In dieser wissenschaftlichen Arbeit wird anhand konkreter Beispiele aus Gegenwart und Vergangenheit die Adaption der Befreiungspädagogik Paulo Freires auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und dem übrigen Europa untersucht. Allein die Tatsache, dass Brasilien, das Heimatland Paulo Freires, gemeinhin zu den Schwellenländern der "Dritten Welt" gezählt wird, wirft Fragen hinsichtlich der Übertragbarkeit dieser Methodik auf die Soziale Arbeit und die Begebenheiten in Europa auf. Ist eine Pädagogik, die aus der "Dritten Welt" stammt, kompatibel mit den Industriegesellschaften der "Ersten Welt"? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen diesen beiden Welten? Wie verliefen Freires Projekte der Befreiungspädagogik in den Entwicklungs- und Schwellenländern sowie in Europa? Eines der bedeutensten Zitate Freires setzt die Übertragbarkeit dieser Methodik in den Bereich des Möglichen: "Auch in der Ersten Welt gibt es eine Dritte Welt!"
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung/Fragestellung
2. Die Befreiungspädagogik Paulo Freires
2.1 Zur Person Paulo Freires
2.2 Gesellschafts- und Menschenbild
2.3 Widerspruch zwischen Unterdrückern und Unterdrückten
2.3.1 „ Bankiers-Methode “ als Form unterdrückerischer Bildungsarbeit
2.3.2 „ Kultur des Schweigens “
2.3.3 „ Kulturelle Invasion “
2.4 Problemformulierende Methode
2.4.1 Aufhebung des Widerspruchs zwischen Lehrer und Schüler
2.4.2 Bewusstseinsmachungsprozess als Enthüllung der Wirklichkeit
2.4.3 Dialog als Form der Bewusstseinswerdung
2.4.4 Verhältnis revolutionärer Führer zum Volk
2.4.5 Methodisches Vorgehen
2.4.6 Anwendung der Befreiungspädagogik in den Entwicklungsländern
2.5 Zusammenfassung antidialogische und dialogische Aktion
3. Zur Übertragbarkeit der Konzeption Paulo Freires auf die Erste Welt
3.1 Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt
3.1.1 Ökonomie
3.1.2 Politik
3.1.3 Sozialstruktur
3.2 Gemeinsamkeiten zwischen Erster und Dritter Welt
3.2.1 Ökonomie
3.2.2 Politik
3.2.3 Sozialstruktur
3.3 Projekte und praktische Übertragungsversuche
3.3.1 Die „ Freiburger StrassenSchule “ als Projekt der Straßenpädagogik
3.3.2 Theaterpädagogische Projekte
3.3.2.1 Europäische Projekte des „ Theaters der Unterdrückten “ nach Augusto Boal
3.3.2.2 Das Theaterprojekt „ Klatschmohn “
3.3.3 Projekte im Bereich der Erwachsenenbildung
3.3.3.1 Sprachkursprogramme mit ausländischen Arbeitern
3.3.3.2 Adaptionsversuche der Freire'schen Methodik in der Elternbildung
3.3.4 Projekte im Bereich der Gemeinwesenarbeit
3.3.5 Der Ansatz IRFED als schulorientiertes Projekt
4. Fazit/Schlusswort
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung/Fragestellung
Seit Beginn der 1990er-Jahre, kurz nach dem Niedergang des „ real existierenden Sozia- lismus “, setzt sich weltweit das neoliberale Wirtschaftssystem durch. Das Credo des freien Marktes scheint die alten Ideen einer gerechteren Weltordnung, wie sie z. B. der Marxis- mus vorsah, vorerst verdrängt zu haben. Alte Werte westlicher bürgerlich parlamentari- scher Systeme wie ein umfassender Wohlfahrtsstaat haben mehr und mehr ausgedient und sind offensichtlich der herrschenden politischen Klasse ein Dorn im Auge. Einschnitte vor allem im sozialen und im Bildungsbereich werden immer tiefer. Im Studienbereich ist seit 1999 der Bologna-Prozess mit der Bachelorisierung der Studiengänge in vollem Gan- ge. Dies führte wegen der zunehmenden Verschulung des Studiums und der Anhäufung des Lernstoffs aufgrund kürzerer Studiengänge neuerdings zu Protesten seitens der Stu- denten. Die PISA-Studie zeigt schwache Lernstände vor allem bei Schülern in Deutsch- land auf, die in Zusammenhang mit der immer geringer werdenden Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Milieus im schulischen Bereich stehen.1 Laut ei- ner Sonderauswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung (OECD, engl.: Organisation for Economic Cooperation and Development) weisen vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund deutliche Kompetenzschwächen in schu- lischen Leistungen auf.2 Allerdings formierte sich seit dem 1. Januar 1994 mit dem gleich- zeitigen Beginn des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA, engl. North American Free Trade Agreement) zwischen den USA, Kanada und Mexiko erstmals ein größerer Widerstand gegen die neoliberale Ordnung, als sich im mexikanischen Bundes- staat Chiapas die indigene Landbevölkerung mit Unterstützung der Zapatistischen natio- nalen Befreiungsarmee (EZLN, span. Ejército Zapatista de Liberación Nacional) gegen dieses Freihandelsabkommen zur Wehr setzte.3 Auch die später folgende antikapitalisti- sche, globalisierungskritische Bewegung konnte um die Jahrtausendwende durch ver- mehrte Aktionen und Demonstrationen wie im Jahre 2000 in Prag und Seattle und im Jah- re 2001 in Genua in der Öffentlichkeit vermehrt Beachtung und Aufmerksamkeit erlangen.4
Im Zuge dieser Widerstandsbemühungen und in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise könnte die Möglichkeit bestehen, dass die in dieser Arbeit behandelte „ Pädagogik der Un- terdrückten “ des brasilianischen Pädagogen und Erziehers Paulo Freire, auch Befreiungs- pädagogik genannt, in der Sozialen Arbeit eine neue Renaissance erlebt. Doch die Reali- tät in der Sozialen Arbeit sieht oft anders aus und scheint sich auch im Zuge einer Neoli- beralisierung der Weltwirtschaft in die Richtung einer verstärkten Ökonomisierung zu be- wegen, indem privatwirtschaftliche Elemente eingeführt werden. Begriffe wie „ Sozialmana- gement “, „ Case-Manager “ oder „ Kunden “ als Ersatzbegriff für hilfebedürftige Menschen er- halten zunehmend Einzug in die Soziale Arbeit von heute. Der Ansatz von Paulo Freire, der schon in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts größeren Einfluss in die Pädagogik genommen hatte, jedoch anscheinend verloren gegangen ist, wäre deswegen durchaus eine Alternative.
Somit ergibt sich die Fragestellung, ob die Befreiungspädagogik Paulo Freires, die von sich aus den Anspruch erhebt, den Menschen vollständig zu befreien, auf die Verhältnisse von Industriegesellschaften wie die unsrige übertragen werden kann. Kann man eine Päd- agogik, die vom Ausgangspunkt der extremen Unterschiede zwischen Arm und Reich in Brasilien erdacht wurde, auf die hiesigen Verhältnisse, in denen die Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen durch größeren Wohlstand weniger deutlich werden, anwen- den?
Im ersten Teil dieser Arbeit wird zunächst die Befreiungspädagogik Paulo Freires vorge- stellt. Bezogen wird sich in diesem Kapitel hauptsächlich auf das von ihm geschriebene Werk „ Pädagogik der Unterdrückten “. Einer Analyse zur Person Freires sowie dessen Ge- sellschafts- und Menschenbild folgen die ausführlicheren Beschreibungen zuerst der anti- dialogischen Aktion unter der Überschrift des Widerspruchs zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, danach die der dialogischen Aktion, dargestellt durch die problemformulie- rende Methode.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich zuerst mit den Untersuchungen von Gemein- samkeiten sowie Unterschieden zwischen Erster und Dritter Welt, danach mit konkreten Adaptionsversuchen und Projekten der Befreiungspädagogik Freires in Europa. Sie stam- men hauptsächlich aus den 1970er-Jahren. Bei nur wenigen Projekten dieser Art existiert der Nachweis, dass sie heute noch Bestand haben. Es soll im zweiten Teil geprüft werden, ob diese Übertragungsprojekte erfolgreich waren oder sind und ob eine Adaption der Be- freiungspädagogik oder gewisser Elemente davon auf unsere Verhältnisse in der Sozialen Arbeit möglich ist.
