Kinder und Jugendliche sind oftmals innerhalb und außerhalb des Schulhofs mit einer Vielzahl von Konflikten konfrontiert. Hänseleien, Ausgrenzung, Bedrohung sowie weitere körperliche und psychische Belästigungen sind Formen von Aggression und Gewalt, die heutzutage nicht selten auftreten. Aktuelle Forschungsstudien zeigen, dass sogar bereits Grundschulkinder von diesen Problemen betroffen sind. Auch wenn eine gravierende Verschärfung aggressiven Verhaltens in der (Grund-)Schule nicht zu verzeichnen ist, sondern Aggression und Gewalt eher als ein Dauerproblem charakterisiert werden können, sollte das beobachtete Ausmaß aggressiver Verhaltensweisen frühzeitig Anlass zum Handeln im Sinne von präventiven Maßnahmen geben.
Das vorliegende Buch soll einen Beitrag dazu leisten, das Ausmaß schulischer Gewalt und deren Entstehungsursachen weitgehend darzustellen und zu analysieren. Es soll verdeutlichen, welche außerschulischen und schulischen Faktoren für die Entwicklung von Aggression und Gewalt verantwortlich sein können. Darauf aufbauend soll die zentrale Fragestellung analysiert werden, welche Wirkung das ausgewählte Curriculum FAUSTLOS auf die teilnehmenden Personen hat und inwiefern es mit seinen angestrebten Präventionsmaßnahmen aggressiven Verhaltensweisen entgegensteuern kann.
Inhaltsverzeichnis
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Aufbau und Vorgehensweise
2. PSYCHOLOGISCHE UND SOZIOLOGISCHE GRUNDLAGEN VON AGGRESSION UND GEWALT
2.1 Begriffsdefinitionen
2.1.1 Aggression
2.1.1.1 Aggressives Verhalten und aggressive Emotionen
2.1.1.2 Aggressionsarten
2.1.2 Gewalt
2.2 Klassische Erklärungstheorien von Aggression und Gewalt
2.2.1 Psychologische Erklärungstheorien
2.2.1.1 Trieb- und Instinkttheorie
2.2.1.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
2.2.1.3 Lerntheorien
2.2.2 Soziologische Erklärungstheorien
2.2.2.1 Anomietheorie
2.2.2.2 Etikettierungstheorie
2.3 Weitere risikoerhöhende Faktoren zur Entstehung von Aggression und Gewalt
2.3.1 Familiäre Faktoren
2.3.2 Medieneinflüsse
3. AGGRESSION UND GEWALT IM SCHULISCHEN KONTEXT
3.1 Ausmaß und Gewaltsituation in der (Grund-)Schule
3.1.1 Erscheinungs- bzw. Gewaltformen
3.1.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede
3.1.3 Vergleich der Gewalttaten deutscher Schüler und Schülern mit Migrationshintergrund
3.2 Täter-Opfer-Typologien
3.2.1 Charakteristische Tätermerkmale
3.2.2 Charakteristische Opfermerkmale
3.3 Mögliche schulische, risikoerhöhende Faktoren zur Entstehung von Aggression und Gewalt
4. GEWALTPRÄVENTION IN DER (GRUND-)SCHULE
4.1 Begriffsbestimmung
4.2 Handlungsansätze zur Gewaltprävention unter Betrachtung verschiedener schulischer Systemebenen
4.2.1 Individuelle Schülerebene
4.2.2 Klassenebene
4.2.3 Schulebene
4.3 Schulische Gewaltpräventionsprogramme
5. FAUSTLOS - EIN GEWALTPRÄVENTIONSPROGRAMM FÜR DIE GRUNDSCHULE
5.1 Theoretische Fundierung und Zielsetzung
5.2 Aufbau des Curriculums
5.3 Beschreibung und Zielsetzung der drei Einheiten
5.3.1 Einheit I - Empathiefähigkeit
5.3.2 Einheit II - Impulskontrolle
5.3.3 Einheit III - Umgang mit Ärger und Wut
5.4 Anweisungen zur Durchführung der einzelnen Lektionen für den Unterricht
5.5 Untersuchung der Wirksamkeit des Curriculums
5.5.1 Untersuchungsstudien zum Originalcurriculum Second Step
5.5.2 Untersuchungsstudien zu FAUSTLOS
6. ZUSAMMENFASSENDE SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Bestimmungsmerkmale von Aggression bzw. von aggressivem Verhalten
Abbildung 2: Aggressives Verhalten in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen
Abbildung 3: Voraggressive und aggressive Emotionen
Abbildung 4: Aggressionsarten im Vergleich und deren unterschiedliche Prozesse vor und nach dem aggressiven Verhalten
Abbildung 5: Verhältnis zwischen Aggression und Gewalt
Abbildung 6: Trieb- und Instinkttheorie
Abbildung 7: (Erweiterte und modifizierte) Frustrations-Aggressions-Theorie
Abbildung 8: Relevante Lerntheorien für die Erklärung aggressiven Verhaltens
Abbildung 9: Familien-Risiko-Modell nach Cierpka (1999)
Abbildung 10: Anteil der Kinder, die ein anderes Kind geschlagen haben, nach Konsum altersgefährdender Medieninhalte (4. Jahrgangsstufe)
Abbildung 11: Grundlegende Aspekte zur Erklärung eines aktuellen (aggressiven) Verhaltens
Abbildung 12: Befragungskreis im Rahmen der Viertklässlerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen
Abbildung 13: Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt in der Grundschule innerhalb eines bestimmten Zeitraums (4 Wochen) vor der Durchführung der Befragung aus der Täterperspektive
Abbildung 14:Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt in der Grundschule innerhalb eines bestimmten Zeitraums (4 Wochen) vor der Durchführung der Befragung aus der Opferperspektive
Abbildung 15: Zusammenhang von Täter- und Opferschaft
Abbildung 16: Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt innerhalb eines bestimmten Zeitraums (4 Wochen) vor der Durchführung der Befragung nach geschlechtsspezifischen Unterschieden
Abbildung 17: Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt in der Grundschule innerhalb eines bestimmten Zeitraums (4 Wochen) nach Migrationshintergrund
Abbildung 18: Schulisch bedingte, risikoerhöhende Faktoren zur Entstehung von aggressivem und gewalttätigem Verhalten
Abbildung 19: Formen der Gewaltprävention
Abbildung 20: Die 4 Aspekte einer Botschaft nach Schulz von Thun
Abbildung 21: Gewaltpräventive Maßnahmen unter Betrachtung schulischer Handlungsebenen
Abbildung 22: Übersicht schulischer Gewaltpräventionsprogramme (klassifiziert nach Zielgruppen)
Abbildung 23: Sozialer Informationsaustausch nach Crick und Dodge (mit Erweiterung von Lemerise und Arsenio)
Abbildung 24: Inhalte und Ablauf der Lektionen des FAUSTLOS-Curriculums im Überblick ..
Abbildung 25: Problemlöseverfahren der Einheit II des FAUSTLOS-Curriculums
Abbildung 26: Verfahren zum konstruktiven Umgang mit Ärger und Wut der Einheit III des FAUSTLOS-Curriculums
Abbildung 27: Der Ablauf einer FAUSTLOS-Lektion
Abbildung 28: Überblick über den Inhalt des Interviews
Abbildung 29: Evaluationsstudien und Ergebnisse des englischsprachigen Originalcurriculums Second Step und des FAUSTLOS-Programms
Abbildung 30: Stärken und Schwächen des FAUSTLOS-Programms
1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
„Der Retter hatte gerade das erste Opfer erfolgreich mit Erste-Hilfe-Maßnahmen behandelt, da sah er eine Frau, die kurz vor dem Ertrinken war, und zog auch sie an Land. Die Geschichte wiederholte sich ein halbdutzend Mal, aber plötzlich drehte sich der Retter um und lief davon, während der Fluss einen weiteren Ertrinkenden herantrug. ‹Willst du den denn nicht retten?› fragte ein in der Nähe stehender Mensch. ‹Zum Teufel, nein› erwiderte der Retter. ‹Ich gehe jetzt flussaufwärts und schaue nach, was alle diese Leute ins Wasser schubst.›“1
Diese Anekdote verdeutlicht bildkräftig den Kerngedanken der Prävention. Gewaltvorfälle in der Schule und in außerschulischen Sozialisationsräumen werfen immer wieder zum einen Fragen nach den Ursachen und zum anderen Möglichkeiten der effektiven Prävention bzw. Vermeidung von Aggression und Gewalt im Vorfeld auf.
