Der steigende Wettbewerbsdruck auf den global verschmelzenden Weltmärkten und der damit verbundene Wechsel vom Anbieter- zum Käufermarkt stellen besonders produ-zierende Unternehmen vor immer neue Herausforderungen. Insbesondere die wirt-schaftliche Handhabung kundenindividueller Variantenausprägungen in kleinen Aufla-gen bis hin zur Losgröße eins ist dabei problematisch. Zudem gewinnt der Faktor Flexi-bilität immer mehr an Bedeutung, um geringe Durchlaufzeiten zu generieren und den immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen gerecht zu werden.
Der Prinzipien- und Methodenbaukasten der Lean-Production stellt eine Vielzahl an Werkzeugen zur Erschließung von Rationalisierungspotenzialen bereit. Sind die Kapa-zitäten der Prozessverbesserungen auf produzierender Ebene weitestgehend ausge-schöpft ist es notwendig, die schlanken Prinzipien über die gesamte Wertschöpfungsket-te auszuweiten. Durch die Integration auf logistischer Ebene lassen sich nachhaltige Wettbewerbsvorteile generieren. Auf der Ebene der Produktionslogistik stellt besonders die Materialbereitstellung einen Herd an Verschwendungen und Ineffizienzen dar, die es im Rahmen der Prozessverbesserungen zu eliminieren gilt.
Neben vielen anderen Methoden der Lean Logistics zeigt sich insbesondere die zyklische Materialbereitstellung mittels Milkrun als gelungenes Werkzeug auf dem Weg zur operativen Exzellenz. Das Erfolgskonzept innerbetrieblicher Milkruns ist weit verbreitet, dennoch mangelt es an klaren Richtlinien zur Planung und Bewertung der Routenzüge. Neben ergonomischen und kapazitätsorientierten Planungsansätzen gilt es hierzu insbesondere die benötigten Ausführungszeiten als Soll-Zeiten in Abhängigkeit der Ge-staltungsparameter in der Planungsphase zu bestimmen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
2 Ganzheitliche Produktions- und Logistiksysteme
2.1 Lean Production
2.2 Ganzheitliche Produktionssysteme
2.3 Lean Logistics
3 Zyklische Materialbereitstellung mittels Milkrun
3.1 Herausforderungen für die Materialbereitstellung
3.2 Entwicklung der Milkrun-Verfahren
3.2.1 Eigenschaften
3.2.2 Staplerfreie Fertigung
3.2.3 Abgrenzung zu ähnlichen Verfahren
3.3 Prozessschritte
3.4 Organisatorische und technische Ausführungsformen
3.4.1 Transportsystem und Routenführung
3.4.2 Quelle
3.4.3 Senke
3.4.4 Steuerungssystem
3.5 Gestaltungsansätze
4 Zeitdatenmanagement
4.1 Zeitaufnahmen
4.2 Multimomentstudien
4.3 Vergleichen und Schätzen
4.4 Berechnen
4.5 Befragen
4.6 Simulieren
4.7 Systeme vorbestimmter Zeiten
5 Beschreibung ausgewählter SvZ
5.1 Methods Time Measurement
5.1.1 MTM-1 Grundverfahren
5.1.2 MTM-Bausteinsystem
5.1.3 Universelles Analysiersystem
5.1.4 MTM-Standardvorgänge Logistik
5.2 Maynard Operation Sequence Technique
5.2.1 Work-Factor
6 Planungsmodell
6.1 Definition und Abgrenzung des Modells
6.2 Ausprägungsformen
6.3 Bilden von Ablaufabschnitten und Prozesscharakteristika
6.4 Auswahl der Zeitdatenermittlungsmethode
6.4.1 Prozesscharakteristika
6.4.2 Verfahrenscharakteristika
6.4.3 Entscheidungsfindung
7 Modellierung anhand eines Referenzprozesses
7.1 Handhabungsprozesse
7.1.1 Laufwege an den Haltestellen
7.1.2 Informationsaufnahme
7.1.3 Handhaben
7.2 Transportprozesse
7.2.1 Fahren
7.2.2 Start-/Stoppvorgänge
7.2.3 Laufwege entlang des Transportmittels
7.3 Bestimmung der Parameter
7.4 Zusammensetzung des Gesamtprozesses
8 Operationalisierung des Planungskonzepts
9 Modellerweiterungen
9.1 Manueller Transportwagen
9.2 Ankuppeln von Behältern
9.3 Taxiwagen
9.4 Handhabung von Verbrauchssignalen
9.5 Ergänzungswerte Transportmittel
10 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. l-l: Aufbau der Arbeit
Abb. 2-l: Das Toyota Produktionssystem
Abb. 2-2: Gestaltungsprinzipien der schlanken Logistik (Klug 2008, S. 255)
Abb. 3-l: Vergleich Gabelstapler und Routenverkehr
Abb. 3-2: Milkrun-Zyklus
Abb. 3-3: Behälteranzahl Milkrun-Zyklus
Abb. 3-4: Einflussgrößen Milkrun (Auswahl)
Abb. 4-1: Einordnung zeitwirtschaftlicher Begriffe (Petzelt 2010, S. 32)
Abb. 4-2: MMZ-Hauptformel (Haller-Wedel 1962, S. 49)
Abb. 4-3: Grundformel Bearbeitungsvorgang (Bokranz 1978,S. 64)
Abb. 5-1: Historische Entwicklung der SvZ
Abb. 5-2: MTM-Grundzyklus
Abb. 5-3: MTM-Bausteinsystematik (Bokranz, Landau2006, S. 511)
Abb. 5-4: MTM-Bausteinsystem
Abb. 5-5: UAS-Datenkarte (Bokranz, Landau 2006, S. 600)
Abb. 5-6: MTM-Standardvorgänge Logistik
Abb. 5-7: MOST Bewegungssequenzen
Abb. 5-8: MOST-Verfahren
Abb. 5-9: Berechnung Bewegungszeittabellen (Quicku. a. 1965, S. 22)
Abb. 5-10: Vergleich der WF-Verfahren (Günzler 1978,S.6)
Abb. 6-1: Variantenausprägungen Milkrun
Abb. 6-2: Milkrun-Zyklus
Abb. 6-3: Ablaufabschnitte Aufnehmen Vollgut
Abb. 6-4: Ablaufabschnitte Anfahren Senke
Abb. 6-5: Milkrun Charakteristika
Abb. 6-6: Vergleich Verfahrenscharakteristika
Abb. 7-1: System Referenzprozess
Abb. 7-2: MTM-Bausteinkodierung
Abb. 7-3: Handhabungsprozesse
Abb. 7-4: MTM-UAS-Baustein Gehen (Bokranz, Landau 2006, S. 609)
Abb. 7-5: Laufwege an den Haltestellen
Abb. 7-6: Baustein Laufwege an den Haltestellen
Abb. 7-7: Datenkarte Laufwege Haltestelle
Abb. 7-8: Baustein Informationenverarbeiten
Abb. 7-9: Datenkarte Aufnehmen und Platzieren (reduziert)
Abb. 7-10: Baustein Bücken an den Haltestellen
Abb. 7-11: Transportprozesse
Abb. 7-12: Datenkarte Fahren mit Elektroschlepper
Abb. 7-13: Baustein Start-/ Stopp-Vorgang
Abb. 7-14: Bezugsmengenund Zeiteinflussgrößen
Abb. 7-15: Berechnung Länge des Supermarkts
Abb. 7-16: Berechnung Länge des Transportmittels
Abb. 7-17: Berechnung Länge des Arbeitsplatzes
Abb. 7-18: Berechnung Anzahl Behälter
Abb. 7-19: Planungsanalyse Milkrun Beispielzyklus
Abb. 8-1: Planungsmodell MS-Excel
Abb. 8-2: Diagramme Planungsmodell
Abb. 8-3: Materialmatrix
Abb. 8-4: Berechnungen Planungsmodell
Abb. 8-5: Berechnung Ergänzungswerte Planungsmodell
Abb. 8-6: Berechnung Parameter Planungsmodell
Abb. 9-1: Ergänzungswerte Transportmittel
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation
Der steigende Wettbewerbsdruck auf den global verschmelzenden Weltmärkten und der damit verbundene Wechsel vom Anbieter- zum Käufermarkt stellen besonders produzierende Unternehmen vor immer neue Herausforderungen. Insbesondere die wirtschaftliche Handhabung kundenindividueller Variantenausprägungen in kleinen Auflagen bis hin zur Losgröße eins ist dabei problematisch. Zudem gewinnt der Faktor Flexibilität immer mehr an Bedeutung, um geringe Durchlaufzeiten zu generieren und den immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen gerecht zu werden.