2. Die Befreiungspädagogik Paulo Freires
Es stellt sich zuerst die Frage, was unter Befreiungspädagogik oder Pädagogik der Unter- drückten zu verstehen ist. Ein ganz entscheidender Aspekt dieser Pädagogik ist der, dass man pädagogisches Handeln voll und ganz im Sinne der Unterdrückten und vor allem mit ihnen und nicht für sie durchführt. „ Voll und ganz im Sinne der Unterdrückten “ bedeutet eine volle Bewusstseinsbildung bei den Unterdrückten auszulösen, damit sie ihre Situation als Problem erkennen und somit ein kritisches Bewusstsein ihrer eigenen Lebenswelt und der Welt allgemein erlangen. Ein weiterer Aspekt ist die Wiedergewinnung ihrer Mensch- lichkeit hin zu ihrer Selbstbefreiung, was zu einer offenen Gesellschaft führen soll, in der die Einteilung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten aufgehoben ist.5 Aus diesem Grund ist Freire der festen Überzeugung, dass Erziehung und Pädagogik niemals neutral sein können: sie dienen entweder der herrschenden unterdrückenden Ordnung oder der Befreiung der Unterdrückten. Ob es das eine oder das andere ist, hängt nicht von der Sichtweise der Lehrer und Pädagogen ab, sondern davon, welche Methodik in der Erzie- hung angewandt wird, d. h. mit welcher Haltung der Lehrende dem Lernenden gegenüber tritt.6 Für Freire ist die Befreiungspädagogik der Weg, um Pädagogik an der Seite der Un- terdrückten zu vollziehen, denn die Pädagogik der Unterdrückten ist „ ein Instrument für ihre kritische Entdeckung, dass in ihnen und in ihren Unterdrückern die Enthumanisierung Gestalt angenommen hat. “7
2.1 Zur Person Paulo Freires
Im nachfolgenden Abschnitt erfolgt ein kurzer Abriss über Paulo Freires Leben und Wirken zum besseren Verständnis seiner Theorie und Denkensweise. Paulo Freire wurde am 19. September 1921 in Recife, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Pernambuco, als Sohn eines Militärpolizeibeamten geboren. Er lernte von seinem Vater den Grundsatz, dass Lehrer und Schüler sich gegenseitig respektieren sollten, was einer der Gründe für die Entwicklung der Befreiungspädagogik war. Daher sah Freire seinen Vater als seinen ersten Lehrer an. Obwohl der Bundesstaat Pernambuco zu den ärmsten Regionen Brasili- ens gehörte, wuchs Paulo Freire in der Mittelschicht auf. Die Familie geriet jedoch 1929 im Zuge der Weltwirtschaftskrise in große wirtschaftliche Not. Freire musste erfahren, was es bedeutet zu hungern, was ihn auch innerlich mit den Menschen, die in Elendsvierteln leb- ten, verband.8 Freire studierte später Jura und wurde Rechtsanwalt. Diese Tätigkeit gab er jedoch auf, weil er erkannte, dass das geltende Recht hauptsächlich für die Eigentümer konzipiert war, die im Kampf gegen die Armen ausschließlich ihr Eigentum verteidigen. Durch die Erkenntnis der sozialen Lage in Brasilien und seiner zweiten Tätigkeit als Se- kundarschullehrer gelangte Freire aufgrund seiner Erfahrungen mit Kindern und Eltern zur Einsicht, dass der Lehrer in erster Linie mit dem Volk in den Dialog treten und vom selbi- gen lernen müsse. 1944 heiratete Freire die Volksschullehrerin Elza María Costa da Oliveira. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor. Durch seine Frau kam er verstärkt auch beruflich mit pädagogischen Fragen in Kontakt. Ab 1947 begann Freire seine zehn- jährige Tätigkeit für den Sozialdienst der Industrie (SESI, engl. Social Service of Industry), wo er den Posten als Direktor der Abteilung für Erziehung und Kultur innehatte. Während dieser Zeit hatte Freire verstärkten Kontakt mit ärmeren Kindern und deren Familien. Durch diese Erfahrungen wurden seine Vorstellungen von Erziehung beeinflusst. Bekannt wurde Freire erst Anfang der 60er-Jahre durch seine in der Bewegung für Volkskultur groß angelegten Alphabetisierungskampagnen für Erwachsene in der Region Recife, welche ab 1963 auch landesweit durchgeführt wurden. 1964 jedoch fanden diese Alphabetisierungs- kampagnen durch den Putsch der Militärjunta in Brasilien ein jähes Ende, was wahr- scheinlich die Alphabetisierung von ca. zwei Millionen Menschen in Brasilien verhinderte.9 Paulo Freire kam kurze Zeit später für 75 Tage ins Gefängnis, ehe er des Landes verwie- sen wurde und nach Chile emigrierte. Dort setzte er seine Alphabetisierungskampagnen, unterstützt von den Regierungen Eduardo Frei und Salvador Allende, mit Landarbeitern fort. Nach seiner Gastdozentur in Harvard Ende der 1960er-Jahre wurde Freire ab 1970 Bildungsberater beim Ökumenischen Weltrat der Kirchen in Genf. Dabei leitete Freire das „ Institut d'Action Culturelle “, welches sozial- und kulturpolitische Entwicklungsmodelle aus- arbeitete. Durch seinen Einfluss im Weltkirchenrat wirkte Freire ab Mitte der 1970er-Jahre in ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika wie Guinea-Bissau, Angola, Cap Verde und São Tomé e Príncipe auf dem Tätigkeitsfeld der Alphabetisierung für Erwachsene weiter. Noch vor dem Ende der Militärdiktatur kehrte Freire 1980 nach Brasilien zurück und begann mit der Lehrtätigkeit an zwei Universitäten in São Paulo. Auch politisch wirkte er, indem er der brasilianischen Arbeiterpartei PT (port. Partido dos Trabalhadores) beitrat und sogar das Amt des Kulturministers im Bundesstaat São Paulo bekleidete. 1986, im Todesjahr seiner ersten Frau, erhielt Paulo Freire den UNESCO-Preis für Friedenserzie- hung. Freire heiratete zwei Jahre später Ana Maria Araujo, die sich bis heute für die Ver- breitung seiner Ideen einsetzt. Dreiundzwanzig Mal wurde ihm die Ehrendoktorwürde ver- liehen. Paulo Freire wirkte an der Katholischen Universität von São Paulo weiter bis zu seinem Tod am 2. Mai 1997.10
2.2 Gesellschafts- und Menschenbild
Das Gesellschaft- und Menschenbild von Paulo Freire wird nachfolgend behandelt, da es grundlegend für das Verständnis seiner Pädagogik ist. Freire betrachtet den Menschen in seinem Menschenbild grundsätzlich als handelndes Subjekt in „ kritischer Relation “ mit der Welt. Zum einen bezeichnet er den Menschen als ein Grenzwesen, da die menschliche Bestimmung nach Ansicht Freires im Mehr-Werden liegt. Er lehnt sich dabei eng an die Definition von Alvaro Viera Pinto an. Dieser sieht Grenzsituationen nicht als „ ü bersteigba- re Grenzen “, „ wo die Möglichkeiten enden “, sondern als „ reale Grenzen, wo die Möglich- keiten erst beginnen “. Kurz gesagt soll die Grenzlinie die Linie sein zwischen Sein und Mehr-Sein und nicht zwischen Sein und Nichts.11 Die Überschreitung dieser Grenzlinie wird also als ein Akt fortschreitender Menschwerdung durch Mehr-Sein gesehen, als Her- ausforderung, die eigenen Möglichkeiten und persönlichen Ressourcen zu nutzen. Diese Menschwerdung kann sich jedoch in unterschiedlicher Weise vollziehen, wenn man die Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte einteilt. Beiden Menschengruppen ist die Lie- be zur Verdinglichung gemein, d. h. beide schauen aufgrund des Einflusses der westlichen Kultur vorwiegend auf materielle Dinge. Die Unterdrücker wollen ihre Besitzverhältnisse erhalten und verteidigen, um das, was sie besitzen, immer weiter zu vermehren. Laut Frei- re möchte diese Gruppe am liebsten alles besitzen, auch auf Kosten derer, die nichts