden Beschreibung von 1968 können deshalb nicht alle Aspekte der Geschehnisse einbezogen werden. Der Fokus in der Darstellung liegt auf der Bedeutung des Begriffs oder des Synonyms 1968 und den entscheidenden Entwicklungen, die den Ausgangspunkt für die Proteste zwischen 1967 und 1969 in der Bundesrepublik Deutschland darstellen. 1968 ist zwar kein rein deutsches Kapitel der Geschichte, jedoch können wegen der mehrjährigen Vorgeschichte, die außerdem uneinheitlich, entwicklungsbetont, vielgestaltig und von internationalem Zuschnitt ist, nicht alle Aspekte und Ereignisse berücksichtigt werden.
2.1 „1968“ aus historischer Perspektive
Die Studenten- und Jugendbewegung der 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland wird oft unscharf unter dem Begriff 1968 zusammengefasst. Jedoch hat sich diese Bezeichnung erst zu Beginn der 1980er Jahre durchgesetzt. Vorher pendelten die Benennungen zwischen Studentenbewegung, außerparlamentarische Opposition (APO), Revolte und Rebellion (Vgl. Kraushaar 2008, S. 57). 1968 ist somit zum Synonym für alle vorherigen Benennungen geworden. Jedoch birgt die Subsumierung aller Bezeichnungen unter der Jahreszahl 1968 ein zeitliches Problem, denn was als 68er-Bewegung bezeichnet wird, dauerte in Deutschland länger als nur ein Jahr; in manchen anderen Ländern über ein Jahrzehnt und länger (bspw. in den USA). Die Jahreszahl 1968 ist also „eine Chiffre für eine historisch bedeutsame Sequenz von Ereignissen, welche über das jeweils bezeichnete Jahr hinausreicht“ (Rucht 2008, S. 153). Doch auch bei dieser zeitlichen Zusammenfassung aller signifikanten Ereignisse fehlen die sachliche und soziale Dimension von 1968. Es reicht nicht, folgenreiche Ereignisse zusammenzufassen, wenn mit dem Synonym 1968 oder 68er ebenfalls eine ganze Generation, mit neuen Leitwerten, Lebensweisen und Verhaltensmustern assoziiert wird. Norbert FREI schreibt deshalb, dass 68 eine Erfindung ist, die erst im Nachhinein montiert wurde (Vgl. Frei 2008, S. 211). Für ihn steht die Jahreszahl 1968 für kein einzelnes „kritisches Ereignis“ und auch nicht für die „internationale Summe“ aller Momente und Geschehnisse. „68“ ist ein „Assoziationsraum“ für „gesellschaftliche Zuschreibungen“ und somit das Ergebnis von historischen, sozialen, kulturellen, wie auch politischen Interpretationen (Frei 2008, S. 211). Mit der Chiffre 1968 werden also in Deutschland alle komplexen Ereigniszusammenhänge der Jugend- und Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre, inklusive dem gesellschaftlichen Gefüge beschrieben.
Aus historischer Perspektive ist erkennbar, dass sich bereits vor Ende der 1960er Jahre erhebliches Konfliktpotential angestaut hat. Der ökonomische Entwicklungsschub, also der wirtschaftliche Boom („Wirtschaftwunder“) und die Modernisierung in den 1950er und 1960er Jahren („Goldenes Zeitalter“) in der Bundesrepublik Deutschland setzte nicht nur wirtschaftliche sondern auch soziale Transformationen in Gang (Vgl. Klimke 2008, S. 22). Doch im Gegensatz zu diesen ökonomischen, technologischen und sozialstrukturellen Modernisierungsprozessen kommt es zu einem „kulturellen Modernisierungsstau“ (Fahlenbrach 2007, S. 11). Geprägt durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs, verharrt die Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft in Leitwerten und Weltanschauungen, die als „hberlebensprinzipien“ beschrieben werden (G. Schulze 1992, S. 536. in: Fahlenbrach 2002, S. 169). Jedoch entspricht die Orientierung an kulturellen Leitwerten wie Hierarchien, Autoritäten und materieller Existenzsicherung nicht denen der jungen Generation, die sich durch die neuen „sozialstrukturellen Realitäten“ nicht mehr mit den gelebten Werten und Weltanschauungen der Elterngeneration identifizieren kann (Fahlenbrach 2002, S. 169f. und 2007 11f.). Es entsteht eine Kluft zwischen den Generationen, die sämtliche Bereiche des privaten, aber auch des öffentlichen Lebens umfasst. Nicht mehr nur Harmonie und Sicherheit, sondern „Selbsterfahrung, Kreativität und Erlebnisorientierung“ prägen den Lebensstil dieser jungen Generation und es entstehen „kulturelle und habituelle Konfliktlinien“ innerhalb der Familie, im Berufsleben, aber auch auf politischer Ebene und in den Medien (Fahlenbrach 2007, S.12 und 2002, S. 