Der Prinzipien- und Methodenbaukasten der Lean-Production stellt eine Vielzahl an Werkzeugen zur Erschließung von Rationalisierungspotenzialen bereit. Sind die Kapazitäten der Prozessverbesserungen auf produzierender Ebene weitestgehend ausgeschöpft ist es notwendig, die schlanken Prinzipien über die gesamte Wertschöpfungskette auszuweiten. Durch die Integration auf logistischer Ebene lassen sich nachhaltige Wettbewerbsvorteile generieren. Auf der Ebene der Produktionslogistik stellt besonders die Materialbereitstellung einen Herd an Verschwendungen und Ineffizienzen dar, die es im Rahmen der Prozessverbesserungen zu eliminieren gilt.
Neben vielen anderen Methoden der Lean Logistics zeigt sich insbesondere die zyklische Materialbereitstellung mittels Milkrun als gelungenes Werkzeug auf dem Weg zur operativen Exzellenz. Das Erfolgskonzept innerbetrieblicher Milkruns ist weit verbreitet, dennoch mangelt es an klaren Richtlinien zur Planung und Bewertung der Routenzüge. Neben ergonomischen und kapazitätsorientierten Planungsansätzen gilt es hierzu insbesondere die benötigten Ausführungszeiten als Soll-Zeiten in Abhängigkeit der Gestaltungsparameter in der Planungsphase zu bestimmen.
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Ausarbeitung eines Konzeptes zur zeitlichen Bewertung innerbetrieblicher Milkruns im Planungsstadium. Die grobe Vorgehensweise lässt sich hierzu der Abbildung 1-1 entnehmen. Zunächst gilt es hier im theoretischen Teil der Ausarbeitung die Entwicklung ganzheitlicher Produktionssysteme zu erläutern, da die Milkrun-Konzepte hier ihren Ursprung haben. Weiterhin ist der aktuelle Stand der Forschung und industrieller Implementierungen zu beschreiben und die Definition und Abgrenzung zu treffen.
Die korrekte Berücksichtigung zeitbestimmender Parameter kann nun durch Auswahl einer geeigneten Ermittlungsmethode erfolgen. Hierzu werden die Methoden der Zeitwirtschaft zunächst beschrieben und hinsichtlich ihrer Eignung für das Planungsmodell bewertet. Das besondere Augenmerk liegt hierbei auf den Systemen vorbestimmter Zeiten (SvZ), welche sich besonders für die manuellen Handhabungsvorgänge eignen.
Im praktischen Teil wird der Milkrun-Zyklus in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausführungsform in Prozessbausteine untergliedert und abgebildet. Anhand der Prozesscharakteristika wird eine geeignete Methode der Zeitdatengenerierung ausgewählt. Anschließend werden den Prozessbausteinen aggregierte Datenwerte zugeordnet. Die operative Umsetzung des Planungsmodells schließt die praktischen Ausführungen ab. Ergänzend werden mögliche Anpassungen beschrieben, mit denen sich das Anwendungsspektrum des Planungsmodells erweitern lässt. Abschließend findet eine Bewertung des Planungsmodells hinsichtlich der Zielerfüllung statt. Zudem wird ein Ausblick auf weitere Entwicklungsstufen des Planungsmodells gegeben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1-1: Aufbau der Arbeit
2 Ganzheitliche Produktions- und Logistiksysteme
Die Notwendigkeit zur Entwicklung eines schlanken Geschäftsmodells ist auf die Mitte der 50er Jahre in Japan vorherrschende Mangelwirtschaft zurückzuführen (Spath 2003, S.41). Während nach Ende des zweiten Weltkrieges ein Großteil der japanischen Automobilwerke zerstört ist, können die Automobilhersteller in den U.S.A. durch die von Henry Ford initiierte Massenproduktion ihre Herstellkosten immer weiter senken. Insbesondere die Manager der Toyota Motor Company befassen sich fortan mit der Erforschung der amerikanischen Wirtschafts- und Produktionssysteme, kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass sich die amerikanischen Methoden nicht direkt kopieren lassen. Zum einen fehlt es der japanischen Automobilindustrie an den notwendigen Ressourcen, zum anderen lässt sich die Massenproduktion nicht mit japanischen Marktanforderungen, welche durch eine hohe Typenvielfalt bei kleinen Losauflagen gekennzeichnet ist, übereinbringen (Bicheno, Holweg 2009, S. 279f; Ohno 2009, S. 32f; Sekine, Diegruber 1994, S. 15f). Die Entwicklung des Toyota Produktionssystem (TPS) wird fortan maßgeblich von Taiichi Ohno geprägt (Ohno 2009, S. 1ff).
2.1 Lean Production
Die Verbreitung der Lean Production ist zurückzuführen auf die Veröffentlichung der Wissenschaftler J. P. Womack, D. T. Jones und D. Roos unter dem Titel „The machine that changed the world“ (Womack, Jones, Roos 2007) im Jahre 1990, welche die im Rahmen des International Motor Vehicle Programm (IMVP) am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) durchgeführten Forschungsergebnisse beschreibt (Schultheiß 1995, S. 14ff; Womack, Jones, Roos 2007). Die Motivation des Programms ist durch die enormen vorherrschenden Produktivitätsdefizite der amerikanischen Massenproduktion gegenüber derjapanischen Lean Production gegeben (Krafcik 1988, S. 42).
Der Begriff „lean“ selbst wird erstmals 1988 in einer Veröffentlichung von J. F. Krafcik - einem Mitarbeiter des IMVP - verwendet (Krafcik 1988, S. 41ff). Die Bedeutung des mit „schlank“ ins Deutsche zu übersetzenden Begriffs zielt auf einen direkten Vergleich der Lean Production zur westlichen Massenfertigung ab, welcher in allen Bereichen durch einen Minderbedarf an Ressourcen, wie z.B. Humankapital, Platz und Investment beschrieben werden kann (Womack, Jones, Roos 2007, S. 11). Der Begriff „Production“ beschreibt im Amerikanischen das gesamte Unternehmen. Die direkte Übersetzung ins Deutsche hingegen lässt oft fälschlicherweise vermuten, dass sich die schlanken Methoden nur auf die Fertigung beziehen. Oftmals wird der Begriff „Lean Management“ daher synonym verwendet, da diesem international die gleiche Bedeutung zukommt (Ohno 2009, S. 7; Reuter 2009, S. 39; Schultheiß 1995, S. 17).