be- sitzen: „ Für die Unterdrücker ist das einzig Wertvolle, mehr zu haben - immer mehr, selbst um den Preis, dass die Unterdrückten wenig oder gar nichts haben. Für sie ist Sein gleich Haben, und Sein bedeutet für sie, die Klassen der 'Habenden' zu sein. “12 Die Unterdrück- ten möchten aus der Situation der Unterdrückung ausbrechen, sehen jedoch ihren eige- nen Unterdrücker als Vorbild und deren Lebensstil als reizvoll an. In dieser Grenzüber- schreitung vom Zustand der Unterdrückung hin zum Unterdrücker sieht der Unterdrückte vor der wahren befreienden Bewusstseinsbildung seine Menschwerdung. Freire erkennt aus dem inneren Bild des Unterdrückten, dass dieser eben nur Mensch sein könne, wenn er in die Rolle des Unterdrückers schlüpft. Der Unterdrücker wohnt quasi in ihm, was aus Freires Sicht in den Widersprüchen der existentiellen Situation unterdrückter Menschen in- nerhalb der aktuell existierenden Klassengesellschaft ihre Ursache hat. Durch die gesell- schaftlichen Widersprüche bedrängt den Unterdrückten eine „ Furcht vor der Freiheit “, die auch am Wunsch des Unterdrückten, in die Rolle des Unterdrückers schlüpfen zu wollen, schuld sein kann.13
Zum anderen bezeichnet Freire den Menschen als Dialogwesen. Der Dialog ist für Freire unabdingbar für die menschliche Existenz an sich. Nur so könne Kooperation zwischen den Menschen überhaupt stattfinden, um gemeinsam das Dasein zu verändern. Freire er- wähnt in diesem Zusammenhang immer wieder das „ Wort “, welches unentbehrlich für den Dialog ist.14 Das „ Wort “ besteht im Freire'schen Sinne daher in Aktion und Reflexion, wobei ein richtiges Wort zu sagen für ihn mit der Bedeutung, die Welt zu verändern gleichkommt, d. h. das „ Wort “ ist mit Praxis und Handeln gleichzusetzen. Freire betont immer wieder die Wichtigkeit, dass die Praxis gleichermaßen Aktion und Reflexion enthalten muss. Zum Ak- tionismus verkommt Praxis bei mangelnder Reflexion, d. h., sie verkommt zu ziellosem Handeln, in dem der Dialog mit den Betroffenen ausgeschlossen wird. Es besteht die Ge- fahr des Voluntarismus, d. h. stellvertretend für die Befreiung der Unterdrückten zu kämp- fen, ohne die Betroffenen zu fragen. Umgekehrt verkommen die Praxis oder das „ Wort “ zu Verbalismus, wenn es der Reflexion an Aktion mangelt. Es wird einfach nur geredet, aber nichts oder nur wenig getan und das Wort würde demnach zu einer leeren Worthülse ver- kommen.15 Freire vermerkt: „ Im Wort begegnen wir zwei Dimensionen: der 'Reflexion' und der 'Aktion' in so radikaler Interaktion, dass, wenn eines auch nur teilweise geopfert wird, das andere unmittelbar leidet. Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher, die Welt verändern. “16 Aus Sicht Freires ist der Dialog eine „ existentielle Notwendigkeit “.17 Wichtig ist, dass durch den Dialog Praxis mit den Unterdrückten durchgeführt wird, nicht für sie, was einer Praxis gleichkommt, ohne die Unterdrückten zu arbeiten. Einen Punkt artikuliert Freire in „ Bildung als Praxis der Frei- heit “ etwas genauer, und zwar den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Aus seiner Sicht liegt ein ganz wichtiger Unterschied zwischen Mensch und Tier in der Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Handeln und ebenso sein eigenes Selbst zu reflektieren, wozu Tiere unfähig sind, oder um es mit den Worten von Karl Marx zu beschreiben: „ Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren. “18 Tiere sind daher nicht in der Lage, für sich selbst zu entscheiden und können sich keine Ziele setzen. Freire benutzt hierbei den Begriff „ ahistorisch “, da Tiere in einer zeitlosen Gegenwart existieren ohne ein Morgen, Heute oder Gestern, ohne ihrer Welt einen Sinn geben zu können.19 Die Existenz des Menschen hingegen nennt Freire „ historisch “, da Menschen in einer Welt leben, die sie fortwährend selbst schaffen und auch immer wieder neu schaffen bzw. verändern. In diesem Punkt stimmt Paulo Freire mit Karl Marx überein, da Freire teilweise von Marx be- einflusst worden ist. Letzterer vertrat ebenfalls die Ansicht, dass der Mensch zwar durch die Welt bestimmt wird, in der er lebt, aber gleichzeitig auf diese Welt einwirkt und die Ver- hältnisse ändert, in denen er lebt, was einhergeht mit der Veränderung des Menschen selbst.20 Nur der Mensch ist im Gegensatz zu anderen Lebewesen fähig, sich zu entwi- ckeln und sein Dasein zu schaffen bzw. zu verändern. Freire sieht den Menschen vor sei- ner endgültigen Befreiung als unfertiges Wesen an, das in der Lage ist, sich immer weiter zu entwickeln: „ Die problemformulierende Bildung bestätigt den Menschen als Wesen im Prozess des Werdens - als unvollendetes, unfertiges Wesen in und mit einer gleicherwei- se unfertigen Wirklichkeit. In der Tat wissen die Menschen sich im Gegensatz zu anderen Lebewesen, die unfertig sind, aber nicht historisch, als unvollendet - sie sind ihrer Unfer- tigkeit gewahr. In dieser Unfertigkeit und in diesem Gewahrsein liegen die eigentlichen Wurzeln der Erziehung als ausschließlich menschlicher Ausdrucksform. Der unvollendete Charakter des Menschen und der Übergangscharakter der Wirklichkeit nötigen dazu, dass Erziehung und Bildung ein fortlaufender Vorgang ist. “21 Dies bedeutet, dass der Mensch, im Gegensatz zum Tier, in der Lage ist, immer wieder fortwährend hinzuzulernen und sich geistig fortzuentwickeln. Das Lernen in seiner Welt begleitet den Menschen ein Leben lang. Nur der Mensch kann durch das Bewusstsein seiner Unfertigkeit Erziehung genie- ßen. Ein fertiges und befreites Wesen ist der Mensch erst dann, wenn er sich eine freie Gesellschaft geschaffen hat, in der jegliche Unterdrückungsmechanismen überwunden sind. Ein weiterer Aspekt, der den Menschen vom Tier unterscheidet, ist dass der Mensch nicht nur beschränkt ist auf das „ in-der-Welt-Sein “. Dieses „ in-der-Welt-Sein “ ist zugleich ein „ mit-der-Welt-Sein “. Tiere haben ausschließlich nur den Kontakt zur Welt, und das Handeln sowie Tun des Tieres wird von der Natur bestimmt. Sie reagieren auf ihre Umwelt oft nur mit Reflexen, die schon im Voraus festgelegt sind. Der Mensch hingegen lebt durch das „ mit-der-Welt-Sein “ in Beziehungen. Die Welt ist für den Menschen offener als für das Tier. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch imstande, auf mancherlei Herausforderungen zu reagieren. Es ist bewusstes Handeln, keine Reflexbewegungen und sein Handeln ist nicht in der Art und Weise determiniert wie beim Tier. Der Mensch unterscheidet in seinem Handeln auch zwischen Gestern, Heute und Morgen, während das Tier ausschließlich im Heute lebt. Da der Mensch in der Zeit differenzieren kann, hat er die Gelegenheit, Ent- scheidungen zu treffen. Er partizipiert in diesem Zusammenhang an seinem Geschehen in der Welt und kann dieses Geschehen auch bewusst steuern. Doch je besser sein Wissen von der Welt überhaupt ist, desto stärker ist sein „ in-der-Welt-Sein “.22 Zum Vergleich: in der Steinzeit wussten die Menschen nur sehr wenig über die Welt, somit war ihr „ in-der- Welt-Sein “ schwächer ausgeprägt als heute, wo der Mensch über elektronische Massen- medien verfügt, wodurch er seine Informationen über die Welt bezieht.
