Der vorliegende Essay klärt, inwieweit Schopenhauers Mitleidsethik handlungsleitend sein kann bzw. ob es überhaupt sinnvoll ist, im Kontext dieser Ethik von einem "Handeln" des Akteurs zu sprechen.
Kann eine Ethik des Mitleides handlungsleitend sein? Gewiss, außer man meint diejenige Scho penhauers, denn dessen Gedankengebäude kondensiert die üblichen Konnotate von Ethik ins Nichts, gerade da die ihr innewohnende Mixtur aus Physik, Metaphysik und religiösen Anleihen mitnichten nach Aufbruch klingt, sondern allenfalls pessimistisch stimmt.
Der nunmehr schlechtesten aller Welten1 (4,683)2 entrinnt mit Sicherheit nämlich nur, wer sich be- reits in einem intelligiblen Willensakt zum Asketentum bekannte (6,124) und im aktuellen Leben dadurch bloß noch lustlos (2,416) Hunger haben muss (2,480). Für alle anderen, die ihrem jetzigen Dasein pränatal mehr Motiv als Quietiv geben mussten (2,386/2,484), bleibt die Vagheit und so höchstens die spontane Erkenntnis jenes „tat twam asi“ übrig, das den Schleier der Maya zu lüften vermag, indem es das principio individuationis aufhebt (2,464). Dass dazu ein Spritzer uraltem Brahmanismus oder Buddhaismus nötig ist, betont Schopenhauer mehrmals (1,11/4,543) - wahr- scheinlich weil dies sein letztes Gebot auf der langen Reise sein soll (2,344). Und was tut der Eu- ropäer als Ja-Sager unter den Menschen (2,359)? Vermutlich treibt er gar nichts, denn er wird not- wendig getrieben, sprichwörtlich angetrieben - ganz mechanisch durchs Heute wie Morgen gejagt und scheint dabei unfähig, sich zu ändern (6,89/6,99), aber empirisch3 verantwortlich genug für die Rügen der Umstehenden (6,134). Ja, was muss, das muss (6,81/6,95)4 in diesem ewigen Streben, in dem jeder Lohn zur Mangelware definitiv ausreicht (2,386/2,388) und bei dem man nie satt wer- den kann; wo jedwede Kost flott durch einen durchrutscht, damit neuer Materie Platz gemacht wird (2,350) - ganz als wären die Speisen Individuen und der Magen das Hier und Jetzt. Wenn man die theoretischen Implikationen beiseite lässt und Schopenhauers „Triebfeder“ um das Determinat- um köpft? Dann haben wir unseren eigenen Kopf praktisch wieder aber immer noch mindestens5 so „gränzenlosen“ Hunger wie die Tiere (2,415/§14) und deswegen den Grund zum Leiden (2,416)6. Ähnlich einem sterblichen Gott, der als Créateur seiner Welt auf deren Ehrerbietung zäh- len kann, weil sich diese der Abhängigkeit durchaus bewusst ist (§14), fühlt jedermann zuerst nur seinen leeren bzw. vollen Bauch, spürt jeder einzig an sich selbst Schmerz und Freude, während die Empfindungen des Gegenübers ihrer Echtheit beraubt sind, sobald sie das Auge gefiltert hat (§14). „Alles für mich, und nichts für die Andern“ (§14) - die, solange ich Tyrann, ich der Egoist bin, eh nie über den Status bloßer Projektionen hinauskommen; die ich, falls es mir dadurch besser oder sonst schlecht gehen würde, nach Belieben ge- und missbrauche und die ich überdies mit In- differenz überschütte (§14/§16). Ja, das Subjekt möchte glänzende Stiefel (§14), will Dasein, Wohlsein (§14), wenigstens gut leben und vor den übrigen ebenso dastehen (§16) - und sogar der Tugendhafteste hofft auf ein geringes Entgelt (§16).7 Wer`s ihm verleidet, erregt Hass, wird Feind und beschwört Untaten, die wegen dem Verleiden aber halt nicht um seinetwillen verübt werden (§14). Und wem`s wohler ist? Der erntet Neid, dem redet man nach ob seines Glückes, Besitzes oder seiner Position (§14) - ein Verhalten, was ja nur allzu menschlich scheint (§14). Anstatt