Kinder und Jugendliche sind oftmals innerhalb und außerhalb des Schulhofs mit einer Vielzahl von Konflikten konfrontiert. Hänseleien, Ausgrenzung, Bedrohung sowie weitere körperliche und psychische Belästigungen sind Formen von Aggression und Gewalt, die heutzutage nicht selten auftreten. Aktuelle Forschungsstudien zeigen, dass sogar bereits Grundschulkinder von diesen Problemen betroffen sind. Auch wenn eine gravierende Verschärfung aggressiven Verhaltens in der (Grund-)Schule nicht zu verzeichnen ist, sondern Aggression und Gewalt eher als ein Dauerproblem charakterisiert werden können, sollte das beobachtete Ausmaß aggressiver Verhaltensweisen frühzeitig Anlass zum Handeln im Sinne von präventiven Maßnahmen geben.
Obwohl Schulen nicht die einzigen Orte sein können und dürfen, von denen Veränderungen ausgehen, „bestimmen sie doch über einen langen und entwicklungspsychologisch entscheidenden Zeitraum das Leben von Kindern […] und haben dadurch einen starken Einfluss auf deren Entwicklung“2. Schulische Gewaltpräventionsprogramme sind daher unerlässliche Maßnahmen um problematisches Verhalten möglichst früh zu vermeiden. Durch diese sollen Kinder für verschiedene Konfliktsituationen sowie Aggressions- und Gewaltformen sensibilisiert werden. Darüber hinaus bieten sie den Kindern die Möglichkeit, einen angemessenen Umgang mit Konflikten zu lernen und zeigen ihnen, wie man Probleme „faustlos“ lösen kann.
FAUSTLOS - so auch der Name des Gewaltpräventionsprogramms, dessen Entwicklung und Analyse im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht. Mit seiner Konzeption für die Zielgruppe der Primarstufe3 arbeitet FAUSTLOS auf der Klassen- und Schulebene und fördert die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder in drei entwicklungspsycholo- gisch wichtigen Bereichen: Empathiefähigkeit, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut. Über den Aufbau alters- und entwicklungsadäquater prosozialer Kenntnisse und Fähigkeiten in den genannten Bereichen soll impulsives und aggressives Verhalten von Kindern vermindert werden.
Die vorliegende Wissenschaftliche Hausarbeit soll einen Beitrag dazu leisten, das Ausmaß schulischer Gewalt und deren Entstehungsursachen weitgehend darzustellen und zu analysieren. Sie soll verdeutlichen, welche außerschulischen und schulischen Faktoren für die Entwicklung von Aggression und Gewalt verantwortlich sein können. Darauf aufbauend soll die zentrale Fragestellung analysiert werden, welche Wirkung das ausgewählte Curriculum auf die teilnehmenden Personen hat und inwiefern es mit seinen angestrebten Präventionsmaßnahmen aggressiven Verhaltensweisen entgegensteuern kann.
1.2 Aufbau und Vorgehensweise
Um das gesetzte Ziel erreichen zu können, wird die Arbeit in fünf weitere Kapitel gegliedert, wobei jedes einzelne zusätzlich dazu beitragen soll, die Zusammenhänge zwischen schulischen gewaltpräventiven Maßnahmen und den diversen Entstehungsursachen von Aggression und Gewalt zu verdeutlichen.
Bevor auf die schulische Gewalt eingegangen wird, wird im zweiten Kapitel zunächst die Definitionsproblematik der Begriffe Aggression und Gewalt thematisiert und deren verschiedene Erscheinungsformen dargestellt. Daraufhin folgt die Ätiologie aggressiver Verhaltensweisen, indem klassische Erklärungstheorien aus der Aggressionsforschung behandelt werden. Bezugnehmend auf jeden einzelnen Erklärungsansatz werden dabei erste entsprechende Konsequenzen für die Gewaltprävention in der (Grund-)Schule gezogen. Des Weiteren werden verschiedene risikoerhöhende Faktoren, die zur Entwicklung von aggressivem und gewalttätigem Verhalten führen können, beschrieben und erläutert.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Aggression und Gewalt im schulischen Kontext. Um das Ausmaß und die Gewaltsituation in der Grundschule erschließen zu können, werden hierzu Aggressions- und Gewalterfahrungen von Grundschülern herangezogen, die im Wesentlichen auf Schülerbefragungen aus dem Jahr 2007/2008 basieren, welche im Namen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen durchgeführt wurden. Ferner werden mögliche charakteristische Täter- und Opfermerkmale berücksichtigt, die den Pädagogen die Möglichkeit bieten sollen, solche Hinweise wahrzunehmen und die Bedürfnisse der einzelnen Schüler4 differenziert zu betrachten. Abschließend werden mögliche schulische, risikoerhöhende Einflussfaktoren zur Entstehung von Aggression und Gewalt ausgeführt.
Basierend auf diesen Risikofaktoren folgt im vierten Kapitel eine grundlegende Darstellung allgemeiner Handlungsansätze zur Gewaltprävention unter Betrachtung verschiedener schulischer Ebenen.
Im fünften Kapitel, welches den Kern der vorliegenden Arbeit ausmacht, wird das ausgewählte Gewaltpräventionscurriculum FAUSTLOS ausführlich behandelt. Zunächst wird auf die theoretische Fundierung, die Zielsetzung und den Aufbau des Programms sowie auf die Methoden für den Unterricht weitgehend detailliert eingegangen. Anschließend werden Evaluationsstudien verschiedener Forschungsgruppen sowohl zu FAUSTLOS als auch zum englischsprachigem Originalcurriculum Second Step zusammengeführt, wobei die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Effektivität beurteilt werden.
Im sechsten und letzten Kapitel werden die Erkenntnisse der Ausführungen dieser Wissenschaftlichen Hausarbeit zusammengefasst und es erfolgt eine subjektive Betrachtung der anfangs aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen.
2. Psychologische und soziologische Grundlagen von Aggression und Gewalt
Um auf das Thema „Gewalt und Gewaltprävention an Schulen“ aufbauen zu können, werden im ersten Teil dieser Arbeit zunächst psychologische sowie soziologische Grundlagen von Aggression und Gewalt dargestellt und weitgehend analysiert.
2.1 Begriffsdefinitionen
Die Begriffe Aggression und Gewalt werden in der psychologischen Forschung oft synonym verwendet und meist wenig voneinander unterschieden bzw. abgegrenzt.5 Im Folgenden werden deren mögliche Bedeutungen und verschiedene Definitionen vorerst getrennt dargestellt und anschließend geklärt, wie die Begrifflichkeiten in der vorliegenden Arbeit verwendet werden.