Als wichtige Voraussetzung zur Anwendung des TPS beschreibt Ohno die Eliminierung der sieben Arten von Verschwendung[1], welche sich in Form von Überproduktion, Wartezeiten, Transporten, unnötigen Bearbeitungsvorgängen, Beständen, Bewegungen und fehlerhaften Produkten zeigen (Drew, McCallum, Roggenhofer 2005, S. 36; Hartel 2009, S. 184; Ohno 2009, S. 52; Reuter 2009, S. 39; Schultheiß 1995, S. 131ff; Womack, Jones 2004, S. 23). Grundgedanke hierbei ist, dass sich die vorhandene Kapazität eines Unternehmens immer aus Arbeit und Verschwendungen zusammensetzt. Nur durch die vollständige Beseitigung der Verschwendungen kann die wirtschaftliche Rentabilität verbessert werden (Ohno 2009, S. 51f).
Eine allgemeine Anwendung und Adaption der Lean Philosophie auch außerhalb der Automobilindustrie beschreiben Womack und Jones (Womack, Jones 2004, S. 24ff) durch die Definition der fünf grundlegenden Lean-Prinzipien Wert, Wertstrom, Fluss, Pull und Perfektion. Insbesondere bieten diese Prinzipien einen Weg die von Ohno definierten sieben Arten der Verschwendung zu eliminieren.
Wert
Die Wertermittlung setzt zunächst den Kunden in den Mittelpunkt aller Überlegungen mit dem höchsten Ziel, dessen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Da auch die Bereitstellung falscher Leistungen als Verschwendung angesehen wird ist es wichtig die Produkte bereitzustellen, die der Kunde wirklich wünscht und nicht jene, die das Unternehmen mit den vorhandenen Technologien herstellen oder vertreiben möchte. Auch eine Übererfüllung der Kundenbedürfnisse „Overengineering“ ist in dieser Betrachtung als vermeidbare Blindleistung anzusehen (Bicheno, Holweg 2009, S. 12; Womack, Jones 2004, S. 24).
Wertstrom
Die Identifikation und Ausrichtung des Unternehmens am Wertstrom dient der Identifikation von Verschwendungen auf allen Geschäftsbereichen. Wichtig ist hierbei eine Betrachtung über die Unternehmensgrenzen hinaus vom Rohmaterial bis hin zum Endkunden (Bicheno, Holweg 2009, S. 12; Womack, Jones 2004, S. 28).
Fluss
Das Flussprinzip beschreibt eine Fertigung in kleinen Losgrößen, im Idealfall den Einzelstückfluss. Wenngleich kleine Lose gegen die intuitive stapelweise Bearbeitung sprechen, so ist eine kontinuierliche Bearbeitung in der Regel immer wirtschaftlicher (Sekine, Diegruber 1994, S. 33ff; Takeda2009, S. 55ff; Womack, Jones 2004, S. 31).
Pull
Die Umstellung der Fertigungssteuerung vom Push zum Pull-Prinzip stellt sicher, dass nur in Abhängigkeit vom Kundenbedarf produziert wird und die Durchlaufzeiten sowie Bestände auf ein Minimum reduziert werden können (Bicheno, Holweg 2009, S. 13; Tentrop 2011, S. 69; Womack, Jones 2004, S. 31).
Perfektion
Das ständige Streben nach Perfektion beschreibt eine kontinuierliche Infragestellung des „Status Quo“ auf der Suche nach weiteren Optimierungspotenzialen. Auch die zuvor genannten vier Aspekte gilt es hierbei immer wieder erneut zu bearbeiten (Bicheno, Holweg 2009, S. 13; Tentrop 2011, S. 69; Womack, Jones 2004, S. 36).
Eine Chronologie der Lean-Entwicklung innerhalb des TPS zeigt Ohno (Ohno 2009, S. 30) auf. Einen unternehmensübergreifenden Überblick inklusive einschlägiger Veröffentlichungen zur Lean-Production stellen Bicheno und Holweg (Bicheno, Holweg 2009, S. Xff) bereit.
Durch Anwendung der Lean-Methoden lassen sich nennenswerte Leistungen im Unternehmen erzielen:
- Produktivitätssteigerungen
- Reduzierung der Bestände
- verkürzte Durchlaufzeiten
- Qualitätssteigerungen
- schnellere Einführung neuer Produkte
- Erweiterung der Variantenvielfalt bei geringen Mehrkosten
Und das alles mit sehr geringen oder - durch potenzielle Freisetzungen - sogar negativen Investitionen (Krafcik 1988, S.51; Westkämper 2006, S.222; Womack, Jones 2004, S. 37).
Wenngleich die Methoden der Lean-Production und die durch erfolgreiche Anwendung erzielbaren Ergebnisse weit verbreitet sind, so ist es bisher nur wenigen Unternehmen möglich, die Erfolgskonzepte Toyotas erfolgreich implementieren zu können (Seliger, Kernbaum 2005, S. 629).
2.2 Ganzheitliche Produktionssysteme
Unter dem Oberbegriff „Ganzheitliches Produktionssystem“ (GPS) werden unternehmensspezifische Optimierungsstrategien beschrieben, welche Methoden und Werkzeuge zur zielorientierten Abstimmung aller Unternehmensaktivitäten bereitstellen (Bokranz, Landau 2006, S. 23ff; Deutsche MTM-Vereinigung 2001, S. 8; Dombrowsik, Otano, Schulze 2010,S. 82f; Tentrop 2011; Westkämper, Zahn 2009, S. 28ff).
Die vorwiegend in der Automobilindustrie vertretenen GPS basieren in der Regel auf dem von Taiichi Ohno entwickelten TPS (siehe Abb. 2-1), welches an die individuellen Gegebenheiten und Bedürfnisse der Unternehmen angepasst ist. Neben den direkten strategischen und operativen Optimierungsansätzen werden hierbei auch humanitäre und organisatorische Aspekte beleuchtet (Westkämper, Zahn 2009, S. 35). Der ganzheitliche Gedanke beschreibt die nachhaltige Ausweitung der Optimierungsaktivitäten nicht nur auf die Produktion, sondern im gesamten Unternehmen und über die gesamte Wertschöpfungskette (Tentrop 2011, S. 68; Westkämper, Zahn2009, S. 31).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2-1: Das Toyota Produktionssystem
Das TPS als typischer und bekanntester Vertreter wird oft synonym mit der Lean- Production genannt (Hartel 2009; Reuter 2009) und gilt zudem als Vorlage vieler GPS. Das Dach des TPS beschreibt die übergeordnete Zielsetzung in Form von Qualitätssteigerungen bei reduzierten Kosten und kurzen Durchlaufzeiten, was durch die vollständige Eliminierung von Verschwendungen erreicht werden soll. Als tragende Säulen des TPS gelten Just In Time (JIT) und Autonomation[2]. Die JIT-Produktion wird durch die Methoden Einzelstückfluss, Kundentakt und Zieh-Prinzip realisiert. Autonomation ist definiert als autonome Automation, welche durch eine Entkoppelung des Menschen von der Maschine erreicht werden kann. Weitere Kennzeichen der Autonomation sind der automatische Linienstopp, Maßnahmen zur Fehlervermeidung und die visuellen Kont- rollmechanismen (Deutsche MTM-Vereinigung 2001, S. 13; Ohno 2009, S. 35-38; Reuter 2009, S. 39ff).
Generell lässt sich der Aufbau eines Produktionssystems laut Westkämper (2009, S. 36) in drei Ebenen einteilen. Auf der ersten Ebene befinden sich die Säulen, welche die übergeordneten Optimierungsbemühungen darstellen. Die zweite Ebene stellen die entsprechenden Methoden dar, welche das Fundament für diese Bemühungen bilden. Auf der dritten Ebene geben die den Methoden zugeordneten Werkzeuge klare Handlungsanweisungen.