Im Gesellschaftsbild unterscheidet Freire zwischen der geschlossenen und offenen Ge- sellschaft, wobei diese beiden Begriffe als identisch mit unfrei und frei gesehen werden können. Freire versteht unter einer geschlossenen Gesellschaft zum einen auf ökonomi- scher Basis eine wirtschaftlich abhängige Gesellschaftsform, deren ökonomische Ent- scheidungszentren außerhalb ihrer sind, ähnlich der kolonialen Gesellschaftsform. Es existiert ein externer Markt, in den die betreffende Gesellschaft Rohstoffe exportiert. Sie unterliegt im Grunde einer ökonomischen Fremdbestimmung. Die Sozialstruktur einer ge- schlossenen fremdbestimmten Gesellschaft ist gekennzeichnet durch mangelnde oder gar nicht existierende Partizipation der Bevölkerung am gesellschaftlichen und politischen Ge- schehen, was Freire als „ Gesellschaft ohne Volk “ bezeichnet. Daraus resultieren negative Merkmale wie Rückständigkeit, ein hoher Grad an Analphabetismus, Führung durch eine Elite, die sich mit Mitteln der Repression oder Manipulation an der Macht hält, womit sie das Volk spaltet und sich von der Mehrheitsbevölkerung entfernt. Der Grundsatz „ Teile und herrsche “ ist für die unterdrückende Elite wichtig, da ein gespaltenes Volk nicht in der Lage ist, gegen die Herrschaft der Unterdrücker aufzubegehren. Ein vereintes Volk gefähr- det jede Herrschaft der Eliten, da diese eine Minderheit sind, die über die Mehrheit des Volkes herrschen wollen. Deswegen müssen sie das Volk spalten, um es zu schwächen, denn „ Konzepte wie Einheit, Organisation, Kampf werden sofort als gefährlich angepran- gert. Natürlich sind diese Konzepte tatsächlich gefährlich - für die Unterdrücker -, denn ihre Verwirklichung ist für Aktionen der Befreiung notwendig “.23 Auf kultureller Basis ist die Mehrheit der Bevölkerung von dieser Gesellschaftsform entfremdet, da sie an eigener kul- tureller Entfaltung sowie Kreativität gehindert wird. Oft werden vorwiegend fremde kulturel- le Muster durch die herrschenden Eliten auf die Bevölkerung übertragen, was man vor al- lem in den abhängigen Gesellschaften der Dritten Welt erkennen kann, wo fast aus- schließlich die europäische Lebensweise aufoktroyiert wurde. Die Folge einer solchen ge- sellschaftlichen Entwicklung ist laut Freire, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Ent- scheidungsfähigkeit für relevante Aufgaben ihrer Lebenssituation verloren hat und daher auch kein Dialog zwischen dem Volk und den Eliten zustande kommt. Eine weitere Folge ist ebenso die von Freire häufig postulierte „ Kultur des Schweigens “. Eine Kultur ist aus Freires Sicht schweigend, wenn diese von außen determiniert und geformt wird sowie aus- schließlich Objektcharakter annimmt. Die Menschen in dieser Kultur können nicht frei über ihr Schicksal entscheiden, weil sie der Stimme durch die herrschenden Zustände beraubt sind. In der geschlossenen Gesellschaftsform kommt das „ intransitive “ oder „ naiv-transiti- ve “ Bewusstsein zustande, das unkritisch ist.24 In der Übergangsphase von einer ge- schlossenen zu einer offenen Gesellschaft verändert es sich hin zum „ kritisch-transitiven “ Bewusstsein. Auch die „ Kultur des Schweigens “ wird nach und nach durchbrochen. Freire bezeichnet eine Gesellschaft als offen, in der politische und gesellschaftliche Partizipation in vollem Umfang gestaltet werden können und die Bevölkerung nicht passiver Zuschauer des Geschehens ist, sondern handelndes Subjekt. Lebens- und Kulturgüter sollen gerecht verteilt und jedem zugänglich gemacht werden sowie alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen überwunden sein. Eine Gesellschaft ist somit erst dann frei, wenn der Widerspruch zwischen Unterdrückern und Unterdrückten vollständig aufgehoben ist, was in der Weltgeschichte bisher noch ausgeblieben ist.25
2.3 Widerspruch zwischen Unterdrückern und Unterdrückten
Die antidialogische Aktion, auch „ Bankiers-Methode “ genannt, die im nachfolgenden Un- terpunkt ausführlich dargestellt wird, manifestiert den Widerspruch zwischen Unter- drückern und Unterdrückten oder den Widerspruch zwischen Lehrer und Schüler. Freire nennt diese Aktion auch „ Despositäre Erziehung “, die in der Weise eines Fütterungsvor- gangs abläuft: „ In Lehrer und Schüler begegnen sich Wissen und Unwissen, Haben und Nichthaben, Fülle und Leere, Macht und Ohnmacht. Und nun wird der Zögling gefüttert, aufgefüllt mit den Wörtern, Vorstellungen, Urteilen und Vorurteilen des Erziehers bzw. des Systems, dem er dient. “26 Dieser Widerspruch kann aus Sicht der Unterdrückten aufgeho- ben werden, indem diese erkennen, dass sie dialektisch gesehen die Antithese des Unter- drückers sind und dass diese Erkenntnis sie dazu bringt, den Kampf gegen die Unter- drückung aufzunehmen. Der Unterdrücker hingegen kann echte Solidarität mit den Unter- drückten nur ausüben, wenn er zur Einsicht gelangt, dass die Unterdrückten Menschen sind, denen Ungerechtigkeit widerfahren ist, und dass man ihnen ihr Dasein als wahre Menschen geraubt hat. Er muss ihnen respekt- und würdevoll gegenübertreten und mit ih- nen auf Augenhöhe in Dialog treten.
In den folgenden Kapiteln wird die antidialogische Aktion in Form der „ Bankiers-Methode “ beschrieben, gefolgt von der schon im vorherigen Kapitel erwähnten „ Kultur des Schwei gens “ und der „ kulturellen Invasion “.
2.3.1 „ Bankiers-Methode “ als Form unterdrückerischer Bildungsarbeit
Paulo Freire betont in seinen Schriften immer wieder, dass Erziehungsarbeit oder Pädago- gik niemals neutral sein kann. Was drückt Freire in seinen Schriften damit aus? Ernst Lan- ge zitiert Freire im Vorwort des Buches „ Pädagogik der Unterdrückten “: „ Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung. “27 Die in diesem Kapitel von Freire beschriebene sogenannte „ Bankiers-Erziehung “ dient letzterem Ziel. Deshalb ist Freire der Meinung, dass sich jeder Lehrende entscheiden muss, für welche Seite er lehrt und wessen Interesse er dient. Das Wort „ Bankier “ erscheint in diesem Begriff deshalb, weil aus seiner Sicht die Lernenden vom Lehrer zu füllende Objekte sind oder leere Konten, in die eine Spareinlage gemacht wird. Diese Methodik hebt den Lehrer-Schüler-Widerspruch deutlich hervor, denn „ im Bankiers-Konzept der Erziehung ist Erkenntnis eine Gabe, die von denen, die sich selbst als Wissende betrachten, an die ausgeteilt wird, die sie als solche betrachten, die nichts wissen. “28 Eine befreiende Bildungsarbeit ist nach Ansicht Freires mit der „ Bankiers-Methode “ nicht zu erreichen und hält mit folgender Gegenüberstellung die Praktiken und Einstellungen aufrecht, die eine Gesellschaft im Sinne des Unterdrückers ausmachen:
„ a) Der Lehrer lehrt, und die Schüler werden belehrt.
b) Der Lehrer weißalles, und die Schüler wissen nichts.
c) Der Lehrer denkt, undüber die Schüler wird gedacht.
d) Der Lehrer redet, und die Schüler hören brav zu.
e) Der Lehrer züchtigt, und die Schüler werden gezüchtigt.
f) Der Lehrer wählt aus und setzt seine Wahl durch, und die Schüler stimmen ihm zu.
g) Der Lehrer handelt, und die Schüler haben die Illusion zu handeln durch das Handeln des Lehrers.
h) Der Lehrer wählt den Lehrplan aus, und die Schüler (die nicht gefragt werden) passen sich ihm an.
i) Der Lehrer vermischt die Autorität des Wissens mit seiner eigenen professionellen Autorität, die er in Widerspruch setzt zur Freiheit der Schüler.
j) Der Lehrer ist das Subjekt des Lernprozesses, während die Schüler bloße Objekte sind. “29
Diese Gegenüberstellungen im Konzept der „ Bankiers-Methode “ sollen die Schüler oder Lernenden in eine derart passive Rolle drücken, dass eine kritische Bewusstseinsbildung und eine kritische Sicht der Welt erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. Die Nei- gung der Schüler, die Welt als unveränderlich zu akzeptieren und ebenso die Rolle, in die sie schlüpfen, soll verstärkt werden. Dieses Stapeln der Einlagen in die Köpfe der Lernen- den soll von Lehrerseite dahingehend forciert werden, dass die Schüler hauptsächlich da- mit beschäftigt ist, vorgefertigtes Material einzulagern und auswendig zu lernen. Dadurch bleibt dem Lernenden fast keine Zeit mehr, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Sie werden durch die „ Bankiers-Methode “ zu passiven Wesen erzogen, die das Geschehen in der Welt nur als Zuschauer betrachten sollen und nicht als Neuschöpfer, denn je „mehr nämlich die Unterdrückten dahin gebracht werden können, sich dieser Situation anzupas- sen, umso leichter lassen sie sich beherrschen. “30 Freire zitiert auch in diesem Zusam- menhang Simone de Beauvoir, indem er erläutert, dass das Interesse der Unterdrücker darin bestehe, „ das Bewusstsein der Unterdrückten zu verändern, nicht aber die Situation, durch die sie unterdrückt werden “.31 Was das bedeutet, liegt auf der Hand: Den Unter- drückern ist daran gelegen, dass Bewusstsein der Unterdrückten in ihrem Sinne zu mani- pulieren, dass die herrschenden Unterdrückungsmechanismen aufrechterhalten werden können. Die Unterdrückten lassen sich umso leichter beherrschen, je mehr sie in dieses Denkschema gepresst werden. Jedenfalls ist unter solchen Lehrbedingungen der Lernen- de nur Objekt und nicht Subjekt wie in der problemformulierenden Methode.