2.1.1 Aggression
„Aggressiv sind doch alle Menschen irgendwie. Schon kleine Kinder können richtig wütend brüllen oder aufstampfen.“
„Jeder Mensch muss ja auf die eine oder andere Weise seine Aggressionen rauslassen.“
„Was für eine unglaubliche Aggression, einen Mitschüler so zu malträtieren.“6
Solche und ähnliche Bemerkungen fallen im Alltag immer wieder. Bemerkenswert ist dabei, dass die Auffassung von Aggression unterschiedlicher Personen keineswegs einheitlich ist. Bezogen auf die o. g. Ansichten, gehört für manche zur Aggression ein erregtes, wildes oder absichtliches Verhalten, andere hingegen sehen Aggression als innere Impulse oder Emotionen. Auch in der Psychologie wird Aggression von unterschiedlichen Autoren in unzähligen Varianten definiert. Auch hier lässt sich bei allen Definitionen keine deutliche Grenze zwischen aggressiven und nichtaggressiven Handlungen ziehen.7
Etymologisch leitet sich der Begriff Aggression aus dem lateinischen Wort „aggredi“ ab, das so viel bedeutet wie herangehen, sich nähern oder angreifen.8 Darin liegt auch der Hintergrund weit gefasster Definitionen. Mitscherlich, Bach & Goldberg und Hacker definieren Aggression wie folgt:
„Als Aggressivität gilt […] alles, was durch Aktivität - zunächst durch Muskelaktivität - eine innere Spannung aufzulösen sucht.“9
„Mit Aggression ist jedes Verhalten gemeint, das im Wesentlichen das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellt.“10
„Aggression ist jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt.“11
Alle drei Definitionen vermitteln eher einen positiven Aspekt des Begriffs Aggression und weisen nahezu auf jedes menschliche Verhalten des „In-Angriff-Nehmens“, wie bspw. selbstbewusstes Auftreten oder das Durchsetzen eigener Wünsche und Bedürfnisse, hin. Für die Psychologie ist jedoch solch ein weites und unspezifisches Aggressionsverständnis nicht sinnvoll, da somit jedes Verhalten, sowohl Tatkraft als auch Destruktion, als aggressiv angesehen und im Grunde mit „Aktivität“ gleichgesetzt wird. Demzufolge ist es sinnvoll zwischen konstruktiver Aggression (Selbstbehauptung, Tatkraft, Durchsetzungs- fähigkeit usw.) und destruktiver Aggression zu unterscheiden.12 Bei Letzterem handelt es sich um absichtlich schädigendes Verhalten gegen Personen und Sachen und entspricht weitgehend den eng gefassten Definitionen.13
Eng gefasste Definitionen deuten meist auf zwei konkrete Bestimmungsmerkmale hin: Schaden und Intention.14 U. a. definieren Selg und Merz Aggression folgenderweise:
„Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat15 gerichtetes Austeilen schädigender Reize.“16
„Aggression umfaßt [sic!] jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird.“17
Beide Definitionen betonen die Folgen eines aggressiven Verhaltens18, das immer mit einer beabsichtigten Schädigung verbunden ist. Dabei ermöglicht diese „Gerichtetheit“ des Verhaltens auf ein Ziel (Definition von Selg, s. o.), zufällig schädigendes Verhalten, wie z. B. die Schmerzzufügung bei einem Zahnarzt oder ein versehentlicher Tritt auf dem Fuß, auszuschließen.19
Doch aus psychologischer Sicht spricht man auch dann von Aggression, wenn die Schädigung gar nicht das „eigentliche“ Ziel des Verhaltens ist. Wenn bspw. der Vater das Kind ohrfeigt, um auf diese Weise das Verhalten des Kindes positiv zu verändern oder ein Polizist einen Verbrecher jagt, um auch hier einen positiven Zweck zu erfüllen, so ist dennoch aggressives Verhalten festzustellen.20 Felson schließt dies ausdrücklich in seiner Definition mit ein. Er beschreibt Aggression „als eine Handlung, mit der eine Person eine andere Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was letztlich das Ziel dieser Handlung ist.“21
Kehrt man nun zum alltagstypischen Sprachgebrauch zurück, so wird oft der Aspekt der intendierten Schädigung durch ein weiteres Kriterium ergänzt: die Normabweichung bzw. Unangemessenheit. Dieses Kriterium ist ausschlaggebend, ob ein Verhalten als Aggression bezeichnet wird; wertet eine Person eine bestimmte Handlung als unangemessen bzw. inakzeptabel, so spricht diese von Aggression. Jedoch hängen die Urteile darüber, ob ein Verhalten angemessen bzw. normgerecht ist oder nicht, von persönlichen Ansichten und dem jeweiligen Kontext ab. Findet zum einen z. B. der Vater, dass das Ohrfeigen zu einer richtigen und normalen Erziehung gehört, so wird dieser kaum von Aggression sprechen, während andere dies durchaus tun werden. Andererseits wird oftmals aggressives Verhalten von der Gesellschaft in bestimmten Situationen, besonders in Notsituationen (z. B. Reaktion auf eine tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung), gebilligt. Folglich handelt es sich bei der Entscheidung, ob eine Handlung aggressiv oder nicht aggressiv ist, eher um ein moralisches Urteil und weniger um einen psychologischen Sachverhalt. Deshalb wird die Einbeziehung des Aspektes der Normabweichung von der Psychologie als kritisch angesehen, da dieser Sachverhalt parteiisch ist und subjektiven Bewertungen unterliegt.22 „Die Konsequenz ist also eine klare Trennung von Sachverhalt und Wertung.“23 Es sollte zuerst bestimmt werden, ob ein intendiert schädigendes Verhalten bzw. eine Aggression vorliegt und anschließend kann dann auf der wertenden Ebene geklärt werden, ob dieses aggressive Verhalten angemessen oder unangemessen ist. Das Urteil darüber beruht auf subjektiver bzw. persönlicher Anschauungen. Folglich kann nach psychologischer Definition dieselbe aggressive Handlung sowohl negativ als auch positiv bewertet werden.24
Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass es nicht möglich ist, eine einheitliche Definition zu finden, die sich sowohl mit dem alltagstypischen Sprachgebrauch als auch mit den Definitionen aus der Psychologie hinreichend deckt. Aggression kann u. a. offen (körperlich, verbal), verdeckt (phantasiert), sie kann positiv (von der Gesellschaft gebilligt) oder auch negativ (missbilligt) sein.25 Nach Nolting liegt das jedoch nicht an den Definitionen, sondern an der Sache selbst.26
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bestimmungsmerkmale von Aggression bzw. von aggressivem Verhalten
Quelle: Eigene Darstellung nach dem Kenntnisstand des bereits Erlernten.
Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die erläuterten, eng gefassten Definitionen von Aggression. Insbesondere auf jene von Selg (s. o.), da diese sowohl weitgehend wertneutral und relativ präzise ist und auf intendiert schädigende Verhaltensweisen hindeutet - worauf der Fokus dieser Arbeit liegt.
2.1.1.1 Aggressives Verhalten und aggressive Emotionen
Innere aggressive Emotionen, wie z. B. Wutausbrüche und äußeres aggressives bzw. intendiert schädigendes Verhalten, wie bspw. das Schlagen oder eine Beleidigung, werden oft in dem Begriff Aggression vereint. Problematisch ist dabei, dass dadurch die genannten Ebenen ineinander geraten und folglich meist kaum zu erkennen ist, ob dabei ein Verhalten oder eine Emotion gemeint ist. Aus diesem Grund ist es bedeutsam, vor allem für die psychologische Erklärung und Verminderung aggressiven Verhaltens, die emotionsbezogene Ebene von der verhaltensbezogenen Ebene abzugrenzen. Aggressive Gefühle können akzeptiert werden, wobei das Verhalten bzw. die Art, Gefühle auszudrücken, verändert werden kann.27 Zu betonen ist, dass einerseits eine aggressive Emotion nicht immer zu einem aggressiven Verhalten führt; Menschen können ihre negativen Gefühle und Emotionen auch kontrollieren. Andererseits beruht nicht jedes schädigende Verhalten auf aggressiven Erregungen; so sind aggressive Handlungen, die auf Gruppendruck bzw. Anweisungen anderer Personen basieren, nicht Ausdruck aggressiver Emotionen.28 Zwischen den beiden Ebenen gibt es also keine feste Verbindung.29
In der folgenden Tabelle werden einige Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens in ihren typischen Erscheinungen dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten30
Abbildung 2: Aggressives Verhalten in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Nolting, 2011, S. 20ff, Haug-Schnabel, 2009, S. 26-30 u. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 135.
Entscheidende Kriterien für die Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens stellen insbesondere das Alter und das Geschlecht dar. So wählen Jungen eher offene, direkte bzw. körperliche Formen, Mädchen hingegen verdeckte, indirekte sowie verbale Formen. Hinsichtlich des Alters sind bestimmte Ausdrucksformen wie etwa das Verspotten, typisch für das Kindesalter, jedoch werden schwerwiegende Formen, wie bspw. jemandem drohen, oftmals erst im Jugendalter beobachtet.31
Auch aggressive Emotionen treten in verschiedenster Weise auf. Nolting unterteilt diese in zwei Kategorien: voraggressiv und aggressiv. Von aggressiven Emotionen wird dann gesprochen, wenn diese sich größtenteils auf Personen beziehen und entweder als emotionaler Antrieb, Befriedigung oder als Haltung dienen. Eine gereizte Stimmung oder schlechte Laune wird in diesem Sinne als voraggressiv bezeichnet. Zudem sind solche Emotionen nicht bzw. kaum personenbezogen. Gefühle dagegen wie Angst, Begeisterung oder Langeweile sind nicht aggressiv. Sie können aber durchaus auch aggressives Verhalten zur Folge haben.32
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Voraggressive und aggressive Emotionen
Quelle: Modifiziert entnommen aus Nolting, 2011, S. 23.
In der vorliegenden Arbeit werden Aggression und aggressives Verhalten als gleichbedeutend verwendet. Andernfalls wird ausdrücklich von aggressiven Emotionen gesprochen.
2.1.1.2 Aggressionsarten
Nachdem der Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und aggressiven Emotionen dargelegt wurde, wird nun auf die verschiedenen Arten von Aggression, unter inhaltlich-motivationalem Aspekt, eingegangen. Diese Differenzierung betrifft vor allem die Art der Motivation33, die sich hinter dem aktuellen Verhalten verbirgt, folglich die inneren Prozesse und ihre situative Anregung.34
Menschen besitzen individuelle Persönlichkeitsprofile und weisen somit auch diverse Aggressionsarten auf.35 Die zuvor genannten Emotionen sind - wie Verhaltensweisen auch - verschiedenartig, jedoch hat aggressives Verhalten zudem oft einen Nutzen: Von der Genugtuung bei Vergeltung, zur Erleichterung bei Abwehr, zur Befriedigung bei Erlangung von Vorteilen bis hin zum „Spaß“ bei Lustempfindungen.36
Zunächst aber lassen sich grundsätzlich zwei Grundtypen der Aggression beobachten:37
Impulsive bzw. affektive Aggressionsarten: Sie beruhen auf aggressiven Emotionen wie Wut oder Rachebedürfnis und entstehen als Reaktion auf Situationen. Es handelt sich somit um reaktive Aggressionsarten. Das aggressive Verhalten tritt impulsiv, unkontrolliert und ungeplant auf. Die Befriedigung liegt dabei in der Schädigung und Schmerzzufügung.