Durch eine geeignete Auswahl der Methoden und Werkzeuge lassen sich GPS individuell an die jeweiligen Unternehmensziele eines jeden Unternehmens anpassen. Zahlreiche Vertreter finden sich vor allem in der Automobil- und Zulieferindustrie (Bokranz, Landau 2006, S. 28f; Deutsche MTM-Vereinigung 2001, S. 13ff; Westkämper, Zahn 2009, S.35) sind aber auch in anderen Industriezweigen zu finden (Tentrop 2011, S. 69).
2.3 LeanLogistics
Die Methoden der Lean Production beschreiben im Umfeld turbulenter Märkte mit immer neuen Herausforderungen wirksame Ansätze zur Generierung langfristiger Wettbewerbsvorteile. Die vollständige Ausschöpfung aller Rationalisierungspotenziale scheitert jedoch oftmals an der Integration schlanker logistischer Aktivitäten. Daher stellt die Logistik in Form von JIT eine wichtige Säule des TPS bzw. der Lean Production dar (Reuter 2009, S. 40; Baudin 2007, S. 28). Doch auch diese Methoden selbst gilt es in weiteren Schritten hinsichtlich ihrer Beiträge zum Unternehmenserfolg zu ,,ver- schlanken“. Die Anwendung schlanker Prinzipien in der Logistik gestaltet sich in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen problematisch. Zunächst ist das Verhältnis aus potenziellen Ressourceneinsparungen und den drohenden, enorm hohen logistischen Fehlkosten als Folge fehlender logistischer Leistungsfähigkeit ungünstig. Zwar lässt sich etwa der Raumbedarf enorm senken, doch drastische Einsparungen an Personal und technologischen Investitionen, wie sie in der Produktion möglich sind, fallen in der Logistik deutlich geringer aus. Im Gegensatz dazu kann bereits das Fehlen eines Kleinteils Folgekosten im Millionenbereich implizieren (Baudin 2007, S. 30). Das zweite Problem stellt die allgemeine Auffassung logistischer Aktivitäten in der Lean Production dar, denn diese sind per Definition bereits als Verschwendungen anzusehen (Baudin 2007, S. 28; Meißner, Günthner 2009, S. 281; Reuter 2009, S. 42; Specht, Höltz 2011, S.70; Wiendahl u.a. 1997, S. 628). Unterschieden werden muss hierbei jedoch zwischen zwei Arten von Verschwendungen. Zum einen sind es die logistischen Aktivitäten, welche eine offensichtliche Verschwendung darstellen, die es zu eliminieren gilt. Zum anderen jene logistischen Aktivitäten welche Verschwendungen darstellen, die unabdingbar sind um eine Wertschöpfung zu generieren. Zwar ist es nicht möglich diese notwendigen logistischen Prozesse zu eliminieren, jedoch sind auch diese Prozesse hinsichtlich ihrer Rationalisierungspotenziale zu untersuchen (Reuter 2009, S. 54).
Das Prinzip der Lean Logistics beschreibt die Übernahme und Spezifizierung der bekannten Methoden aus der Lean Production auf die logistischen Aktivitäten der gesamten Supply-Chain (Klug 2011, S. 63). Die Lean Logistic setzt somit direkt an der Schwachstelle des TPS an, welches in diesem Zusammenhang als zu produktionsbezogen beschrieben wird (Dombrowski, Vollrath 2008, S. 512). Durch die Anforderungen der Lean Production an die Logistik kann es in einigen Fällen sogar zu einer Abnahme der logistischen Leitungsfähigkeit bzw. zu gestiegenen Logistikkosten kommen (Klug 2008, S. 60). Die Lean Logistic ist laut Klug (2010, S. 254) als „synchronisierte, flussorientierte und getaktete Logistik, welche sich retrograd und ziehend am Kundentakt ausrichtet“ definiert.
Die Ziele der Lean Logistics sind analog zur Lean Production zeit-, kosten- und qualitätsorientiert (Meißner, Günthner 2009, S. 281). Als wichtige logistische Zielgröße werden diese um die Flexibilität ergänzt (Specht, Höltz 2011, S. 69; Klug 2008, S. 59). Weiterhin stehen zur erfolgreichen Umsetzung der schlanken Methoden in der Logistik unternehmensübergreifende allgemeingültige Prinzipien und konkrete Methoden zur Umsetzung zur Verfügung (Klug 2008, S. 255ff). Auch die Gestaltungsprinzipien richten sich in Form von Takt, Fluss, Pull und Perfektion stark nach den Prinzipien der Lean
Production. Wie in Abbildung 2-2 zu sehen ist, werden diese Prinzipien durch die Elemente Synchronisation, Standard, Stabilität und Integration ergänzt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2-2: Gestaltungsprinzipien der schlanken Logistik (Klug 2008, S. 255)
Zur Umsetzung der beschriebenen Gestaltungsprinzipien der Lean Logistics stehen je nach unternehmensspezifischem Anwendungsfall unterschiedliche Methodenbausteine bereit. Die Anwendungsbreite reicht dabei vom Lieferanten über externe und interne Transportvorgänge bis hin zum Materialabruf und der Bereitstellung am Arbeitsplatz (Klug 2008, S. 59, Klug 2010, S. 255). Neben Elementen zur Ausprägungsform der Material- und Informationsflüsse stellen die Methoden auch organisatorische und gestalterische Leit- und Optimierungsrichtlinien bereit. Allgemein befolgen die Methoden eine hochfrequente Materialbereitstellung in kleinen Losgrößen unter besonderer Berücksichtigung der benötigten Wegstrecken.
Durch die Vielzahl der Methodenbausteine wird zunächst ein enormes Verschlankungs- potenzial erzielt. Hinsichtlich klarer Aussagen zur Auswahl der Methoden im jeweiligen Anwendungsfall bestehen jedoch ebenso wie zur prospektiven Bewertung und Beurteilung dieser Methoden noch enorme Forschungsbedarfe (Specht, Höltz 2011, S. 73). Wenngleich die Einführung schlanker Logistikkonzepte enorme Rationalisierungspotenziale ermöglicht, handeln viele Unternehmen stark risikoavers und führen diese nur bei unmittelbarerNotwendigkeit sukzessive ein (Klug 2008, S. 61).
3 Zyklische Materialbereitstellung mittels Milkrun
Zur Umsetzung schlanker Prinzipien in logistischen Prozessen steht auf allen Ebenen und über die gesamte Supply-Chain eine Vielzahl von Methoden bereit. Auf Ebene des internen Materialflusses und zur Bereitstellung am Arbeitsplatz gilt die zyklische Materialversorgung mittels Milkrun als bekanntester Vertreter, welcher bereits in etlichen Produktionsbetrieben Anwendung findet. Die Herkunft, Eigenschaften und Gestaltungsparameter dieser Materialversorgungsstrategie sollen im Folgenden erläutert werden. Die definitorischen Grundlagen und Restriktionen stellen zudem den Anwendungsbereich des im zweiten Teil aufgeführten Planungsmodells dar.
3.1 Herausforderungen für die Materialbereitstellung
Die Materialbereitstellung in der Produktionslogistik hat allgemein die Aufgabe, die zur Durchführung des Produktionsprozesses benötigten Materialien bereitzustellen. Dabei ist es wichtig, dass die richtigen Artikel in der richtigen Mengung unter der Berücksichtigung geltender zeitlicher Restriktionen zur Verfügung gestellt werden (Bullinger, Lung 1994, S. 7; Esser 1996, S. 82). Diese klassischen Anforderungen werden im modernen Zeitalter durch hohe Anforderungen an den Servicegrad, die Flexibilität und Transparenz ergänzt. Im Rahmen der Rationalisierung logistischer Aktivitäten stellt insbesondere die wirtschaftliche Ausführung der Materialbereitstellung eine neue Herausforderung dar. Ziel ist hierbei eine optimale Verwertung zeitlicher, räumlicher und monetärer Ressourcen (Schulte 2009, S. 153f).