Doch es ist nicht nur das reine Objektdenken, das die „ Bankiers-Methode “ auszeichnet. Unterdrückte Menschen werden in diesem Bildungssystem als Außenstehende oder Ein- zelfälle gesehen. Freire benutzt die Begriffe „ Randerscheinungen “ oder „ pathologische Fälle “, die aus Sicht der Unterdrücker von der Norm einer aus ihrer Sicht guten und ge- rechten Gesellschaft abweichen. Die Herrschenden benutzen die „ Bankiers-Methode “, um die Unterdrückten, welche von den Unterdrückern für faul, krank und inkompetent gehalten werden, an die aus ihrer Sicht gesunde Gesellschaft anzupassen. Für dieses Ziel ist die Bewusstseinsänderung im Sinne der Herrschenden konzipiert.32 In den Industrienationen Europas beispielsweise wird die Soziale Arbeit oft für diese Zielsetzung herangezogen, um die Mentalität der sogenannten „ faulen “ und „ arbeitsscheuen “ Menschen aus der Unter- schicht zu ändern und an das herrschende System anzupassen. Dies geschieht oft in Ko- operation mit staatlichen Sanktionssystemen bei Nichtanpassung. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die antidialogische Aktion der „ Bankiers-Methode “ vorrangig ein Ziel hat: den Menschen für das jeweilig herrschende System gefügig zu machen, um ihn problemloser beherrschen und ausbeuten zu können.
2.3.2 „ Kultur des Schweigens “
Die „ Kultur des Schweigens “ ist im Sinne Freires „ die Kultur der Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht ausdrücken kann “.33 Der von ihm geprägte Begriff der „ Kultur des Schweigens “ rührt daher, dass Freire durch seine Erfahrungen als Lehrer und Pädagoge eine gewisse Apathie der unterdrückten Massen in der postkolonia- len Gesellschaft ausmachte. Er folgerte daraus, dass diese Apathie von der jahrhunderte- langen Unterdrückung der Massen durch den Kolonialismus und den postkolonialen mo- dernen Gesellschaftsformen des 20. Jahrhunderts herrührt. Die Massen selbst sind aus Freires Sicht vom Grunde her nicht apathisch, sondern sie werden durch Unterdrückung apathisch gemacht. Die Massen glauben daher an ihre natürliche Unterlegenheit gegen- über den Unterdrückern, da Letztere diesen „ Mythos “ zur Aufrechterhaltung ihrer Herr- schaft den Unterdrückten aufnötigen. Dieser „ Mythos “ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit und wurde in allen bisherigen Klassengesellschaften der Geschichte angewandt, egal ob im Altertum in der Gesellschaftsordnung der Sklavenhal- ter, im Mittelalter in der Feudalgesellschaft oder in der Neuzeit im modernen Industriekapi- talismus Europas mit seinen damaligen Kolonien und heute immer noch wirtschaftlich ab- hängigen Staaten in der Dritten Welt.34 Freire machte bei seinen ersten beruflichen Erfah- rungen im Bildungsbereich die Entdeckung, dass er mit der klassischen Vortragsform in gelehrter Ausdrucksweise, auch wenn sie noch so gute Absichten hat, im normalen Arbei- termilieu überwiegend auf taube Ohren stieß. Diese Erfahrungen konfrontierten ihn mit der Kluft, die zwischen dem elitären Bildungsverständnis und dem Bildungsniveau der unteren Schichten herrschte. Diese Erfahrungen waren für Freire Schlüsselerlebnisse, auf deren Grundlage er seine Arbeit als Pädagoge neu definierte und den sozial-gesellschaftlichen Kontext der unterdrückten Bevölkerung neu entdeckte. Aus Freires Sicht ist der Analpha- bet kein Außenseiter der Gesellschaft, weil er des Lesens und Schreibens unkundig ist, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen sowie kulturellen Normen (man sieht ihn als unmündig an) hindern ihn am Menschsein. Da Analphabeten durch die Unkundigkeit des Lesens und Schreibens nicht auf sich aufmerksam machen können, was ihnen den Eintritt in ihre Kulturwelt und Gesellschaft erschwert oder gar zunichte macht, leben sie in dieser „ Kultur des Schweigens “. Auf politischer Ebene bedeutet „ Kultur des Schweigens “, dass das Wahlrecht bzw. heute die Wahlpflicht und somit die gesamte politische Partizipations- möglichkeit an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens gebunden ist. Zwar ist laut brasi- lianischem Bundesgesetz Analphabeten das Wahlrecht seit 1988 gestattet, von der ge- setzlichen Wahlpflicht sind sie jedoch ausgenommen.35 Im Jahre 1960 waren in Brasilien ca. 15,5 Millionen der ca. 34,5 Millionen Einwohnern Analphabeten.36 Somit waren ca. 45 % der brasilianischen Bevölkerung von politischen Partizipationsmöglichkeiten ausge- schlossen. Von 1960 bis heute ist die Einwohnerzahl Brasiliens jedoch exponentiell ange- stiegen. Heute hat Brasilien ca. 360 Millionen Einwohner.37 Zwar ist bis heute die Analpha- betenrate auf knapp 10 bis 15 % gesunken, was einer geschätzten Zahl von 35 Millionen Vollanalphabeten entspricht, aber die Zahl derer, die nur ein paar Wörter lesen und schrei- ben können, ist heute rund dreimal höher.38 Dies bedeutet, dass speziell in Brasilien trotz gesunkener Analphabetenrate die absolute Zahl an Analphabeten sogar noch höher ist als in den 1960er-Jahren. Somit wird gegenwärtig gegenüber 1960 in Brasilien mehr als dop- pelt so vielen Menschen die politische Bewusstseinsbildung und die politischen Partizipati- onsmöglichkeiten zumindest erschwert, was dazu führt, dass auch heute noch sehr viele Menschen in dieser „ Kultur des Schweigens “ leben.