Instrumentelle Aggressionsarten: Diese Aggressionsarten richten sich auf einen Nutzeffekt (z. B. Anerkennung, Bereicherung, Schutz). Sie verfolgen das Ziel, durch Schädigung etwas Bestimmtes zu erreichen. Das Schädigen dient dabei, im Gegensatz zu den affektiven Aggressionsarten, nur als Mittel zur Zielerreichung. Ferner liegen den aggressiven Handlungen vorausgegangene Überlegungen zugrunde.
Geht man über diese zwei Grundtypen hinaus, sind weitere Differenzierungen möglich. Nolting unterteilt diese in vier Arten der Aggression: die Vergeltungs-Aggression, die Abwehr-Aggression, die Erlangungs-Aggression und die Lust-Aggression. Im Folgenden werden die einzelnen Arten weitgehend erläutert: 38
Vergeltungs-Aggression: Bei dieser Art handelt es sich um eine emotional-reaktive, feindselige Form der Aggression. Sie ist zielgerichtet und entsteht u. a. durch Provokationen, Böswilligkeit oder Rücksichtslosigkeit. Die emotionale Genugtuung bzw. Befriedigung ergibt sich dementsprechend aus der gezielten und schädigenden Bestrafungsaktion („Schadenfreude“), um „Gerechtigkeit“ und/oder das Selbstwertgefühl bzw. die „verletzte Ehre“ wiederherzustellen. Der Aggressive verfolgt dabei keinen Nutzen und nimmt in vielen Fällen sogar Nachteile und Selbstschädigungen hin. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Bestrafte bzw. der Provokateur (die „schuldige“ Person; initiativ schädigend) die Vergeltung höchstwahrscheinlich nicht als gerechten Ausgleich empfindet und nun seinerseits eine Störung ausgleichen will (Abwehren einer Schädigung; reaktiv). Beides entsteht somit interaktiv während einer sozialen Interaktion.39 In der Realität kann dies bedenkliche Folgen haben. Beispiele für die Vergeltungs-Aggression sind folgende:
- Eine Mutter erschießt im Gerichtssaal den Mann, der ihr Kind ermordet hat.
- Ein Schüler sticht einem anderen ein Loch in den Fahrradreifen, weil der ihn während der Klassenarbeit nicht abschreiben ließ.
Abwehr-Aggression: Auch hierbei handelt es sich um eine reaktive Aggressionsform. Die Abwehr-Aggression bzw. defensive Aggression40 besitzt primär einen instrumentellen Charakter, sie verfolgt demnach einen Nutzen. Dieser besteht darin, etwas Negatives, u. a. Bedrohungen und Gefahren, Belästigungen, lästige Pflichten oder peinliche Fragen, abzuwehren. Das aggressive Verhalten ist demzufolge ein Mittel zur Abwehr und die Befriedigung bzw. Erleichterung ergibt sich aus dem erreichten Schutz. Mit dem erreichten Ziel, endet auch die aggressive Handlung. Neben dem instrumentellen Charakter, spielen dennoch Emotionen eine wichtige Rolle. Wird ein Ereignis bspw. als Gefahr empfunden, ist voraussichtlich eine Abwehr aus Angst zu erwarten. Wird ein Ereignis als Belästigung erlebt, so wird die Emotion vermutlich in Richtung Ärger gehen. Letzteres kann durchaus mit der Vergeltung verwechselt werden. Folgendes Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen der Abwehr- und der Vergeltungs-Aggression: Schlägt ein Schüler die körperliche Attacke (Bedrohung) eines anderen zurück, so handelt es sich um eine Abwehr-Aggression. Verprügelt er ihn nach der Attacke, weil er sich eventuell gekränkt fühlt, so ist es ein Racheakt und gilt somit als Vergeltungs-Aggression. Allerdings kann beides zutreffen und gleichzeitig eine Motivation zur Abwehr und zur Vergeltung entstehen. Eine Unterscheidung der beiden Arten ist neben dem psychologischen Verständnis aggressiver Auseinandersetzungen auch für die Aggressionsverminderung wichtig, da sie sich auf unterschiedliche Weise vermeiden lassen. Bei einer Abwehr- Aggression besteht die Vermeidung z. B. in der Aufhebung der Bedrohung, bei der Vergeltungs-Aggression hingegen in einer Entschuldigung. Folgende Beispiele verdeutlichen nochmals die Abwehr-Aggression:
- Ein Schüler wirft seinen Eltern die Schulhefte vor die Füße, als sie ihn an seine Hausaufgaben erinnern.
- Ein Ehemann reagiert mit gereizten Worten, als seine Frau mit ihm über ein unangenehmes Thema sprechen will.
Erlangungs-Aggression: Im Gegensatz zu den zwei zuvor erläuterten Aggressionsarten zeigt die Erlangungs-Aggression primär einen aktiven Charakter. Zudem ist sie instrumentell und der Nutzeffekt liegt hierbei in der Erlangung von Vorteilen und nicht in der Abwendung von Nachteilen bzw. etwas Negativem. Aggressive Verhaltensweisen, u. a. körperliche Aggression und/oder Erpressungs- versuche, entstehen ohne Anlass und dienen als Mittel zum Zweck und nicht zur Bestrafung. Die jeweiligen Anreize für aggressive Handlungen können dabei z. B. Beachtung, Anerkennung und/oder materielle Gewinne sein. Erlangungs- Aggression beruht nicht auf aggressiven Emotionen, oftmals wird sie kühl, kalkuliert und kämpferisch ausgeführt. Ein entscheidendes Kriterium, das diese Art von Aggression von der Vergeltungs- und der Abwehr-Aggression abgrenzt, ist die Wahl der Opfer. Es sollte nach Möglichkeit ohne großes Risiko angreifbar sein und das Erlangen von Vorteilen begünstigen (z. B. eine Geiselnahme bei einem Raubüberfall). Gegen Personen bzw. Objekte, die oft aus reinem Zufall betroffen sind, jedoch den Weg zum Ziel erschweren, wird ebenfalls aggressiv vorgegangen. Folgende Beispiele dienen der Verdeutlichung:
- Ein Schüler schubst einen anderen beiseite, um einen besseren Platz im Bus zu erlangen.
- Ein Killer führt gegen Bezahlung einen Mordauftrag aus.
- Ein Jugendlicher beteiligt sich an einer Prügelei, damit seine Gruppe ihn für einen „echten Kerl“ hält.
Lust-Aggression: Auch sie ist eine aktive Form der Aggression. Sie ist emotional bedingt und verfolgt keinen Nutzen. Das aggressive Verhalten, das unprovoziert von Sticheleien bis hin zu sadistischen Quälereien reichen kann, verschafft dabei eine emotionale Befriedigung bzw. „Spaß“ und wird durch „Aggressionslust“ motiviert. Der „Spaß“ besteht im Wesentlichen darin, ein Erlebnis von Macht und Stärke und/oder Selbststimulierung, einen sog. Nervenkitzel, zu erfahren. Die Opfer einer reinen Lust-Aggression sind meist schwach und wehrlos und verhalten sich in vielen Fällen auch passiv. Eine hinreichende Erklärung, warum Menschen gerade durch aggressive Verhaltensweisen deren Selbststimulierung suchen ist nicht vorhanden. Beispiele, welche als Lust-Aggression verstanden werden können, sind folgende:
- Eine Person sucht gerne Orte auf, an denen sich leicht eine Gelegenheit zur Prügelei ergibt.
- Schüler schikanieren ohne Anlass immer wieder bestimmte Mitschüler (sog. Bullying41 ).
- Fußball-Hooligans suchen die Schlacht mit der gegnerischen Gruppe.
Alle o. g. Aggressionsarten sind nicht ausschließlich als reine Formen zu betrachten. Wie bereits erwähnt, kann es durchaus vorkommen, dass fließende Übergangsformen und Kombinationen auftreten. Da in einer Handlung mehrere Motivationen zusammenfließen können, werden infolgedessen verschiedene Aggressionsarten verbunden. Die Systematisierung von Aggressionsarten bietet in erster Linie - insbesondere für die Schulpraxis - die Möglichkeit, das Phänomen Aggression differenzierter zu betrachten und bei der Deutung von aggressiven Verhaltensweisen den dahinterliegenden Motiven42 und Emotionen stärkere Aufmerksamkeit zu widmen.43
In der nachstehenden Abbildung werden die zuvor erläuterten Aggressionsarten nach Nolting nochmals im Vergleich dargestellt und die unterschiedlichen Prozesse, die vor und nach dem aggressiven Verhalten stattfinden, verdeutlicht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten44
Abbildung 4: Aggressionsarten im Vergleich und deren unterschiedliche Prozesse vor und nach dem aggressiven Verhalten
Quelle: Eigene Darstellung nach dem Kenntnisstand des bereits Erlernten.