Das Aufgabenspektrum erstreckt sich dabei über die Planung, Steuerung und Durchführung der Materialbereitstellung (Bullinger, Lung 1994, S. 7; Grünz 2004, S. 17). Die Planung der Materialbereitstellung umfasst sowohl die Festlegung der organisatorischen Prinzipien, die technische Ausgestaltung als auch den Informationsfluss. Unter dem Aspekt der Steuerung werden alle Maßnahmen zur Überwachung, Veranlassung und Sicherstellung des Materialflusses verstanden. Einzig die Durchführung der Materialbereitstellung befasst sich mit den physischen Teilprozessen der Materialbewegung verschiedener Ordnungen im Unternehmen (Bullinger, Lung 1994, S. 6ff).
Die Prinzipien der Materialbereitstellung lassen sich laut Bullinger (1994, S. 17) anhand diverser Kriterien unterscheiden. Besonders hervorzuheben ist dabei die Unterscheidung zwischen bedarfs- und verbrauchsorientierten Formen der Bereitstellung. Bei der bedarfsgesteuerten Materialbereitstellung werden die benötigten Materialmengen anhand des Produktionsprogramms ex ante bestimmt und in Abhängigkeit vom Produktionstakt bereitgestellt. Besonders geeignet ist diese Strategie für kostspielige, seltene, kundenindividuelle oder sperrige Teile. Die verbrauchsgesteuerte Materialbereitstellung erfolgt durch Prognose der zukünftigen Materialmengen unter Berücksichtigung eines Sicherheitsbestands (Tentrop 2011, S. 79f). Grundvoraussetzung ist hierbei ein nivelliertes und geglättetes Produktionsprogramm mit relativ konstanten Bedarfen (Röhrig 2002, S. 63). Die Bereitstellmenge orientiert sich entweder an der Gebindegröße oder der genau benötigten Stückzahl, wobei der Bereitstellungsumfang selbst von einzelnen Bauteilen bis hin zu zusammengefassten Aufträgen reichen kann (Bullinger, Lung 1994, S. 18). Zudem gilt es Quellen und Senken der bereitzustellenden Materialien zu definieren. Eine Unterscheidung in das Bring- und Holprinzip bestimmt, durch welche Instanz die Auslösung und Durchführung eines Bereitstellungsvorgangs erfolgt.
In der betrieblichen Praxis findet in der Regel keine einzelne Strategie, sondern immer eine Kombination mehrerer Bereitstellungsformen in Abhängigkeit möglicher Klassifizierungen der Materialien statt (Nyhuis u. a. 2006, S. 346; Tentrop 2011, S. 81f).
Probleme und Herausforderungen der klassischen Materialbereitstellung Die globalen Herausforderungen stark schwankender Märkte mit der Forderung nach immer kürzeren Lieferzeiten bei gestiegener Variantenvielfalt lassen die herkömmlichen Materialbereitstellungsstrategien an ihre Grenzen stoßen (Hämmerle, Rally 2010, S. 64; Heinz, Mayer, Grünz 2002b, S. 531). Besonders die klassischen sortenreinen und bevorratenden Bereitstellungsformen reagieren kritisch auf diese neuen Anforderungen. Die gestiegene Variantenvielfalt führt proportional zum wachsenden Bauteilspektrum zu gestiegenen logistischen Aufwendungen (Dickmann 2009, S. 149f; Köhler 1997, S.10) wie beispielsweise:
- gestiegene Flächenbedarfe
- zusätzliche Handlingsvorgänge
- lange Transportwege
- hohe Bestände
- Fehlmengen und Qualitätsprobleme
Insbesondere die steigenden Flächenbedarfe führen zu ergonomisch ungünstigen Materialanordnungen mit längeren Greifwegen und schwierigeren Greifvorgängen. Durch die Ansammlung von Materialmengen verlängern sich die Durchlaufzeiten und die Prozesstransparenz sinkt. Zudem steigen die Anforderungen an den Werker, da es durch die unübersichtliche Materialbereitstellung leicht zu einem Vertauschen der Bauteile kommen kann. Durch fehlende Abstimmungen und Standards kommt es zu Fehlmengen oder Restbeständen und die Prozessstabilität nimmt ab (Harris 2003, S.8; Heinz, Mayer, Grünz 2002b, S. 531; Liker u. a. 2009, S. 106ff; Monden 2012; Röhrig 2002, S. 61; Spath, Baumeister 2000, S. 37).
Die Durchführung der Materialbereitstellung in komplexen und turbulenten Produktionssystemen unter klassischen gewachsenen Strukturen ist von enormen Verschwendungen geprägt, offeriert jedoch auch enorme Einsparpotenziale. Wenngleich der Methodenbaukasten der Lean Logistics wirksame Methoden bereitstellt, kommt es oftmals nur zu punktuellen Anwendungen einzelner etablierter Methoden ohne die Optimierung des gesamten Wertstromes (Wiegang 2007, S. 227ff).
Die Gestaltungsschwerpunkte einer schlanken Materialbereitstellung liegen in der sequenzgerechten Anlieferung kleiner Losgrößen in die Nähe des Verbauortes ohne Mehraufwendungen (Faust, Sainer 2010, S. 569f; Hartmann 2004, S. 289; Reuter 2009, S. 119). Der Fokus der Optimierung liegt in diesem Zusammenhang in der Gestaltung der Transportrouten und dem Managen der daraus resultierenden Transportkosten, welche in produzierenden Unternehmen allgemein als Verschwendung angesehen werden (Faust, Sainer 2010, S. 569ff; Nyhuis u. a. 2006, S. 339).
Etablierte Methoden wie Kanban und Supermarkt kommen häufig bereits erfolgreich zum Einsatz. Diese gilt es jedoch um weitere Bausteine der Lean Logistics, wie beispielsweise JIT und Milkrun zu ergänzen und auf die gesamte Supply-Chain auszuweiten (Hämmerle, Rally 2010, S. 65).
3.2 Entwicklung der Milkrun-Verfahren
Eine effiziente Möglichkeit der hochfrequenten Materialbereitstellung kleiner Mengen beschreibt die Materialbereitstellung mittels Milkrun. Als Vorbild dieses Konzeptes dient die in 1960er Jahren in den U.S.A. geläufige Versorgung der Haushalte mit Milchflaschen (Baudin 2007, S. 33; Brar, Saini 2011, S. 798). Auf einer festen Route sammelt der Milchmann hierbei zu bestimmten Zeiten leere Milchflaschen direkt vor der Haustür ein und stellt im gleichen Zuge frisch gefüllte Flaschen zurück. Im Rahmen der Anwendung des Milkruns in der Produktionslogistik sollen im Folgenden zunächst die Vorzüge, Ausprägungen und Anwendungsformen dieses Konzeptes beschrieben und zugleich Abgrenzungen zu ähnlichen Verfahren vorgenommen werden.
3.2.1 Eigenschaften
In Anlehnungen an die klassischen Milkruns aus der Molkereiindustrie kommen auch in der Produktionslogistik Routenzüge zur Umsetzung der JIT-Philosophie zum Einsatz. Hierzu pendeln Wagen mit gemischter Beladung auf bestimmten Routen zwischen Quellen und Senken im Produktionsprozess.