2.3.3 „ Kulturelle Invasion “
Ein weiteres wichtiges Merkmal der antidialogischen Aktion, die den Widerspruch zwi- schen Unterdrücker und Unterdrückten kennzeichnet, ist die „ kulturelle Invasion “. Sie dient dem Ziel der Herrschenden, die große Masse der Bevölkerung zu unterwerfen. Genauer definiert bedeutet „ kulturelle Invasion “, dass eine bestimmte Gruppe als Eindringlinge fun- giert, die in den kulturellen Zusammenhang einer anderen Gruppe einfällt, ohne die Be- dürfnisse, Wünsche und Möglichkeiten der überfallenen Gruppe zu respektieren. Die Ein- dringlinge nötigen der überfallenen und kolonisierten Gruppe ihre eigene Sicht der Welt und ihre kulturellen Eigenheiten auf. Gleichzeitig werden die Ausdrucksmöglichkeiten der Überfallenen durch Manipulation oder Repression lahm gelegt, was eine Blockierung der Kreativität der Überfallenen zur Folge hat. Auch hierbei gibt es ein deutliches Subjekt-Ob- jekt-Verhalten, von dem Paulo Freire immer wieder spricht. Die Eindringlinge sind hierbei das Subjekt des Geschehens, während die Überfallenen nur die Zuschauer und somit das Objekt des Geschehens sind. Auch hier formt Freire eine Gegenüberstellung, die der zwi- schen Lehrer und Schülern geformten Gegenüberstellung ähnlich ist: „ Die Eindringlinge formen; die Überfallenen werden geformt. Die Eindringlinge wählen; die Überfallenen fol- gen dieser Wahl oder sollen ihr folgen. Die Eindringlinge handeln; die Überfallenen haben nur durch die Aktion der Eindringlinge hindurch die Illusion, dass sie selbst handeln und aktiv sind. “39 Diese Invasion kann in zwei Arten vor sich gehen: Zum einen offensichtlich in offener physischer Gewalt unter starken Repressionen, zum anderen versteckt im Gewand des Freund und Helfers, im Grunde als humanitäre Geste. Historische und aktuelle Bei- spiele finden sich für beide Arten genug. Ein typisches Beispiel für den ersten Fall sind Hit- lers Eroberungskriege und die damit einhergehende Expansion des nationalsozialistischen Dritten Reichs besonders nach Osten, um Lebensraum zu schaffen und um alle aus Sicht der Nationalsozialisten minderwertige Lebensformen zu versklaven (hauptsächlich slawi- sche Völker und Juden) oder gar zu vernichten. Für den zweiten Fall kann man den noch aktuellen Imperialismus der USA ausmachen, welcher seine Eroberungskriege als Akt hu- manitärer Geste tarnt. Jedoch handelt es sich in Wirklichkeit nur um reine politische sowie wirtschaftliche Interessen, sei es während des Kalten Krieges, um die befürchtete Vorherr- schaft der Sowjetunion einzudämmen oder aktuell bei den Kriegen in Afghanistan oder im Irak wegen des Öls. Die europäischen Kolonialisten verfuhren in ihren Kolonien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas häufig nach beiden Methoden, mal repressiv, mal als Missio- nare oder selbst ernannte Überbringer des Fortschritts. Diese benannten Beispiele erklä- ren die „ kulturelle Invasion “ eines Staates als Weltmacht gegen abhängige Länder. „ Kultu- relle Invasion “ kann ebenso innerhalb einer Gesellschaft, sei es einer Weltmacht oder ei- ner abhängigen Gesellschaft, durch das Hervortreten einer Klasse von wenigen Besitzen- den über die überwiegende Mehrheit der Besitzlosen, vorkommen. Dies wäre in der heuti- gen modernen Klassengesellschaft des Kapitalismus die Herrschaft der Bourgeoisie ge- genüber der Arbeiterklasse. Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben die kulturelle In- vasion der Bourgeoisie auf das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft fol- gendermaßen: „ Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herr- schenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Ge- sellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. “40 Dies bedeutet, dass in ruhi- gen Zeiten das Denken der Menschen dem Denken der herrschenden Klassen entspricht, da die herrschende Klasse die Mittel und Möglichkeiten hat, die untergebenen Klassen in ihrem Sinne zu manipulieren. Somit macht sich beispielsweise auch unter der Arbeiter- klasse in ruhigen Zeiten Konkurrenzdenken breit, ganz im Sinne der kapitalistischen Pro- duktionsweise, die auf Konkurrenz basiert. Auch ist es bei einer „ kulturellen Invasion “ fun- damental, dass die Überfallenen die Lebensweise der Eindringlinge nachahmen und die Wirklichkeit mit den Augen der Eindringlinge sehen, nicht mit ihren eigenen Augen als un- terdrückte Klasse. Dies ist ein Ergebnis der Manipulation durch die Eindringlinge oder die herrschende Klasse, was deren Machtposition festigt. Die erfolgreiche Durchführung einer „ kulturellen Invasion “ hängt davon ab, inwieweit die Überfallenen von ihrer Unterlegenheit überzeugt werden. Dies trat besonders bei den europäischen Kolonialherrschaften auf, in- dem die kolonisierenden Europäer den überfallenen Völkern in Afrika, Asien oder Latein- amerika ein Unterlegenheitsdenken aufzudrücken versuchten. Durch diese Art von Indok- trination kann die Kultur der Eindringlinge von den Überfallenen als überlegener und wert- voller eingestuft werden, so dass die Überfallenen diese Kultur als Vorbild betrachten, was zur Entfremdung gegenüber ihrer eigenen überfallenen Kultur führen kann.41
2.4 Problemformulierende Methode
Für Paulo Freire ist es von elementarer Bedeutung, dass die Befreiung der Unterdrückten von den Unterdrückern nur ein Vorgang der Praxis sein kann, d. h. Aktion und Reflexion untrennbar miteinander verknüpft sind. Das eine leidet unmittelbar, wenn das andere nicht vorhanden ist. Die dialogische Aktion in Form der problemformulierenden Methode der Be- wusstseinswerdung, im Portugiesischen auch „ conscientiza çã o “ genannt, soll diesen und andere entscheidende Punkte berücksichtigen. Diese Bildungsmethode muss aus Freires Sicht konsequent angewandt werden, um wirkliche befreiende Bildungsarbeit zu leisten. Die antidialogische „ Bankiers-Methode “ soll durch die problemformulierende Methode komplett ersetzt werden. Die problemformulierende Bildung hat im Allgemeinen zum Ziel, den Menschen zur Entfaltung seiner selbst zu führen und ihn als schöpferisches Wesen, d. h. als Wesen des Dialogs und der Praxis, zu kreieren. Humanisierung ist hierbei das zentrale Thema und Hauptanliegen der Befreiungspädagogik. Sie kann laut Freire nur funktionieren, wenn der Widerspruch zwischen Lehrer und Schülern aufgehoben und den Unterdrückten die Realität enthüllt wird, damit der Lernende in die Lage versetzt werden kann, seine Welt kritisch zu begreifen, d. h. ein kritisches Bewusstsein zu erlangen. Die reine Übermittlung von Informationen soll durch die Aktion der Erkenntnis ersetzt wer- den.42
2.4.1 Aufhebung des Widerspruchs zwischen Lehrer und Schüler
Nach der Erkenntnis Freires soll aus der Grundoption heraus, dass Bildung ein Erkennt- nisprozess ist, der Widerspruch zwischen Schüler und Lehrer aufgehoben werden. Die Schüler sind nicht länger nur empfangende und mit Wissen aufzufüllende Objekte, gefüt- tert vom als allwissend stilisierten Lehrer, sondern beide belehren sich gegenseitig und ler- nen voneinander. Der Lehrer selbst wird ebenso Lernender. Er kann auch vom Schüler belehrt werden. Freire prägte die beiden Begriffe des „ Lehrer-Schülers “ für den ursprüngli- chen Lehrer und des „ Schüler-Lehrers “ für den ursprünglichen Schüler. Unabdingbare Vor- aussetzung dafür ist der Dialog, in dem beide sich gegenseitig als Subjekte der Erkenntnis behandeln und beiderlei Seiten eine gemeinsame Verantwortung für den Prozess der Er- kenntnis tragen.43 Nur im Vorgang einer wirklichen Kommunikation kann beim Schüler echtes kritisches Denken entstehen. So schreibt Freire: „ Von allem Anfang an muss seine Bemühung (Erzieher) sich mit der seiner Schüler darin treffen, sich in kritisches Denken einzuüben und das Ringen um gegenseitige Vermenschlichung zu wagen. Seine Bemü- hungen müssen von einem tiefen Vertrauen in die Menschen und in ihre schöpferische Kraft erfüllt sein. Um dies aber zu erreichen, muss er in seinem Verhältnis zu seinen Schülern ihr Partner werden. “44 Verschiedene Publikationen Freires erwähnen immer wie- der seine Erfahrungen mit dieser Art von Bildung. In vielen seiner Projekte als Koordinator der Erwachsenenbildung, die er zusammen mit der Bewegung für Volkskultur in Recife durchführte, lehnte er die traditionellen Unterrichts- und Bildungsmethoden radikal ab und ersetzte diese durch Dialoge und Debatten. Durch Gruppendiskussionen sollten bestimm- te Problemsituationen verdeutlicht und nach Aktionsformen gesucht werden, die auf der Bewusstseinswerdung dieser Problemlagen basieren. Hierbei wurden laut Freire die Dis- kussionsthemen von den Teilnehmern selbst geliefert. Auch die Begrifflichkeiten ändern sich in Freires Sprachgebrauch. Statt des Lehrers gibt es den Koordinator, statt Lektionen gibt es Dialoge, statt Schüler gibt es Gruppenteilnehmer und Unterrichtspläne, die der Ent- fremdung dienen, werden durch Kontaktprogramme ersetzt.45 Diese Aufhebung des Wi- derspruchs zwischen Lehrer und Schüler in der problemformulierenden Erziehungsmetho- de steht im absoluten Widerspruch zur antidialogischen „ Bankiers-Erziehung “.46 Kritiker werfen Freire in diesem Punkt jedoch vor, gänzlich auf Autoritäten verzichten zu wollen, und sehen darin eine Gefahr des Abrutschens in Zügellosigkeit und Anarchie. Dem ent- gegnet jedoch Freire, dass die dialogorientierte Aktionstheorie dem Autoritarismus wie der Zügellosigkeit zuwiderläuft. Er unterscheidet in diesem Falle ganz klar zwischen Autorita- rismus, den er für eine Aktionsform der Unterdrücker hält, und der Autorität an sich, die im Dialog mit dem Volk steht. „ Es gibt keine Freiheit ohne Autorität, es gibt aber auch keine Autorität ohne Freiheit “47, schreibt Freire. Freiheit und Autorität sollen im Verhältnis zuein- ander stehen, damit Autoritarismus sowie Zügellosigkeit vermieden werden. Den Konflikt mit der Freiheit kann die Autorität nur dann vermeiden, wenn Freiheit und Autorität eins wird. Autorität entartet jedoch in Autoritarismus, wenn die Autorität von einer Minorität der Eliten auf die Gruppe der Mehrheit der Bevölkerung übertragen und ihnen aufgezwungen wird, ohne mit dem Volk in Dialog zu treten: „ Wie Autorität nicht ohne Freiheit existieren kann und umgekehrt, kann Autoritarismus nicht existieren, ohne dass Freiheit geleugnet wird, oder Zügellosigkeit, ohne dass Autorität bestritten wird. “48 Die Autorität ist in der Theorie der dialogischen Aktion zwingend notwendig, da ohne die Autorität keine Organi- sation entstehen kann, denn die Unterdrückten müssen sich im Kampf gegen ihre Unter- drücker organisieren, um stark genug zu sein, Widerstand leisten und ihre Situation zu ih- ren Gunsten ändern zu können. In diesem Falle ist die Autorität eins mit der Freiheit. Frei- re nennt die Organisation auch einen „ erzieherischen Prozess, bei dem Führer und Volk miteinander echte Autorität und Freiheit erfahren, die sie dann in der Gesellschaft aufzu- richten versuchen, indem sie die Wirklichkeit verändern, die sie vermittelt “.49 Zügellosigkeit kann hingegen mit Unfreiheit gleichgesetzt werden, da Zügellosigkeit keinerlei Organisati- on der Unterdrückten zu ihrer Selbstbestimmung und Befreiung zulässt. Zügellosigkeit kann auch oft das Recht des Stärkeren bedeuten, was gleichzeitig wieder in Unter- drückung und Tyrannei münden kann.