In diesem Kontext lässt sich eine mittelbare Beziehung zu den klinisch relevanten Formen aggressiven Verhaltens beobachten. Hierfür sehen die Klassifikationssysteme für psychische Störungen, ICD-1044 und DSM-IV45, die Begriffe „Störung des Sozialverhaltens“ (aggressiv-dissoziales Verhalten) und „Störung mit oppositionellem Verhalten“ (aggressiv- oppositionelles Verhalten) vor. Bei Letzterem handelt es sich um Erscheinungsformen, bei denen trotzige, provokative und feindselige Verhaltensweisen, u. a. häufiges Streiten und Beileidigen, vermehrt und wiederkehrend auftreten. Diese bilden in der Regel die vom Erscheinungsbild „leichtere“ Vorläuferstörung der aggressiv-dissozialen Verhaltensweisen. Denn hierbei ist ein ebenso wiederholtes Verhaltensmuster charakteristisch, jedoch wird (zusätzlich) körperlich-aggressives oder dissoziales Verhalten (z. B. Zerstörung von Eigentum, schwere Regelverstöße, Betrug oder Diebstahl) deutlich. Um jedoch eine Diagnose klinisch bedingter Aggressionsformen zu rechtfertigen, muss eine bestimmte Anzahl von Verhaltensweisen,46 welche seit sechs Monaten oder länger bestehen, vorliegen. Darüber hinaus müssen klinisch bedeutsame, psychosoziale Beeinträchtigungen auftreten.47
2.1.2 Gewalt
„Nicht alle Aggression ist Gewalt, aber alle Gewalt ist Aggression.“48
Das Zitat von Hacker verdeutlicht, dass es sich bei den Begriffen Aggression und Gewalt nicht immer um identische Bezeichnungen handelt. Im Gegensatz zum Aggressionsbegriff, der sowohl negativ als auch positiv bewertete Verhaltensmuster umfasst, ist der Gewaltbegriff ausschließlich negativ besetzt.49 Von Gewalt spricht man in der Regel, wenn folgenschwere und ernsthafte Formen der Aggression vorliegen50 bzw. wenn „destruktive Aggression in deutlichem Maße von den sozialen Normen abweicht und in massiver Form schädigend wirkt“51. Darunter können u. a. physische und/oder psychische aggressive Verhaltensweisen verstanden werden, wie z. B. eine Prügelei, Vandalismus (Gewalt gegen Sachen) oder Bullying.52 Nolting schließt dabei leichtere Formen der Aggression wie „jemanden anschnauzen“ von dem Gewaltbegriff aus.53 Auch Formen der Aggression wie bspw. die konstruktive Aggression (siehe weit gefasster Aggressionsbegriff), die sich u. a. in Durchsetzungsfähigkeit zeigt, oder die defensive Aggression im Sinne von Notwehrhandlungen, werden ebenso von dem Begriff „Gewalt“ ausgeschlossen, da solche aggressive Formen durchaus von der Gesellschaft als gerechtfertigt angesehen -der auch gebilligt werden.54 In diesem Zusammenhang ist Gewalt im Vergleich zur Aggression ein engerer Begriff, der nach Galtung als personale Gewalt55 zu verstehen und folglich als eine Unterkategorie von Aggression zu fassen ist.56
Neben der personalen Gewalt, bei der Opfer und Täter eindeutig identifizierbar und zuzuordnen sind, hat Galtung auch den Begriff der strukturellen bzw. indirekten Gewalt eingeführt. Diese Gewaltform geht jedoch nicht von Akteuren aus, sondern ist im gesellschaftlichen System eingebaut oder liegt in strukturellen Bedingungen. Darunter ist die indirekte Schädigung durch ein ungerechtes Gesellschaftssystem zu verstehen, das die Entfaltung der individuellen Möglichkeiten verhindert. Z. B. gehen Menschen physisch oder psychisch zugrunde, weil ihnen der Zugang zu Nahrung, zu medizinischer Versorgung und ähnlichem versperrt ist.57 Da diese Form von Gewalt jedoch nicht durch direktes verletzendes Verhalten sichtbarer Akteure ausgelöst wird, sollte nach Nolting strukturelle Gewalt nicht zur Aggression gezählt werden.58
In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Begriff Gewalt hauptsächlich auf die personale Gewalt, da im schulischen Kontext diese Form von Gewalt besonders häufig in Erscheinung tritt.59 In der folgenden Darstellung soll das Verhältnis der Begriffe Aggression und Gewalt noch einmal veranschaulicht werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Verhältnis zwischen Aggression und Gewalt
Quelle: Modifiziert entnommen aus Nolting, 2004, S. 26.
2.2 Klassische Erklärungstheorien von Aggression und Gewalt
Bisher wurde eine Abgrenzung verschiedener Begrifflichkeiten vorgenommen. Dabei wurde zwischen Gewalt und Aggression und zwischen aggressivem Verhalten und aggressiven Emotionen unterschieden. Auch wurden verschiedene Aggressionsarten dargestellt. Wie und warum aber kommt es letztendlich zu aggressivem Verhalten und zur Gewalt? Welche psychologischen bzw. soziologischen Erklärungen verbergen sich dahinter?
In den folgenden Kapitelabschnitten werden ausgewählte klassische Erklärungstheorien von Aggression und Gewalt vorgestellt und weitgehend erläutert. Dabei werden zunächst die jeweiligen Ursachen und Entstehungsbedingungen dargestellt und anschließend - bezugnehmend auf jeden einzelnen Erklärungsansatz - erste, entsprechende Konsequenzen für die Gewaltprävention bzw. Minderung aggressiven Verhaltens in der (Grund-)Schule gezogen.
Die verschiedenen wissenschaftlichen Erklärungstheorien60 weisen unterschiedliche Faktoren auf, die von biologischen über psychische bzw. psychologische bis hin zu gesellschaftlichen Bedingungen reichen. Aus diesem Grund wird zwischen psychologischen und soziologischen Theorien unterschieden. Während Erstere an Merkmale anknüpfen, die in der Person selbst liegen und ihre Bedürfnisse und Gefühle betonen, beziehen sich die soziologischen Erklärungstheorien auf die äußeren, sozialen Einflüsse, die auf den Einzelnen einwirken. Zu erwähnen ist dabei, dass die einzelnen Erklärungsansätze sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr in verschiedenster Weise ergänzen.61
2.2.1 Psychologische Erklärungstheorien
Die psychologischen Erklärungsansätze lassen sich im Wesentlichen in drei klassische Theorien unterteilen: die Trieb- und Instinkttheorie, die Frustrations-Aggressions-Theorie und die Gruppe der Lerntheorien.