168f.). Der damit verbundene „Generationenkonflikt“ äußert sich in den Protesten der Jugend und deren Forderungen nach Veränderungen. Diese betreffen unter anderem die institutionalisierten Regeln der öffentlichen Ordnung, das autoritäre Staatsverständnis, das Bildungs- und Hochschulsystem, die bestehende Rangordnung zwischen Alt und Jung, die traditionelle Familienorganisation und auch das äußere Erscheinungsbild, wie Kleidungsstil und Haarschnitt. Vor allem die Mitglieder des SDS proklamieren Ende der 1960er Jahre ein neues Demokratieverständnis, im Sinne einer antiautoritär strukturierten Gesellschaft. Das Streben nach individueller Selbstbestimmtheit und die Verbindung von politischen Idealen mit habituellen Leitwerten werden zur universellen Haltung und machen die Rebellion insgesamt zur „identitätspolitischen Revolte“ (Fahlenbrach 2007, 11 und 2002, S. 172). Im Gegensatz dazu verteidigen die Repräsentanten des Staates und auch die (konservative) Mehrheit der Bundesbürger die etablierten Regeln zur Sicherung der bestehenden Grundordnung. Bei Demonstrationen und Protestaktionen greift die Polizei deshalb auch immer wieder besonders restriktiv ein, wie im Mai 1966, als der SDS zu Protesten gegen das menschenverachtende Vorgehen der USA im Vietnamkrieg aufgerufen hatte oder im Jahr 1968, bei den Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze.2 Den Höhepunkt der Konfrontationen zwischen den Vertretern des Staates und den Aktivisten stellen aber die Proteste gegen den Schahbesuch in Berlin 1967 dar, bei denen der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wird. Nach dieser Eskalation gibt es einen massiven Mobilisierungsschub von Studenten und Jugendlichen im ganzen Land (Vgl. Fahlenbrach 2002, S. 168). Es folgen Unruhen in vielen deutschen Städten, denn das gewaltsame Vorgehen der Polizei und der Tod von Ohnesorg symbolisieren bei den Studenten und Jugendlichen - auch bei denen, die sich zuvor nicht interessiert oder beteiligt haben - die in „Willkür ausgearteten, erstarrten Machtverhältnisse“ des Staates und auch die, zwischen den Generationen (Ebd.). Die Konfliktlinien verhärten sich, denn immer mehr Studenten und Jugendliche solidarisieren und identifizieren sich nun mit der Protestbewegung. Die allgemeine Gesellschaftskrise oder der Generationenkonflikt eskaliert zum umfassenden Kulturkonflikt, da die politischen und sozio-kulturellen Konfliktlinien miteinander verbunden, synchronisiert werden (Vgl. Ebd. S. 168f.).
Die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Beginn der 1960er Jahre und auch das schon vorhandene Konfliktpotential aus den 1950er Jahre stellen Grundlagen für die Ereignisse um 1968 dar. Jedoch markiert die Eskalation des Konflikts, darunter der Tod von Benno Ohnesorg (1967), das Attentat auf Rudi Dutschke (1968), die Proteste gegen die Manipulation der Massenpresse (Vgl. Kap. 3) und auch die zahlreichen anderen Demonstrationen vieler Studenten und Jugendliche vor allem im Jahr 1968 den Höhepunkt aller signifikanten Ereignisse. Die Zeitspanne, die in der Bundesrepublik oft als unruhige Jahre bezeichnet wird, dauerte demnach von 1967 bis 1969, als der SDS wegen zu vieler unterschiedlichen Strömungen und auch die Kommune 1, die durch ihre subversiven Aktionen und der entsprechenden Medienpraxis bekannt wurde (Vgl. Kap. 4.2), langsam zerfällt bzw. sich auflöst. Die geballten Ereignisse innerhalb von drei Jahren haben sich fest in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft eingeprägt. Die kalendarische Etikettierung 1968 ergibt sich deshalb aus vielen verschiedenen Vorbedingungen, Ereignissen und auch den vielseitigen und vielschichtigen Deutungen dieser drei Jahre. Gerade die grundlegende Veränderung des „tradierten Politikbegriffs“, seine „Veralltäglichung“, wie auch die „Orientierung auf das Individuum“ zielte auf die Umwälzung aller Bereiche der Gesellschaft (Kraushaar 1998, S. 315). Trotzdem, dass je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Meinungen vertreten und diskutiert werden und trotzdem in anderen Jahrzehnten viel mehr Bürger, z.B. bei der Friedensbewegung, auf die Straße gegangen sind, ist 1968 das bezeichnende Jahr in der bundesdeutschen Geschichte, in dem die Gesellschaft grundlegend in Frage gestellt wurde (Vgl. Ebd).