2.4.2 Bewusstseinsmachungsprozess als Enthüllung der Wirklichkeit
Der Prozess der Bewusstseinsbildung hat hauptsächlich zum Ziel, dass der Mensch sein Bewusstsein in kritischer Weise auf die Welt richtet und seine Beziehung zur Welt auch in kritischer Weise begreifen und problematisieren kann. Jedoch lernt der Mensch dadurch nicht nur, die Welt kritisch zu sehen, sondern erkennt auch die Notwendigkeit des Kamp- fes gegen die Unterdrückung, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, die Welt zu verän- dern: „ Insofern die Überzeugung von der Notwendigkeit des Kampfes (ohne die der Kampf nicht durchführbar ist) für die revolutionäre Führung unverzichtbar ist (da es doch in Wirk- lichkeit diese Überzeugung ist, die die Führung hervorbrachte), ist sie auch für die Unter- drückten notwendig. Sie ist notwendig - es sei denn, man will die Veränderung für die Un- terdrückten statt mit ihnen herbeiführen “.50 Erst wenn der Mensch sich auf diese Weise seiner Welt bewusst wird, kann eine Veränderung seiner Beziehung zur Welt, seiner Pra- xis und dadurch die Veränderung der Welt vonstatten gehen. Dieses kritische Bewusstsein im Freire'schen Sinne soll durch Bildung entwickelt werden, jedoch nicht durch die reine Vermittlung von Wissen und den Zwang zur Milieuanpassung, sondern durch Bildung als Erkenntnisprozess.51 Mit dieser Art der Bildung als Erkenntnisprozess stellt Freire die eta- blierten Bildungsansätze in Frage, die seiner Meinung nach häufig auf Bildung als reine Wissensvermittlung zurückgreifen. Jedoch ist sich auch Freire dessen bewusst, dass kriti- sches Bewusstsein nicht von jetzt auf gleich aufgebaut werden kann, sondern nach und nach entwickelt werden muss. Kritik der Wirklichkeit ist noch nicht mit Veränderung gleich- zusetzen. Hierbei ist er der Auffassung, dass sich die Entwicklung hin zu einem kritischen Bewusstsein in drei Stadien vollzieht, nämlich vom „ naiv-transitiven “ Bewusstsein über das „ semi-transitive “ Bewusstsein hin zum „ kritisch-transitiven “ Bewusstsein, welches das End- ziel sein soll. Im „ kritisch-transitiven “ Bewusstsein soll der Mensch eine derartige Proble- minterpretation besitzen, so dass er in der Lage ist, auch vorgefertigte Meinungen und Vorurteile aufzudecken.52 Daraus soll eine „ offene Gesellschaft “ resultieren, die aus Dia- log, Offenheit und Selbstbestimmung besteht in der der Mensch vollständig aus gewissen Abhängigkeiten, seien es ökonomischen oder persönlichen, befreit ist. Die Menschen sol- len sich, der marxistischen Theorie ähnelnd, selbst verwalten. Dieser Prozess entspricht der „ conscientiza çã o “, also der kritischen Bewusstseinsbildung. Paulo Freire definiert sein Ziel einer offenen und freien Gesellschaft als „ kulturelle Demokratisierung im Rahmen ei- ner fundamentalen Demokratisierung “.53 Dadurch lässt sich schlussfolgern, dass der Mensch durch diese Art von Erziehungsarbeit ein kritisches Bewusstsein über die Welt und die Herrschaft der Unterdrücker erlangt. Diese Herrschaft wird damit in Bedrängnis gebracht. Die dialogische Aktion der problemformulierenden Methode mit dem Ziel des Bewusstseinsmachungsprozess als Enthüllung der Wirklichkeit widerspricht der „ Bankiers- Erziehung “.
2.4.3 Dialog als Form der Bewusstseinswerdung
Anstelle eines Lehrers, der seine zuhörenden Schüler mit Informationen und Wissen füt- tert, ist für Freire der Dialog zwischen dem Koordinator oder „ Lehrer-Schüler “ (ursprünglich Lehrer) und den Gruppenteilnehmern oder „ Schüler-Lehrer “ (ursprünglich Schülern) funda- mental. Nur so findet seiner Meinung nach Bildung im befreiungspädagogischen Sinne statt. Sie ist Resultat gegenseitiger Prozesse, wenn zwei oder mehrere Personen aus un- terschiedlichen sozialen Milieus zum Dialog aufeinander treffen. Der Dialog soll die Garan- tie dafür sein, dass beide Dialogpartner Subjekte ihres Handelns werden und nicht nur der Lehrende Subjekt ist und die zu Belehrenden Objekte. Als Basis soll der Dialog voraus- setzen, dass beide Dialogpartner sich gegenseitig ernst nehmen und sich glaubwürdig ge- genübertreten. Die Haltung der Personen, die den Dialog führen, ist für die Qualität des Lehr- und Lernprozesses sehr bedeutungsvoll, denn es ist ein großer Unterschied, ob sich beide in gegenseitiger Anerkennung und Respekt gegenübertreten oder ob der eine dem anderen in herablassend arroganter Art, ohne ihn ernst zu nehmen, gegenübertritt. Im ers- ten Fall können beide Gesprächspartner neue Erkenntnisse aus dem Dialog gewinnen.54 Ziel soll im Idealfall sein, dass beide Seiten währenddessen ihr Wissen und ihre Hand- lungskompetenzen erweitern können, so dass die Unterschiede in Können, Wissen und Handeln so gering wie möglich werden. Im letzten Fall wird der eine, der unwissend ist, durch den anderen, der vorgeblich allwissend ist, belehrt, d. h. Informationen und Wissen werden beim angeblich Unwissenden eingelagert. Durch den Dialog im ersten Fall jedoch kann, da jeder sein eigenes spezielles Wissen aus seiner Lebenssituation mitbringt, jeder vom anderen lernen um die Kompetenzabstände so weit es geht zu verringern.55 Freire beschreibt den Dialog als eine Begegnung zwischen Menschen, welche die Welt benen- nen wollen, vermittelt durch die Welt. Jedoch könne der Dialog nur zwischen Menschen stattfinden, welche die Welt benennen wollen, und solchen, die diese Benennung wün- schen. Freire schreibt: „ Da nun der Dialog jene Begegnung ist, in der die im Dialog Ste- henden ihre gemeinsame Aktion und Reflexion auf die Welt richten, die es zu verwandeln und zu vermenschlichen gilt, kann dieser Dialog nicht auf den Akt reduziert werden, dass eine Person Ideen in andere Personen einlagert. “56 Durch die Benennung der Welt und durch das Sagen des Wortes soll es laut Freire zur Verwandlung der Welt hin zu einer of- fenen und freien Gesellschaft kommen, die keine Unterdrücker und Unterdrückten mehr kennt. Der Dialog ist für Freire deswegen eine „ existentielle Notwendigkeit “ und ein „ Akt der Schöpfung “.57 Diese Schöpfung oder Neuschöpfung sei jedoch nicht möglich, wenn derjenige, der die Welt benennen will, nicht mit dem Gefühl der Liebe für das Volk durch- drungen ist. Ohne sie ist auch der Dialog mit dem Volk nicht möglich, denn „ Liebe ist zu- gleich die Begründung des Dialogs und der Dialog selbst. Er ist darum zwangsläufig die Aufgabe verantwortlicher Subjekte und kann in einem Verhältnis der Herrschaft nicht exis- tieren. “58 Dies bedeutet, dass verantwortliche Subjekte, die das Volk lediglich als Objekt betrachten, das man nach Belieben beherrschen und ausbeuten kann, nicht mit wahren Gefühlen der Liebe zum Volk erfüllt, sondern in Wirklichkeit voller Misstrauen gegenüber den Unterdrückten sind. Sie wollen somit der Eigenverantwortung und der Selbstentfaltung der Unterdrückten keinen Raum lassen. Revolutionen oder revolutionäre Entwicklungen hin zu einer freien Gesellschaft tragen zwangsläufig in ihrem innersten Wesen einen lie- benden Charakter worauf Freire den argentinischen Revolutionär Ernesto Ché Guevara zi- tiert: „ Ich möchte, selbst auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen, sagen, dass der ech- te Revolutionär von starken Gefühlen der Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen echten Revolutionär vorzustellen, der nicht diese Qualität besitzt. “59 Ohne die Menschen, das Leben und somit die gesamte Welt zu lieben, sei es unmöglich, in den Dialog einzutre- ten, wobei der echte Revolutionär und Befreier der Unterdrückten in den Dialog mit dem Volk treten muss.