2.2.1.1 Trieb- und Instinkttheorie
Siegmund Freud, einer der bekanntesten Vertreter dieser Theorie, spricht von einer „angeborenen Neigung des Menschen zum «Bösen», zur Destruktion und damit zur Grausamkeit“62. Er geht davon aus, dass jeder Mensch ein angeborenes Aggressionspotential hat. Die Grundannahme besteht darin, dass im menschlichen Organismus eine Quelle wirkt, die ständig aggressive Impulse bzw. Energien produziert.63 Aus psychoanalytischer Sicht handelt es sich dabei um den Eros- (Libido) und den Todestrieb (Destrudo). Während die Libido, oder auch Luststreben genannt, ihren Ausdruck u. a. in der Sexualität, im Spiel und in der Selbsterhaltung findet, ist der Todestrieb auf die (Selbst-)Zerstörung gerichtet; jedoch wirken beide Triebe in allen Handlungen des Menschen gleichzeitig (so sei z. B. Essen zugleich Zerstörung und Lustgewinn, Vernichtung und Einverleibung).64 Nach Freud bedeutet dies, dass der Mensch seine destruktive Energie bzw. aggressiven Impulse, zum Zweck des Selbsterhalts und des Wohlbefindens, durch sein Verhalten nach außen richten muss, um so seine Spannungen zu reduzieren.65 Dies geschieht, indem der Erostrieb die Energie des Todestriebes über das Muskelsystem nach außen lenkt und dieser nun als Aggression in Erscheinung tritt.66 „Das Lebewesen [der Mensch] bewahrt sozusagen sein eigenes Leib dadurch, dass es fremdes zerstört.“67 Kann Aggression dabei, z. B. aufgrund einer Unterdrückung der Libido oder des Destrudo, nicht in der Umwelt ausagiert werden, so kann dies zur psychischen Zerstörung gegen die eigene Person führen (autoaggressiv). Autoaggressive Formen können vom extremen Nägelkauen, über Magersucht bis hin zu Selbstmord reichen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Mensch letztendlich nur die Wahl hat, entweder sich selbst oder anderen Leid zuzufügen, wobei das eine nicht weniger schädlich als das andere wäre.68
Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass der Mensch zum einen dann aggressiv wird, wenn er in seinem Luststreben gehemmt oder gekränkt wird. Je mehr dies einem Menschen in seiner Kindheit widerfährt, desto stärker ist die Aggressivität69 in seinem Erwachsenenleben.70 Zum anderen spielt bei der Aggressionsentstehung, vor allem um eine alleinige Dominanz des Todestriebes zu vermeiden, neben der Stärkung der Libido, auch die „Über-Ich-Entwicklung“ eine entscheidende Rolle. Darunter werden verinnerlichte Normen der Gesellschaft, Moral, Recht etc. verstanden. Hat z. B. ein Kind während seiner Entwicklung auf dem Weg zu seiner Identifikation mit einer erwachsenen Bezugsperson nicht genügend „moralische Sicherungen“ erworben, so steigt das Ausmaß der individuellen Aggressivität ebenfalls.71
Die psychoanalytische Triebtheorie findet jedoch in der Aggressionsforschung kaum Resonanz, da sie u. a. die Vielfalt der alternativen Möglichkeiten mit dem Todestrieb umzugehen, ignoriert und zudem biologisch unverständlich und sehr spekulativ erscheint.72
Die Instinkttheorie wurde insbesondere von dem Ethologen73 Konrad Lorenz geprägt und ist in ihrem Ansatz der psychoanalytischen Triebtheorie ähnlich. Sie geht von der Theorie aus, dass sowohl der Mensch als auch das Tier über einen angeborenen Instinkt verfügt und aggressiven Energien ausgesetzt ist. Diese entstehen spontan, stauen sich wie in einem Dampfkessel an und entladen sich in aggressiven Verhaltensweisen, wenn sie eine bestimmte Schwelle überstiegen haben.74 Es kann somit auch ohne äußeren Anlass zur aggressiven Entladung kommen. Dies deutet folglich darauf hin, dass je stärker der Aggressionsstau ist, desto geringer ist der jeweilige Auslösereiz zum Aggressionsausbruch.75
Im Unterschied jedoch zur Triebtheorie, bei der die destruktive Funktion der Aggression im Vordergrund steht, besitzt die Instinkttheorie nach Lorenz eine arterhaltende Funktion. Diese hat bei vielen Tierarten und eben auch bei Menschen u. a. den Zweck der Auswahl eines starken Familienverteidigers in Rivalenkämpfen oder bei in Gemeinschaft lebenden Arten die Bildung von Rangordnungen zur Sicherung der Handlungsfähigkeit.
Aggressives Verhalten ist nach Auffassung beider o. g. Theorien ein biologisches Grundbedürfnis wie Hunger und Durst. Es ist wie dieses angeboren, tritt spontan und periodisch auf und ist somit ein Trieb. Hat der Mensch aber tatsächlich einen Aggressionstrieb? Sowohl bei der Trieb- als auch bei der Instinkttheorie kann die Annahme, dass der Einflussfaktor bei aggressiven Verhalten genetisch bedingt ist, empirisch nicht belegt werden; aufgrund dessen sprechen auch viele Argumente gegen diese Theorien.76
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Trieb- und Instinkttheorie
Quelle: Eigene Darstellung nach dem Kenntnisstand des bereits Erlernten.
Für die Entwicklung von Präventionsmöglichkeiten können jedoch bestimmte Elemente der beiden Erklärungsansätze durchaus anregend sein und zudem, insbesondere für die Erklärung kindlicher Aggressivität, hilfreich erscheinen. Emotionale Spannungszustände, Aktivitäts- und Bewegungsbedürfnisse sowie Risikobereitschaft liegen in der Natur der Kinder. Besonders in der Grundschule sollte ihnen die Möglichkeit eingeräumt werden, diese in Form von sozialen, kulturellen und sportlichen Spielaktivitäten zu entladen bzw. zu befriedigen. Dabei ist zu beachten, dass zugleich Spielregeln aufgestellt und Rituale eingeführt werden, um so die Grenze des Spiels nicht zu überschreiten.77
2.2.1.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
Bevor auf die Frustrations-Aggressions-Theorie eingegangen wird, sollte zunächst ein wichtiger Aspekt geklärt werden: Was ist unter Frustration zu verstehen?
Anfänglich wurde Frustration als eine Störung einer zielgerichteten Aktivität bezeichnet. Später wurde der Begriff auf alle aversiven78, unangenehmen Ereignisse ausgedehnt. Nach Nolting können dabei drei Typen von Frustration unterschieden werden:79
Hindernisfrustration : Frustration entsteht, wenn eine erwartete Zielerreichung durch ein Hindernis gestört wird. Dabei ist es wichtig, dass eine Aktivität bereits körperlich oder auch gedanklich in Richtung Ziel begonnen haben muss.
Entbehrungen (schmerzlich empfundene Mangelzustände): Von Frustration kann auch dann gesprochen werden, wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Dazu zählen u. a. Entbehrungszustände wegen Nahrungsentzug oder emotionaler Vernachlässigung.
Schädigende Reize: Lärmbelästigungen, Luftverschmutzungen, Provokationen, ungerechte Behandlungen und andere physische Einwirkungen können als unangenehm empfunden werden und dadurch die Aggressionsbereitschaft fördern. Bei dieser Frustrationsart liegt weder eine bereits in Bewegung gesetzte Zielerreichung noch ein Entbehrungszustand vor. Vielmehr wird dabei die „Ruhe“ einer Person gestört.
Die Frustrations-Aggressions-Theorie wurde erstmals im Jahr 1938 (dt. 1971) von der sog. Yale-Forschergruppe80 formuliert. Im Gegensatz zu der Trieb- und Instinkttheorie entsteht diese nicht spontan, sondern reaktiv auf störende, unangenehme Reize.81 Ihre These lautete ursprünglich wie folgt: „Das Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression.“82 Diese Annahme konnte jedoch aufgrund fehlender Belege nicht mehr aufrecht erhalten und musste somit modifiziert werden. Nach heutiger, empirisch belegter Auffassung gilt, dass nicht jede Frustration automatisch zu aggressiven Handlungen führen muss. Frustrationen erzeugen Anreize für verschiedene Verhaltensweisen, wie bspw. konstruktive Reaktionen (Lärmschutz, Schmerzmittel usw.) oder auch Ausweichen, Selbstbetäubung (z. B. durch Alkohol, Drogen etc.) und andere Reaktionen. Dies bedeutet, dass aggressives Verhalten nur eine mögliche Folge von Frustration darstellt. Umgekehrt gilt auch, wie bereits aus den Ausführungen der vorausgegangenen Kapitelabschnitte hervorgeht, dass nicht jede Aggression auf Frustration zurückzuführen ist (z. B. „Aggressionslust“, Kriegshandlungen, Erpressung).83
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: (Erweiterte und modifizierte) Frustrations-Aggressions-Theorie
Quelle: Eigene Darstellung nach dem Kenntnisstand des bereits Erlernten.