zu ehren, was Ehre verdient, freut sich das nichtswürdige Herz insgeheim, sieht es den ehemals Be- güterten jetzt seiner Habe verlustig (§14), und hilft mitunter nach, wo von allein nichts passiert. „Verletze alle, so sehr du kannst“ (§14) klingt wie Selbstzweck und schreit nach praxisnaher Grau- samkeit - sei diese nun ein boshaftes Tun oder Lassen (§16). Als alltägliches und trotzdem großes „Mysterium“ (§16) darf es in jener „Gaunerherberge“ (§14), die sich Welt nennt, gelten, wenn wirk- lich einer über den Graben zwischen Ich und Du springt (§16) - nicht, um den anderen danach in selbigen zu schubsen, sondern damit dessen Leid verhindert, gebessert oder gar aufgehoben wer- de (§16).8 Sein Wehe müsste dann des Löblichen Motiv (§16) und der Rest ein Mit-leiden sein, als ob er mit jenem, ohne dass er sich mit ihm verwechselt (§16), - nein, eher aus dem Kontrast zwi- schen seiner und des anderen Situation heraus (§16) - irgendwie identifiziert sei (§16). Einem solchen Tun würde zumindest Lessing applaudieren (§14)9 - wobei es dem Handelnden darauf natürlich nicht ankäme. Vielmehr läge es in seiner Absicht, niemanden zu verletzten oder sogar jedem, insoweit es ihm möglich ist, zu helfen (§6/§16); Ersteres wäre gerecht; Letzteres hätte dar- über hinaus etwas von Menschenliebe, und zwar von der christlich-tätigen Sorte.10
Und das jene den Rahmen des Speziesismus11 mitunter sprengen kann, bewiesen 2010 etliche Tierschutzaktivisten und Politiker aller Couleur,12 als sie immerhin 13 von 29 Schweinen vor dem Lawinentod retteten, weil insbesondere Wirbeltiere leidensfähig sind (2,388/2,462).13 Na gut, wie viel Pein noch im Spiel ist, falls die Hausschweine ordnungsgemäß betäubt wurden, weiß keiner. Ob die Wissenschaftler aus Innsbruck die Tiere egoistisch ihren Forschungsinteressen opfern woll- ten oder Mitleid mit potentiellen Lawinentoten hatten, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis. Zu- dem bleibt fraglich, inwieweit sich das Motiv selbst des engagiertesten Tierschützers verdunkelt, wenn ihn Warhols freudvolle Zukunftsprognose14 auf einmal als konkrete Kamera anstarrt. Sicher scheint nur: Der Mensch darf schwerlich auf eine Triebfeder reduziert werden; mehrere Motive können bei einer Tat zusammenwirken und die Empirie lässt den Kern einer Person allenfalls erahnen (6,240/§14/§15/§16).
Literaturverzeichnis:
Primärliteratur:
- Schopenhauer, Arthur: Ueber das Fundament der Moral, nicht gekrönt von der K. Dänischen Societät der Wissenschaften, zu Kopenhagen, den 30. Januar 1840. In: Die beiden Grundprobleme der Ethik. Behandelt in zwei akademischen Preisschriften. Hg. v. Angelika Hübscher. Diogenes 1977.
- Schopenhauer, Arthur: Zürcher Ausgabe: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Angelika Hübscher. 3. Aufl. Diogenes 1977.
Sekundärliteratur:
- Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Francke 1994.
- Andrews, David L.; Jackson, Steven J.: Introduction: sport celebrities, public culture, and private experience. In: Sport Stars: The Cultural Politics of Sporting Celebrity. Hg. v. David L. Andrews u. Steven J. Jackson. Routledge 2001, S. 1-19.
- Dörpinghaus, Andreas: Mundus pessimus: Untersuchung zum philosophischen Pessimismus Arthur Schopenhauers. Königshausen und Neumann 1997.
- Fleischer, Margot: Schopenhauer. Herder 2004.
- Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe V. Walter de Gruyter 1968.
- Leibniz, Gottfried Wilhelm: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Felix Meiner 1996.
- Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 2/I. Hg. v. Helmuth Kiesel. Deutscher Klassiker Verlag 1987.
- Platon: Phaidon. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Ursula Wolf. 31. Aufl. 2006.
- Rousseau, Jean-Jacques: Émile, Or Treatise on Education. Appleton 1899.
- Singer, Peter: Alle Tiere sind gleich. In: Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Hg. v. Angelika Krebs. Suhrkamp 1997, S. 13-32.
- Tierschutzgesetz (TierSchG). Hg. v. Bundesministerium für Justiz. juris GmbH 18.05.2006. 9.5 Andere Medien:
- http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/534833/Tirol_Das-Versteck-der- Lawinenschweine, [Stand: 25.11.2012]
- http://www.heute.at/news/oesterreich/wien/Lawinenschweine-werden-jetzt-zu-Wurst- verarbeitet;art931,195530, [Stand: 25.11.2012]
- http://www.nachrichten.at/nachrichten/chronik/Tierversuch-mit-Schweinen-unter-Lawinen- gestoppt;art58,321169, [Stand: 25.11.2012]
[...]
1 Natürlich arbeitet sich Schopenhauers „mundus-pessimus-These“ an der Leibnizschen „Theodicée“ ab. Vgl. Leibniz 1996, S. 239.; Vgl. Dörpinghaus 1997, S. 86.
2 Die Zitation rekurriert auf die „Zürcher Ausgabe“ von 1977 und folgt der bei Schopenhauer usuellen Angabe von Band vor und Seiten- zahl nach dem Komma. Zur besseren Unterscheidbarkeit wird bei den der Prüfungsstunde zugrundeliegenden Paragraphen aus der „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, die im Literaturverzeichnis zu selbigem Behufe separat aufgeführt ist, explizit auf diese ver - wiesen.
3 Schopenhauers Differenzierung von empirischem und intelligiblem Charakter in §10 der „Grundlage der Moral“ fußt auf den Überlegungen Kants, dem er für die Unterscheidung recht dankbar ist. Vgl. Kant 1968, S. 169-179.
4 Gemäß Schopenhauers ersten beiden „Axiomata“ in §16.
5 Nach 2,388 wird, immer wenn die Erscheinung vollkommener werde, auch das Leiden offensichtlicher.
6 Innerhalb dieser Passage verweist Schopenhauer eindeutig auf §14 der „Grundlage der Moral“.
7 Hoffte nicht Sokrates im Angesicht des Todes auf die „reinen Behausungen“ jenseits der Erde? Vgl. Platon 2006, 114c.
8 Schopenhauer, der hier auf Rousseau rekurriert, attestiert in §16, dass man sich über fremdes Wohl freue, wiewohl es kein Mitleid errege. Vgl. Rousseau 1899, liv. IV.
9 Lessings Diktum findet sich im Brief an Nicolai. Die Impulse für Lessings Denken thematisiert Alt. Vgl. Lessing 1987, S. 120.; Vgl. Alt 1994, S. 177f.
10 Die Nähe zu Caritas und Agape betont u.a. Fleischer. Vgl. Fleischer 2004, S. 156.
11 Den Vorwurf des speziesbezogenen Egoismus erhebt besonders Singer. Vgl. Singer, In: Krebs 1997, S. 31f.
12 Vgl. www.nachrichten.at, [Stand: 25.11.2012]; Vgl. www.heute.at, [Stand: 25.11.2012]; Vgl. diepresse.com, [Stand: 25.11.2012]
13 Leidensfähigkeit gilt bei Singer als zentrales Kriterium für ethische Rücksichtnahme. Das TierSchG fordert die ethische Vertretbarkeit des jeweiligen Tierversuches sowie eine fachärztliche Betäubung des Versuchstieres ein. Vgl. Singer, In: Krebs 1997, S. 20f.; Vgl. Bundesministerium für Justiz 2006, §5(1) / §7(3).
14 Der natürlich McLuhans Ausspruch medienwirksam inszeniert hat. Vgl. Andrews/Jackson 2001, S. 3.
- Arbeit zitieren
- Axel Schulze (Autor:in), 2012, Kann Schopenhauers Ethik des Mitleides handlungsleitend sein?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206534
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