[...]
1 vgl. Dabisch, Joachim (Hrsg.): Zur Anthropologie der Hoffnung - Die Aktualität der Pädagogik Paulo Frei- res, Freire Jahrbuch 7, Verlag Dialogische Erziehung der Paulo Freire Kooperation e. V., Oldenburg, 2005, S. 164
2 vgl. http://www.gew.de/OECD_Sonderauswertung_Migration.html [06.01.2010]
3 vgl. Schulenberg, Lutz und Mittelstädt, Hanna (Hrsg.): Der Wind der Veränderung - Die Zapatisten und die soziale Bewegung in den Metropolen, Verlag Edition Nautilus, Hamburg, 1996, S. 18
4 vgl. Grünberg, Jens: Analyse von Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 2003, S. 1
5 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 35
6 vgl. ebd. S. 13
7 ebd. S. 36
8 vgl. Mayo, Peter: Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire - Perspektiven einer verän- dernden Praxis, Deutsche Erstausgabe Argument Verlag, Hamburg, 2006, S.29
9 vgl. Mayo, Peter: Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire - Perspektiven einer verän- dernden Praxis, Deutsche Erstausgabe Argument Verlag, Hamburg 2006, S. 30 oder Freire, Paulo: Bildung und Hoffnung, Waxmann-Verlag, Münster/New York/München/Berlin, 2007, S. 17
10 vgl. Freire, Paulo: Bildung und Hoffnung, Waxmann-Verlag, Münster/New York/München/Berlin, 2007, S. 18
11 vgl. Viera Pinto, Alvaro: Consciência e Realidade Nacional, Bd. 2, Rio de Janeiro, 1960, S 284 aus Raschke, Markus: Erziehung als Bewusstmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 1996, S. 18
12 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 45
13 vgl. ebd., S. 33-34
14 vgl. Raschke, Markus: Erziehung als Bewusstmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 1996, S. 21
15 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 71
16 ebd.
17 ebd., S. 72
18 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Dietz-Verlag, Ost-Berlin, 1962 aus Chris Harman, Das ist Marxismus, Internationale Sozialisten, Köln, 1995, S. 8
19 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 81
20 vgl. Harman, Chris: Das ist Marxismus, Internationale Sozialisten, Köln, 1995, S. 12
21 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 68
22 vgl. Schravesande, Joke; Mendes, Candido; de Boer, Jaap; Sanders, Thomas G.; Freire, Paulo und Zan- dee, Peter: Die Methode Paulo Freire, Gerhardt Verlag, Berlin, 1973, S. 23
23 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 119
24 vgl. Bendit, René und Heimbucher, Achim: Von Paulo Freire lernen - Ein neuer Ansatz für Pädagogik und Sozialarbeit, Juventa Verlag München, 3. Auflage, 1985, S. 27
25 vgl. ebd., S. 28
26 Lange, Ernst zitiert in Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Ro- wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 13
27 ebd.
28 ebd., S. 58
29 ebd.
30 ebd., S. 59
31 de Beauvoir, Simone: La Pensée de Droite Aujourd'hui - Les Temps modernes, Privilèges, Paris, 1955 aus ebd.
32 vgl. ebd.
33 Freire, Paulo: Unterdrückung und Befreiung, Waxmann-Verlag, Münster/New York/München/Berlin, 2007, S. 93
34 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 10
35 vgl. Constituição Federal do Brasil de 1988, Art. 14. A soberania popular será exercida pelo sufrágio uni- versal e pelo voto direto e secreto, com valor igual para todos, e, nos termos da lei, mediante
36 vgl. Raschke, Markus: Erziehung als Bewusstmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 1996, S. 9-10
37 vgl. http://www.fazenda-brasil.com/brasilien/bevoelkerung.html [06.01.2010]
38 vgl. http://www.fazenda-brasil.com/brasilien/bildung.html [06.01.2010]
39 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 129-130
40 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, Band 3, Dietz-Verlag, Ost-Berlin, 1969 S. 46 aus Nelte, Norbert: Klassenkampf - Die Arbeiterklasse, Kritik der Arbeiterklassenkritik, Gewerkschaft und Marxisten, Internationale Sozialisten, Köln, 1996, S. 5. Mit diesem Zitat von Marx und Engels ist jedoch nicht nur die heutige kapitalistische Gesellschaft gemeint, sondern auch die vorangegangenen Klassen- gesellschaften wie der Feudalismus des Mittelalters oder die Gesellschaft der Sklavenhalter im Altertum (Anm. des Autors).
41 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 130
42 vgl. ebd., S. 64
43 vgl. Raschke, Markus: Erziehung als Bewusstmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 1996, S. 24
44 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 60
45 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit - Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten, Ro- wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1977, S. 47
46 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Rein- bek bei Hamburg, 1973, S. 57
47 ebd., S. 152
48 ebd., S. 153
49 ebd.
50 ebd., S. 53
51 vgl. Raschke, Markus: Erziehung als Bewusstmachungsprozeß - Menschenbild und Volksbildung bei Paulo Freire, Verlag für akademische Texte, Norderstedt, 1996, S. 22-23
52 vgl. Dabisch, Joachim (Hrsg.): Zur Anthropologie der Hoffnung - Die Aktualität der Pädagogik Paulo Frei- res, Freire Jahrbuch 7, Verlag Dialogische Erziehung der Paulo Freire Kooperation e. V., Oldenburg, 2005, S. 95
53 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit - Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1977, S. 46
54 vgl. Knauth, Thorsten und Schroeder, Joachim (Hrsg.): Über Befreiung - Befreiungspädagogik, Befrei- ungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog, Waxmann-Verlag Münster, 1998, S. 247-248
55 vgl. Dabisch, Joachim (Hrsg.): Zur Anthropologie der Hoffnung - Die Aktualität der Pädagogik Paulo Frei- res, Freire Jahrbuch 7, Verlag Dialogische Erziehung der Paulo Freire Kooperation e. V., Oldenburg, 2005, S. 96
56 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten - Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 72
57 vgl. ebd.
58 ebd., S. 73
59 Gerassi, John: The Speeches and Writings of Ché Guevara, New York 1969, S. 398 aus ebd.
- Arbeit zitieren
- Jens Flöck (Autor:in), 2010, Die Befreiungspädagogik Paulo Freires und ihre Übertragbarkeit auf die soziale Arbeit in Deutschland und Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206687
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