Von welchen Bedingungen hängt es aber letztendlich ab, ob nun eine Frustration zu einem aggressiven Verhalten führt oder nicht? Zunächst ist der aggressionsfördernde Auslöser entscheidend, z. B. eine Provokation. Wird man bspw. von jemandem angerempelt, dann wird die Reaktion davon abhängen, wie die Situation bewertet wird. Fasst man das Geschehen als Absicht, Rücksichtslosigkeit oder aber auch als Versehen auf. Auch ist mitentscheidend, wie stark die Affekte sind, die das Frustrationsereignis hervorgerufen haben.84 Die Interpretation und Bewertung als auch das reaktive Verhalten sind folglich von der individuellen Attribution85 des Ereignisses abhängig. Dieser Aspekt wird auch an der Frustrations-Aggressions-Theorie bemängelt, da nicht festgestellt werden kann unter welchen Voraussetzungen oder Bedingungen eine Frustration zu einer aggressiven Handlung, zur Flucht oder zu anderen Reaktionen führen wird.86 Schließlich ist noch zu betonen, dass die Aggression, die aus einer Frustration resultiert, sich nicht ausschließlich gegen die Frustrationsquelle richten muss, sondern sich lediglich auch auf einen „Sündenbock“87 bzw. auf ein in der Regel schwächeres Aggressionsobjekt verschieben kann (sog. Aggressionsverschiebung). Im Schulalltag sind Aggressions- bzw. Ketten von Aggressionsverschiebungen ein recht häufiges Phänomen.88
Ungeachtet ihrer Schwächen, kommt der Frustrations-Aggressions-Theorie bei der Erklärung von Aggression und Gewalt in der (Grund-)Schule ein hoher Stellenwert zu, da sie wichtige Anregungen bzw. Begründungen für pädagogisches Handeln bietet. Einerseits sollte seitens der Lehrpersonen die individuelle Frustrationsschwelle der einzelnen Schüler beachtet werden. Insbesondere sollte das Ausüben destruktiver Kritik, die das Gesamt- bzw. Selbstbild der Schüler angreift und somit auch deren Leistungseinschätzung herabsetzen kann, vermieden werden.89 Solche persönlichen Herabsetzungen und Demütigungen können zu sog. Autosuggestionen90 führen, welche wiederum die individuelle Aggressivität bzw. Gewaltbereitschaft erhöhen können.91 Erfolge und Anerkennung sollten dagegen gefördert werden. Andererseits ist es wichtig, dass Kinder frühzeitig den bewussten und kontrollierten Umgang mit Frustrationen, z. B. durch Verbalisierung von Konflikten und Begründung von Bewertungen, erlernen, ohne dabei auf Gewalt als Mittel zum Ausgleich ihrer Frustrationen zurückgreifen zu müssen. Dies bewirkt, dass eine ausreichende Frustrationstoleranz aufgebaut werden kann, um unvermeidliche Enttäuschungen im Leben zu ertragen.92
2.2.1.3 Lerntheorien
Während bei Trieb- und Frustrationstheorien ein einzelner, spezifischer Faktor (ein spezieller Trieb oder Frustration) für die Erklärung aggressiven Verhaltens benötigt wird, gehen lerntheoretische Ansätze davon aus, dass soziale Verhaltensweisen, mitunter auch aggressives Verhalten, überwiegend auf Lernvorgänge basieren und damit prinzipiell auch veränderbar sind.93 Unter dem Begriff Lernen werden dabei Veränderungen persönlicher Dispositionen, u. a. Kenntnisse, Fertigkeiten, Gewohnheiten, Abneigungen und Vorlieben verstanden, welche aufgrund von Erfahrungen stattgefunden haben.94 In diesem Zusammenhang und bezugnehmend auf Aggression sind drei Typen von Lernvorgängen von Bedeutung: Lernen am Modell, Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg und kognitives Lernen. Diese drei Lerntheorien werden im Folgenden kurz dargestellt. Auch hier ist zu erwähnen, dass es in der Praxis durchaus zu Überschneidungen und Verflechtungen kommen kann:95
Lernen am Modell: Einer der bekanntesten Vertreter dieser Lerntheorie, auch Beobachtungslernen genannt, ist Albert Bandura. Das Lernen aggressiven Verhaltens erfolgt hierbei durch Beobachtung und Imitieren bzw. Nachahmen rezipierter Handlungsmuster. Dabei kann das Modellverhalten direkt nachgeahmt oder aber auch im Gedächtnis gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt reproduziert werden. Die Imitation bzw. die Wirkung eines Modellverhaltens hängt von mehreren Einflussgrößen ab; von Persönlichkeitsmerkmalen des Modells und des Beobachters, ihrer Beziehung untereinander (Bewunderung, Liebe, Hass, Ansehen etc.) als auch den situativen Bedingungen. Begünstigt wird die Übernahme des (aggressiven) Verhaltens insbesondere dann, wenn
- das Modell erfolgreich ist und Macht ausstrahlt,
- die Handlung als moralisch gerechtfertigt dargestellt wird,
- die Beziehung zwischen Beobachter und Modell positiv ist und
- wenn die Beobachter vorher eine Frustration erlebt haben (Frustrations- Aggressions-Theorie).
Als wichtige Vorbilder gelten meist die eigenen Eltern und Personen aus dem Freundeskreis, aber auch Lehrer oder Modelle, die über die Massenmedien vermittelt werden.
Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg: Entscheidend in dieser Lerntheorie, welche auch unter dem Begriff des operanten Konditionierens bekannt ist, sind die Konsequenzen des eigenen Handelns. Hierbei wird kein neues Verhaltens- oder Handlungsmuster gelernt, sondern das Individuum erfährt positive (Erfolgserfahrungen) bzw. negative (Misserfolgserfahrungen) Konsequenzen aus seinen bereits vollzogenen Verhaltensweisen, welche wiederum entscheidend für das zukünftige Auftreten neuer (erfolgsversprechender) Verhaltensmodelle sind. In verschiedenen Experimenten wurde nachgewiesen, dass Aggression bei Kindern zunimmt, wenn diese für ihre Aggression gelobt bzw. positiv oder negativ verstärkt96 werden. Auch durch „Duldung“ ihrer aggressiven und gewalttätigen Handlungen, kann Aggression ansteigen, da dies als stillschweigende Zustimmung aufgefasst wird und dementsprechend zu neuen wiederholten aggressiven Verhal- tensweisen ermuntert. Die Kinder fühlen sich in ihrem Verhalten bekräftigt und prägen sich dieses ein. Demnach bestimmt die Erfolgs- bzw. Misserfolgserwartung, ob die betreffende Person sich letztendlich aggressiv verhält oder nicht. Wichtige Aggressionserfolge, die die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung oder Beibehaltung aggressiver Handlungsmuster erhöhen, sind z. B.:
- Durchsetzung und Gewinn
- Beachtung und Anerkennung
- Spannungsreduktion sowie
- Abwehr und Selbstschutz
[...]
1 Myers David G.; zit. n. Bertet, Keller, 2011, S. 29.
2 Schick, 2006b, S. 251.
3 Das Programm FAUSTLOS gibt es auch für den Elementarbereich und die Sekundarstufe. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die Version für die Primarstufe.
4 Die männliche Form beinhaltet auch die weiblichen Schülerinnen. Sie wurde aus Vereinfachungsgründen gewählt, die einer besseren Lesbarkeit dieser Arbeit dient. Andernfalls wird ausdrücklich von Mädchen und Jungen gesprochen.
5 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S.11 u. Ziegler, Ziegler, 1997, S. 5.
6 Nolting, 2011, S. 13.
7 Vgl. ebd., S. 14 u. S.19.
8 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 11.
9 Mitscherlich, 1969; zit. n. Nolting, 2004, S. 24.
10 Bach, Goldberg, 1974; zit. n. Nolting, 2004, S. 24.
11 Hacker, 1971; zit. n. Nolting, 2004, 24.
12 Vgl. Nolting, 2011, S. 15f u. Cierpka, 1999, S.17.
13 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 12.
14 Vgl. Nolting, 2011, S. 14 u. Dollase, 2010, S. 12.
15 Unter einem Surrogat wird ein Ersatz, in diesem Fall ein „Ersatz“ für einen Organismus (z. B. das Zerreißen eines Fotos, anstelle von Aggression gegen die abgebildete Person), verstanden; vgl. Duden, das Fremdwörterbuch, 2007, S. 998.
16 Selg, 1994; zit. n. Varbelow, 2003, S. 25.
17 Merz, 1965; zit. n. Nolting, 2011, S. 15.
18 Im folgenden Kapitelabschnitt wird näher auf aggressives Verhalten und aggressive Emotionen eingegangen.
19 Vgl. Varbelow, 2003, S. 25 u. Nolting, 2011, S. 17.
20 Vgl. Nolting, 2011, S. 18.
21 Felson, 1984; übersetzt und zit. n. Nolting, 2011, S. 18.
22 Vgl. Nolting, 2011, S. 24-26 u. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 128.
23 Nolting, 2011, S. 26.
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 12f.
26 Vgl. Nolting, 2011, S. 19.
27 Vgl. Hinsch, Hoffman et al., 1998, S. 136.
28 In Kapitel 2.2.1.2 (Frustrations-Aggressions-Theorie) wird näher auf diesen Aspekt eingegangen.
29 Vgl. Dollase, 2010, S. 13 u. Nolting, 2011, S. 19.
30 Relationale Erscheinungsformen von aggressiven Verhaltensweisen bestehen in der gezielten Beeinträchtigung sozialer Beziehungen. Ein solches Verhalten ist oft nur schwer beobachtbar und nachweisbar, da es verdeckt (und hinterhältig) geäußert wird; vgl. Petermann, Petermann, 2008b, S. 4.
31 Vgl. Petermann, Petermann, 2008a, S. 278 u. Petermann, Petermann, 2008b, S.3f.
32 Vgl. Nolting, 2011, S. 22f.
33 Motivation kann als eine Kraft verstanden werden, die hinter dem Verhalten eines Menschen wirkt und es in Gang setzt; vgl. Keller, 2008, S. 17.