Obwohl die Materialversorgung mittels Milkrun in der Lean- bzw. Logistikliteratur oftmals nicht erwähnt ist, kommen in der Industrie bereits unterschiedliche Ausprägungsformen erfolgreich zum Einsatz (Baudin 2007, S. 34). Hauptsächlich finden Milk- runs jedoch noch im überbetrieblichen Warenverkehr Anwendung. Oftmals ist hiermit das Prinzip des Gebietsspediteurs gemeint (Becker 2008, S. 102; Brar, Saini 2011, S. 797ff; Wannenwetsch 2007, S. 181). Durch das sequentielle Anfahren mehrere Lieferanten ist auf diese Weise eine wirtschaftliche Verkleinerung der Liefermengen und eine gleichzeitige Integration der Leergutrücktransporte möglich. Neben einer erhöhten Auslastung der Transportfahrzeuge lassen sich somit auch die Transportkosten und Umweltbelastungen reduzieren (Bicheno, Holweg 2009, S.259; Brar, Saini 2011, S. 801; Erlach 2010, S. 216; Piontek 2009, S. 115; Wildemann, Niemeyer 2002, S. 25; Wildemann, Faust 2004, S. 36).
Auch im innerbetrieblichen Materialfluss lassen sich die Vorzüge der Milkrun-Strategie nutzen, wie anhand der folgenden Charakteristika beschrieben werden kann.
Zunächst findet durch den Milkrun eine Entkoppelung der Produktionsvorgänge von den logistischen Aktivitäten und somit eine Trennung von wertschöpfenden und verschwendenden Prozessen statt (Abele, Brungs 2009, S.61; Erlach 2010, S. 290; Heinz, Mayer, Grünz 2002a, S. 51; Liker u. a. 2009, S. 103ff). Hierdurch kommt es zunächst zu punktuellen Produktivitätssteigerungen an den Produktionslinien. Durch die Konsolidierung der Transportvorgänge lässt sich weiterhin auch auf logistischer Ebene eine verbesserte Ressourcenausnutzung realisieren (Reuter 2009, S. 64).
Eine weitere Eigenschaft der Routenzüge liegt in der kurzzyklischen Anlieferung mit gemischter Beladung. Hierdurch ist es zunächst möglich, die Bestände an den Linien und somit die Platzbedarfe auf ein Minimum zu senken (Abele, Brungs 2009, S. 62; Monden 2012, S. 271ff; Smalley 2005, S. 54; Schneider 2008, S. 158; Takeda 2008, S. 178ff). Dabei steigt die Übersichtlichkeit, die Greifvorgänge lassen sich verkürzen sowie ergonomisch optimal gestalten und die Fehlerhäufigkeit sinkt. Zudem ermöglich die hochfrequente Anlieferung eine Steigerungen der Flexibilität (Abele u. a. 2011, S. 49; Dreher, Nürnberger, Kulus 2011, S. 134).
Kennzeichen der Milkrun-Versorgungszyklen ist weiterhin die in den Zyklus integrierte Leergutrückführung, welche die verschwendungsintensiven Rücktransporte vermeidet und zu einer erhöhten Leergutverfügbarkeit beiträgt (Faust, Sainer 2010, S. 569; Pion- tek 2009, S. 115). Neben dem Voll- und Leergut lässt ich auch der Transport von Fertigteilen und Produktionsabfällen in den Zyklus integrieren (Baudin 2007, S. 70f; Ko- vacs 2011, S. 313; Nomura, Takakuwa 2006, S. 155). Je nach Ausführungsform erfolgt parallel zum Materialfluss auch die Übertragung des Informationsflusses durch den Milkrun-Zyklus (Coimbra 2009, S. 113; Monden 2012, S. 54).
Vor einer genaueren Beschreibung der Milkrun-Versorgungszyklen ist zunächst zwischen verschiedenen Varianten zu unterscheiden. Allen Ausführungen gemein ist die Versorgung der Produktionssysteme auf definierten Routen. Unterschiedliche Auffassungen in der Literatur herrschen jedoch dazu, ob die Versorgungszyklen selbst durch einen bestimmten Zeitpunkt und/oder eine bestimmte Materialmenge gegenzeichnet sind.
Variante 1: feste Zeiten - variable Mengen
Die Durchführung der Versorgungszyklen im Milkrun zu definierten Zeitintervallen und die Bereitstellung variabler Materialmengen ist die geläufigste Ausprägungsform (Abele, Brungs 2009, S. 61; Baudin 2007, S. 33; Coimbra 2009, S. 113; Eriksson, Hanson, S. 348; Erlach 2010, S. 292; Faust, Sainer 2010, S. 574; IPE GmbH 2012, S. 9; Klevers 2009, S. 122; Klug 2010, S. 275; Kovacs 2011, S. 312; Reuter 2009, S. 44; Rosendahl, Radow 2004, S. 204; Smalley 2005, S. 57; Takeda 2008, S. 180, Takeda 2009, S. 81; Wiegang 2007, S. 230). Sowohl die Art des Materials als auch die benötigte Menge kann flexibel an die Produktionsmenge oder die gefertigte Variante angepasst werden. Die Anzahl der bereitzustellenden Materialmengen kann sowohl durch Prognose und Berechnung als auch durch genau definierte Bedarfssignale bestimmt werden (Eriksson, Hanson, S. 348).
Variante 2: feste Mengen - variable Zeiten
Erfolgt eine Bereitstellung fester Materialmengen, ist zunächst ein Auslöseimpuls zur Initiierung des Milkrun-Zyklus notwendig. Die Transportvorgänge lassen sich zwar besser auslasten, eine Standardisierung des Versorgungszyklus ist jedoch schwieriger. Die im Milkrun geforderte Mengen- und Variantenflexibilität lässt sich mit definierten Materialmengen nicht realisieren (IPE GmbH 2012, S. 9; Smalley 2005, S. 57; Takeda 2008, S. 180, Takeda 2009, S. 81).
Variante 3: feste Mengen - feste Zeiten
In der dritten Variante findet die Bereitstellung fester Materialmengen zu definierten Zeitpunkten statt (Hartel 2009, S. 157; Nyhuis u. a. 2006, S. 347). Voraussetzung ist hierbei ein äußerst stabiler Prozess mit einer konstanten Nachfrage ohne Variantenausprägungen.
Der Überblick über die verschiedenen Milkrun-Varianten zeigt, dass im engeren Sinne nur Variante 1 „feste Zeiten - flexible Mengen“ den Anforderungen an die neue Form der Materialbereitstellung in Form von Flexibilität, Transparenz, Standardisierung und Wirtschaftlichkeit gerecht wird.
Besonders geeignet scheint die Materialbereitstellung mittels Milkrun daher in der Serien- und Variantenfertigung, welche durch mittlere Stückzahlen und Variantenausprägungen gekennzeichnet sind (Westkämper 2006, S. 198f). Für die kundenanonyme Massenfertigung und die Einzelfertigung scheinen andere Materialbereitstellungsstrategien besser geeignet.
3.2.2 Staplerfreie Fertigung
Durch den Einsatz von Routenzügen wie dem Milkrun wird den Forderungen nach einer staplerfreien Fertigung entsprochen. Die signifikanten Charakteristika, welche je nach Anwendungsgebiet Vor-/ oder Nachteile darstellen können, sind in Abbildung 3-1 aufgeführt.