2.2 Die Studenten- und Jugendbewegung als soziale Bewegung
Verbunden mit dem Problem der zeitlichen Eingrenzung der 68er-Bewegung (Vgl. Kap. 2.1) ist auch die Strukturierung der Trägergruppen des Umbruchs (Vgl. von Hodenberg 2006, S. 8). Außerdem gab es in Deutschland bereits vor Ende der 1960er Jahre jugendkulturelle und studentische Proteste, wie die Friedensbewegung oder auch die Ostermärsche (Vgl. Fahlenbrach 2007, S. 11f.). Trotzdem nimmt die Studenten- und Jugendbewegung der 1960er Jahre eine Sonderolle in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein (Vgl. Ebd., S. 11). Diese Sonderrolle ergibt sich aus der Art und Weise und der neuen Dimension des Protestes. Es ist kein nur politischer Protest, sondern die erste „soziale Bewegung“ in Deutschland, die gesellschaftlich etablierte Werte, Lebensformen und Verhaltensmuster in Frage stellt (Vgl. Ebd.). Dieter RUCHT definiert den Begriff soziale Bewegung als ein
„auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protestes - notfalls bis hin zur Gewaltanwendung - herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“ (zitiert nach Rucht 1994. S. 77. in: Rucht 2008, S. 155)
Eine soziale Bewegung will also eine Gesellschaft im Ganzen oder in wesentlichen Grundmerkmalen verändern oder umgekehrt, bestimmten Veränderungen entgegenwirken. Es muss also einen sozialen Zusammenhang geben, der die Mitglieder der Bewegung miteinander verbindet. Und diese Verbindung wiederum, muss organisatorisch strukturiert sein. RUCHT erklärt, Bewegungen haben Organisationen, sind aber keine Organisation (Vgl. Rucht 2008, S. 155). Der Strukturierungsgrad entspricht nicht dem eines Vereins, einer Partei, o.ä. und es müssen keine formellen Regelungen zur Mitgliedschaft oder Hierarchie festgesetzt sein. Vielmehr ergibt sich die Zugehörigkeit durch gleiche (ideelle) Überzeugungen und ein WIR-Gefühl. Eine soziale Bewegung hat deshalb typischerweise einen „netzwerkförmigen Charakter“ und ein „aktivistisches Element“ zur Mobilisierung dieser „Netzwerke von Netzwerken“ (Ebd., S. 155f.). Da diesen Netzwerken ohne Rechtsnorm oder Rechtsgrundlage institutionelle Zugänge zum politischen Entscheidungssystem, formelle Vetorechte oder auch Geld nur gering oder überhaupt nicht zur Verfügung stehen, stellt das Mittel des Protest die entscheidende Ressource für ein gemeinsames Handeln dar. Soziale Bewegungen sind daher in modernen Gesellschaften „primär Protestbewegungen“, die sich durch aufmerksamkeitserregende Aktionen und Proteste öffentlich äußern und auf die Resonanz im öffentlichen Raum abzielen (Ebd. S. 156). In entwickelten, modernen Gesellschaften sind deshalb auch die Massenmedien für die Verbreitung der Forderungen und Ziele einer sozialen Bewegung in der Massenöffentlichkeit und damit für die Beeinflussung des politischen Entscheidungssystems grundlegend. Eine soziale Bewegung ist deshalb auch eine „politische Bewegung“, in dem Maß, wie „gesellschaftliche Verhältnisse durch staatliche Interventionen beeinflusst und kodifiziert werden“ (Ebd.). Das bedeutet, wenn für eine soziale Veränderung die Aufmerksamkeit und Resonanz der Öffentlichkeit geweckt und dadurch politische Entscheidungen oder politische Entscheidungsträger beeinflusst werden können, kann die Bewegung über diese Öffentlichkeit und das politische Entscheidungssystem auf die Gesellschaft einwirken. Nur Auseinandersetzungen ohne soziale oder politische Motivation können im Sinne einer Rückzugsbewegung dieses Kriterium nicht erfüllen. RUCHT spricht hier von einer religiösen oder auch nur kulturellen Bewegung, die auf keine Auseinandersetzung mit der bestehenden sozialen oder politischen Ordnung abzielt (Vgl. Ebd.).
Wenn also die 68er-Bewegung als soziale Bewegung bezeichnet wird, müssen diese drei konstitutiven Elemente nach RUCHT erfüllt sein: 1. das gemeinsame Ziel nach gesellschaftlicher Veränderung (oder Verhinderung dieser), 2. der Organisation, bzw. dem mindestens netzwerkförmigen Strukturierungsgrad und einem Zusammengehörigkeitsgefühl, 3. einer Ressource, die die Verbreitung des gemeinsamen Ziels in der Öffentlichkeit möglich macht. Wie bereits dargestellt, handelt es sich bei der Chiffre 1968 oder 68er- Bewegung um eine Zusammenfassung aller Ereigniszusammenhänge der Jahre 1967 bis 1969.
[...]
1 Jan Assmann bezeichnete das kulturelle Gedächtnis als „Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten [...], in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt.“ (Assmann, Jan (1988). Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. in: Assmann/Hölscher (Hrsg.). Kultur und Gedächtnis. Suhrkamp. Frankfurt am Main. S. 9.
2 Vgl. Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968, verkündet am 27. Juni 1968 ("Notstandsgesetze") in: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_gesetzNotstandsgesetze/index.html.
- Citar trabajo
- M.A. Franziska Ehring (Autor), 2009, Ereignisinszenierungen des Protests in den Medien um ´68, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206873
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