34 Vgl. Nolting, 2011, S. 124.
35 Vgl. Gerrig, Zimbardo, 2008, S. 689.
36 Dollase, 2010, S. 15f.
37 Vgl. Gerrig, Zimbardo, 2008, S. 689, Nolting, 2011, S. 125 u. Petermann, Petermann, 2008b, S. 4.
38 Vgl. Nolting, 2011, S. 127 - 139.
39 Vgl. Dollase, 2010, S. 17.
40 Abwehr-Aggression und defensive Aggression werden in der Literatur synonym verwendet; vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 12.
41 Auf das Phänomen „Bullying“ wird in Kapitel 3.1.1 näher eingegangen.
42 Motive dienen der Richtungsgebung eines Verhaltens. Es handelt sich dabei um die positive oder negative Bedeutung, die eine Person einem Handlungsziel zuschreibt. Motive können Persönlichkeitsmerkmale, Bedürfnisse oder Triebe darstellen und bestimmen in jedem Fall, wie eine Person eine Situation wahrnimmt, empfindet und bewertet; vgl. Wilbert, 2010, S. 22f.
43 Vgl. Nolting, 2011, S. 124ff.
44 Die "Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" (ICD-10) wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt und im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ins Deutsche übertragen und herausgegeben. Die Abkürzung ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems", die Ziffer 10 bezeichnet die 10. Revision der Klassifikation; vgl. http://www.gbe- bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gastg&p_aid=&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchstring= 8670 [zuletzt aufgerufen am: 05.03.2012].
45 DSM-IV steht für „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, dem diagnostischen und statistischen Verzeichnis psychischer Störungen der American Psychiatric Association (APA) in der vierten Fassung; vgl. http://lexikon.stangl.eu/3362/dsm-iv/ [zuletzt aufgerufen am: 05.03.2012].
46 Die ICD-10 und DSM-IV sehen hierfür konkrete Symptomlisten für die genannten Störungen vor, von denen einen Mindestanzahl erfüllt sein muss, um eine Diagnose der jeweiligen Störung vergeben zu können; vgl. Petermann, 2008a, S. 279 u. Petermann, Petermann, 2008b, S. 8-11.
47 Vgl. Petermann, Petermann, 2008a, S. 277; Baving, 2008, S. 296 u. Petermann, Petermann, 2008b, S. 8-11. Im Rahmen dieser Arbeit wird aus Wesentlichkeitsgründen auf eine tiefgründige Thematisierung der Diagnose der klinisch bedingten Störungen nicht näher eingegangen.
48 Hacker, 1973, S. 13.
49 Vgl. Cierpka, 1999, S. 16.
50 Vgl. Nolting, 2011, S. 16.
51 Bertet, Keller, 2011, S. 12.
52 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S.53.
53 Vgl. Nolting, 2011, S. 16.
54 Vgl. Valtin, 1995, S. 9.
55 Rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen; vgl. Melzer, Schubarth, 2011, S. 53.
56 Vgl. Nolting, 2011, S. 16; Valtin, 1995, S. 9 u. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 13.
57 Vgl. Nolting, 2011, S. 16 u. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 53.
58 Vgl. Nolting, 2011, S. 16.
59 In Kapitel 3 wird auf die Thematik „Gewalt und Aggression im schulischen Kontext“ ausführlich eingegangen. Dabei wird jedoch im Rahmen dieser Arbeit aus Wesentlichkeitsgründen die sexuelle Gewalt nicht behandelt. Dennoch sollte diese Form von Gewalt nicht unerwähnt bleiben.
60 Wissenschaftliche Theorien befassen sich mit der Konstruktion von Realitätsausschnitten. Sie versuchen dabei, einen Ausschnitt der Wirklichkeit, in diesem Fall eine Erklärung für aggressives Verhalten und Gewalt, angemessen zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren. Sie beinhalten Annahmen, aus denen überprüfbare Hypothesen abgeleitet werden können. Es handelt sich somit um Spekulationen über kausale Faktoren, welche aber auch falsch sein können; vgl. Steins, 2005, S. 41 u. Dollase, 2010, S. 74.
61 Vgl. Melzer, Schubarth et al. et al., 2011, S. 55.
62 Freud, 1930; zit. n. Nolting, 2011, S. 49.
63 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 56 u. Nolting, 2011, S.50.
64 Vgl. Hinsch, Hoffman et al., 1998, S. 18.
65 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 56.
66 Vgl. Freud, 1938; zit. n. Nolting, 2011, S. 50.
67 Freud, 1933; zit. n. Nolting, 2011, S. 50.
68 Vgl. Hinsch, Hoffman et al., 1998, S. 18.
69 Unter Aggressivität wird in der Psychologie meist die individuelle Disposition bzw. Ausprägung zu aggressivem Verhalten verstanden. Sie ist somit eine Persönlichkeitseigenschaft, die sich in einer erhöhten Bereitschaft zu aggressivem Verhalten äußert. (z. B. Person X ist aggressiver als Person Y). So verhält sich Aggressivität zu Aggression wie Gewaltbereitschaft zu Gewalt; vgl. Nolting, 2011, S. 16.
70 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 20.
71 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 20 u. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 18.
72 Vgl. Nolting, 2011, S. 50 u. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 18.
73 Die Ethologie ist eine Wissenschaftsdisziplin, die anhand vergleichender Studien von Tieren und Menschen die biologischen Grundlagen von Verhalten untersucht. Als Ethologen werden dementsprechend die Verhaltensforscher bezeichnet; vgl. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 19.
74 Vgl. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 20.
75 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 20.
76 Vgl. Nolting, 2011, S. 52f.
77 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 57.
78 Unter aversiven Reizen werden grundsätzlich widrige Ereignisse verstanden, die eine Vermeidungsreaktion auslösen; vgl. Häcker, Stapf, 2004, S. 99.
79 Vgl. Nolting, 1995; zit. n. Hinsch, Hoffmann et al., 1998, S. 25.
80 Eine Forschergruppe der amerikanischen Yale-Universität bestehend aus Dollard, Doob, Miller, Mowrer und Sears.
81 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 57.
82 Dollard et al. 1971; zit. n. Hinsch, Hoffmann et al., 1998. S. 24.
83 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 57.
84 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 21.
85 Unter Attribution bzw. Attributionen werden Ursachenzuschreibungen verstanden. Es handelt sich also um die von Personen aufgenommenen Erklärungen und Begründungen von Verhalten und deren Auslösern und Konsequenzen; vgl. Möller, 2001, S. 36.
86 Vgl. Wahl, 1984; zit. n. Ziegler, Ziegler, 1997, S. 53f.
87 Als Sündenbock bezeichnet man in der Psychologie die Person, die gezielt von einer anderen aggressiv beschuldigt wird. Sie ist der Sündenbock für etwas, nämlich für die Frustration des Angreifers, an der sie nicht wirklich die Schuld trägt; vgl. Nolting, 2011, S. 131.
88 Vgl. Bertet, Keller, 2011, S. 21 u. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 58.
89 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 58f.
90 Unter Autosuggestion versteht man die „Selbsteinredung“ bzw. das Vermögen, ohne äußeren Anlass, Vorstellungen in sich zu erwecken bzw. sich selbst zu beeinflussen. In diesem Fall: die destruktive Kritik, die die Lehrperson auf einen Schüler ausübt, übt dieser im Laufe der Zeit auf sich selbst aus; vgl. Duden, das Fremdwörterbuch, 2007, S. 112.
91 Vgl. Keller, 2008, S. 36 u. Bertet, Keller, 2011, S. 25.
92 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 58f u. Ziegler, Ziegler, 1997, S. 55.
93 Vgl. Nolting, 2011, S. 83 u. Ziegler, Ziegler, 1997, S. 55.
94 Vgl. Nolting, 2011, S. 83 u. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 59.
95 Vgl. Melzer, Schubarth et al., 2011, S. 59-62 u. Varbelow, 2003, S. 41-50.
96 Ein Beispiel für eine positive, belohnende Verstärkung im psychologischen Sinne ist, wenn ein Kind durch sein aggressives Verhalten ein bestimmtes Ziel erreicht, z. B. durch Toben und Schreien einen erwünschten Gegenstand. Unter einer negativen Verstärkung versteht man hingegen, wenn bspw. es einem Kind gelingt, durch sein aggressives Verhalten, unangenehme und bedrohliche Ereignisse zu vermeiden (z. B. trauen sich andere nicht mehr zu, es anzugreifen); vgl. Petermann, Scheithauer, 2002, S. 197.
- Quote paper
- Maria Arabatzidou (Author), 2012, Gewaltprävention in der Grundschule: Untersuchung der Wirksamkeit eines Präventionsprogramms, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206358
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