Der Einsatz von Gabelstaplern in der Produktion ist oftmals mit enormen Nachteilen verbunden. Zunächst stellen diese durch ihr hohes Unfallpotenzial eine große Sicherheitsgefahr dar. Weiterhin benötigen die Stapler zum Fahren und Rangieren einen großen Raumbedarf. Die Kapazität ist in der Regel auf Großladungsträger beschränkt und lässt sich nicht erweitern. Die Auslastung der Staplerfahrten mit ihrem sternförmigen Verlauf ist gering und durch viele Leerfahrten geprägt. Zudem stellt der Staplerverkehr erhöhte Kosten in Form von Investitionen und Schulungsaufwendungen dar (Baudin 2007, S. 51; Bicheno, Holweg 2009, S. 123; Coimbra2009, S. 114; Droste, Deuse 2011, S. 606; Klug 2010, S. 184; Reuter 2009, S. 61f; IPE GmbH 2012, S. 5).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3-1: Vergleich Gabelstapler und Routenverkehr
3.2.3 Abgrenzung zu ähnlichen Verfahren
Oftmals wird der japanische Begriff „Mizusumashi“ im weiteren Sinne synonym zum Milkrun verwendet. Im engeren Sinne kommt dem Mizusumashi jedoch laut Takeda (2008, S. 190) eine andere Bedeutung zu. Neben der reinen Materialversorgung hat dieser die Aufgabe, sich in unterstützender Form in die Produktion zu integrieren. Die Unterstützung kann dabei in Form von Hilfestellungen, Prüftätigkeiten, Werkzeugwechseln, Rüsttätigkeiten oder Springereinsätzen erfolgen. Da bei der Materialbereitstellung durch den Mizusumashi im engeren Sinne keine Trennung von produktiven und logistischen Aktivitäten stattfindet, wird dieses Konzept von der weiteren Betrachtung ausgegrenzt.
Weitere, dem Milkrun ähnliche Verfahren, sind der Material Handler, Logistiker, Taumelläufer oder Spiderman. Diese Verfahren beschreiben eine bedarfsgesteuerte Versorgung der Produktionslinien durch externe Mitarbeiter aus zentralen Zwischenlagern (Takakuwa, Nomura 2003, S. 461). Da jedoch weder Route noch Takt oder Mengen definiert sind, zählen diese Verfahren im engeren Sinne nicht zum Milkrun. Oftmals werden diese Begriffe jedoch in der Literatur gleichbedeutend verwendet (Liker u. a. 2009, S. 47ff; Takeda 2009, S. 85; Wiegang 2007, S. 230).
3.3 Prozessschritte
Nachdem der grobe Gestaltungsrahmen der Materialbereitstellung festgelegt ist, lässt sich nun der Milkrun-Zyklus wie in Abbildung 3-2 zu sehen ist, genauer beschreiben. Bewusst handelt es sich hierbei um eine sehr allgemeine Beschreibung um Platz für verschiedene Ausprägungsformen zu lassen.
Den Startpunkt des Milkrun-Zyklus bildet das Aufnehmen des bereits vorkommissionierten Materials an der/den Quelle(n). Je nach Anzahl der zu beliefernden Senken, erfolgt ein iteratives Anfahren der Verbrauchsorte an denen jeweils ein Voll-/ Leerguttausch stattfindet. Anschließend werden die Leergutsammelstation(en) angefahren und das Leergut abgeladen. Abschließend führt der Zyklus wieder zum Startpunkt zurück. Wenn die Leergutsammelstation(en) und Quelle(n) sehr nahe beieinander liegen, muss kein weiteres Anfahren erfolgen (Baudin 2007, S. 68f; Droste, Deuse 2011, S. 606; Hartmann 2004, S. 292f; IPE GmbH 2012, S. 10; Kovacs 2011, S. 312; Nyhuis u. a. 2006, S. 347).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.4 Organisatorische und technische Ausführungsformen
Nachdem der Ablauf des Milkrun-Zyklus beschrieben ist gilt es nun, mögliche technische und organisatorische Ausführungsformen zu erörtern.
3.4.1 Transportsystem und Routenführung
Das Transportsystem dient der Realisierung der physischen Materialbewegungen in Form von Voll- und Leerguttransporten. Generell gilt es hierbei das Transportsystem an die vorhandenen Mengenströme, Gewichte und Volumina anzupassen. Der Mengenstrom wird dabei durch die Taktfrequenz, die Bauteile pro Behälter und die Stellplätze am Arbeitsplatz bestimmt (Faust, Sainer 2010; Hartmann 2004; Reuter 2009, S. 65).
Die einfachste und kostengünstigste Variante stellen handgeführte Transportwagen dar, mit deren Hilfe die Materialbehälter an den Arbeitsplätzen von Hand be-/entladen werden. Diese Variante eignet sich besonders bei kurzen Entfernungen mit kleinen und leichten Teilen oder für den Fall, dass die Transportwege zu schmal für motorisierte Fahrzeuge sind. Für größere Materialmengen, -volumina und -gewichte oder bei längeren Entfernungen können elektrisch betriebene Schlepper verwendet werden. Hierbei stehen verschiedene Ausführungen wie handgeführte, Sitz- und Stehschlepper zur Auswahl bereit, welche unterschiedliche Arten von Transportwagen ziehen können. Der Voll-Leerguttausch kann - wie bei den Handwagen - durch den Umtausch einzelner Behälter aber auch durch an-/abkuppeln ganzer Wagen oder durch herauf/herabfahren separater Transportwagen über Rampen erfolgen (Taxiprinzip). Ein wichtiges Merkmal der flexiblen Materialbereitstellung ist, dass sämtliche Be-/ Endladevorgänge manuell und autonom durch einen Mitarbeiter ausgeführt werden können (Baudin 2007, S. 52f; Coimbra 2009, S. 115; Droste, Deuse 2011, S. 607; IPE GmbH 2012, S. 11; Klug 2010, S. 184; Harris 2003).
Prinzipiell können auch fahrerlose Transportsysteme (FTS) zum Einsatz kommen. Diese besitzen jedoch neben den hohen Investitionskosten auch den Nachteil, dass sie im Gegensatz zu den mitarbeitergeführten Varianten nicht so flexibel auf Schwankungen und Störungen im Produktionsablauf reagieren können (Baudin 2007, S. 52; Coimbra 2009, S. 118; Reuter 2009, S. 65f).
Die Route definiert die Bewegungen des Milkrun zur Bedienung aller Senken im Fabriklayout (Kovacs 2011, S. 312; Reuter 2009, S. 63ff; Takeda 2009, S. 87f). Das Ziel dabei ist es, die Fahrten des Milkrun sowohl wirtschaftlich als auch sicher zu gestalten. So gilt es die Haltestellen zu optimieren, sodass ihre Distanz zu den Quellen (Bereitstellpunkten) möglichst minimal ist oder dass von ihnen aus mehrere Quellen bei einem Stopp bedient werden können (Harris 2003, S. 48). Für einen reibungslosen Zyklus muss stets sichergestellt sein, dass sich keine Hindernisse auf den Materialrouten befinden und die Fahrzeuge ungestört verfahren können. Zur Gewährleistung der Sicherheit dürfen sich die Fahrzeuge nur auf den dafür ausgewiesenen und markierten Wegstrecken bewegen. Der Fahrtverlauf ist zudem so anzulegen, dass er möglichst kreuzungsfrei verläuft (Baudin 2007, S. 56f; Klug 2010, S. 276). Keine Kurve sollte enger als 90° verlaufen und der Wegstreckenverlauf sollte keine Schlangenlinien aufweisen (Coimbra 2009, S. 120). Die Wegstrecken selbst müssen an die Fahrzeugbreite und die notwendigen Rangierflächen angepasst werden (Harris 2003, S. 44).
3.4.2 Quelle
An der Quelle erfolgt die Aufnahme des Vollgutes für den nächsten Milkrun-Zyklus. Gerade bei hochfrequenten Routenzügen gilt es den Transportzyklus von den anfallenden Kommissioniertätigkeiten zu entkoppeln (Harris 2003, S. 65; Takeda 2008, S. 193). Eine Möglichkeit hierzu bieten fertigungsnahe Supermärkte, welche nach dem ZiehPrinzip arbeiten. Synchron zum Produktionsprogramm erfolgt in den Supermärkten eine verbrauchsgerechte Bereitstellung und Sortierung der Materialien aus den gebindeorientierten Anlieferungen der externen Zulieferer. Neben der Entkoppelung wird hierdurch auch das First In First Out-Prinzip unterstützt und das System gewinnt durch den zusätzlichen Sicherheitsbestand im Supermarkt an Robustheit. Die Bereitstellung von Materialkisten kann hierbei in verschiedenen Regalsystemen erfolgen. Für Bodenroller (BR) und ankuppelbare Transportwagen können Bahnhöfe und Parkbuchten eingerichtet werden (Dreher, Nürnberger, Kulus 2011, S. 131; Droste, Deuse 2011; Harris 2003, S. 35f; Heinz, Mayer, Grünz 2002a, S. 51f; Klevers 2009, S. 122; Klug 2010, S. 168ff; Smalley 2005, S. 51ff).
3.4.3 Senke
Die Gestaltung der Materialanlieferplätze sollte unter der Prämisse erfolgen, die Materialien so nahe wie möglich am Verbauort bereitzustellen (Harris 2003, S. 49). Nur so kann gewährleistet werden, dass der Mitarbeiter z. B. in der Montage seine wertgenerierenden Tätigkeiten nicht oder nur minimal unterbrechen muss. Erfolgt die Materialbereitstellung über Kleinladungsträger (KLT), so können spezielle Durchlaufregale in schmaler Bauform zur Aufnahme dieser verwendet werden (Liker u. a. 2009, S. 108;
Nomura, Takakuwa 2006). Durch die Neigung rutschen die Behälter automatisch nach, zudem ist eine Ebene für das Leergut integriert. In allen Fällen sollte zur greifoptimierten Materialbereitstellung eine möglichst schmale Bauform zum Einsatz kommen. Neben der Entnahme der Materialien muss auch der Behälterwechsel möglichst einfach ablaufen können. Die Bereitstellung kompletter Wagen erfolgt auf dafür eingerichteten Parkbuchten, wobei diese so zu wählen sind, dass die Gehwege zum Verbauort minimal ausfallen. In allen Fällen sind Bereiche oder Stellplätze zur Aufnahme des Leergutes einzurichten. Hinsichtlich der Reduzierung der Bestände sollte sich nur die jeweils minimale Materialmenge die benötigt wird am Arbeitsplatz befinden (Harris 2003, S. 49f; Smalley 2005, S. 54).
3.4.4 Steuerungssystem
Die Steuerung des Bestandniveaus an den Verbrauchsorten lässt sich grundsätzlich durch bedarfs- oder verbrauchsorientierte Steuerungsverfahren realisieren (Droste, Deuse 2011, S. 607). Dabei sind die verbrauchorientieren Verfahren wie z.B. Kanban in der Praxis am häufigsten vertreten (Coimbra 2009, S. 113; IPE GmbH 2012, S. 9). Mittels Informationskarten, die alle relevanten Daten der Materialien enthalten, werden dabei bei unterschreiten eines bestimmten Materialniveaus in ziehender Form Signale an den vorgelagerten Prozess weitergeleitet. Idealerweise trifft die Anlieferung des neuen Materials gerade dann am Arbeitsplatz ein, wenn das letzte Teil aus dem vorhandenen Behälter gegriffen wurde (Baudin 2007, S. 266). Die Anzahl der benötigten Karten ist so zu bestimmen, dass auch bei erwarteten Schwankungen der gewünschte Servicegrad eingehalten werden kann (Matzka, Di Mascolo, Furmanns 2012, S. 59f). Der Informationsfluss über die Kanban-Karten lässt sich in der Regel ohne oder mit nur geringem Mehraufwand in den Milkrun-Zyklus integrieren. Hierzu kann der Milkrun-Zyklus neben dem Behälterwechsel am Arbeitsplatz um die Aufnahme der Kanban-Karten erweitert werden. In der einfachsten Form befinden sich die Kanban-Informationen direkt auf dem Behälter.
Eine weitere Form der verbrauchsorientierten Steuerung stellen vorbestückte Teilesatzwagen dar. Anhand von Prognosen fahren diese Wagen mit den erwarteten Materialmengen die Senken an (Eriksson, Hanson, S. 348). Nicht benötigte Materialien werden wieder der Senke zugeführt. Vorteil ist hierbei die drastische Verkürzung der im Kan- ban-Zyklus üblichen Wiederbeschaffungszeit. Dem entgegen stehen die höheren Kapa- zitätsbedarfe des Transportsystems und damit die Verschwendungen durch die nicht verteilten Materialmengen. Allerdings lassen sich die Rücktransporte angebrochener Liefermengen z.B. beim Wechsel des Produktionsprogramms mit in den Milkrun- Zyklus integrieren.
3.5 Gestaltungsansätze
Wenngleich die zyklische Materialversorgung mittels Milkrun eindeutige Rationalisierungspotenziale aufweist und in der Praxis bereits rege Anwendung findet, bestehen bislang keine konkreten Gestaltungsansätze. Grund hierfür ist, dass sich die genaue Planung der Routenzüge als äußerst anspruchsvoll erweist (Dreher, Nürnberger, Kulus 2011, S. 131). In der Literatur finden sich nur vereinzelt Gestaltungsprämissen, die Hinweise zur Ausprägung bestimmter Merkmale liefern (Abele, Brungs 2009, S. 62). Oftmals erfolgt die Ausplanung der Milkruns aufgrund der hohen Komplexität durch Probierverfahren direkt an den Fertigungslinien, wobei unterstützend Schätzwerte und Prognosen auf Basis historischer Daten zur Anwendung kommen.
Einige Autoren verweisen weiterhin auf vereinfachte Optimierungsverfahren und Heuristiken zur Gestaltung der Milkrun-Zyklen (Coimbra 2009, S. 119f; Harris 2003, S. 43ff; Nomura, Takakuwa 2006, S. 163; Reuter 2009, S. 65; Smalley 2005, S. 54ff), welche allesamt nach einem ähnlichen Verfahren ablaufen. Eingehend werden hierbei ausgewählte Parameter des Milkruns wie Quellen, Senken, Route oder die Zykluszeit ohne weitere Bestimmungen festgesetzt. Anschließend erfolgt ein Testlauf des Milkrun- Zyklus, der oft unter stark vereinfachten Bedingungen stattfindet. Die eigentliche Ausplanung erfolgt durch eine iterative Optimierung. Dabei wird entweder der Milkrun- Zyklus sukzessive erweitert oder es werden Sicherheitsfaktoren abgebaut.
In stark vereinfachter Form lassen sich die Zusammenhänge im Milkrun-Zyklus durch die Anpassung der Kanban-Formel (Buzacott 2010, S. 130) in erster Näherung beschreiben. (vgl. Abb. 3-3)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grundsätzlich lässt sich erkennen, dass ceterus paribus die Bestände an der Linie mit Verkürzung der Zykluszeit sinken. Neben den geringen Beständen wird so auch den anderen Zielgrößen des Milkrun, wie der Flexibilität, Transparenz und dem geringen Raumbedarf Sorge getragen.
Weiterhin gewinnt das Planungsproblem deutlich an Komplexität, da weitere Parameter mit Restriktionen versehen sind (Droste, Hasselmann, Deuse 2012, S. 27). Abbildung 3-4 zeigt hierzu einige mögliche Einflussgrößen auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3-4: Einflussgrößen Milkrun (Auswahl)
Die zeitliche Summe aller Transport- und Handhabungsvorgänge ist durch die Zykluszeit limitiert. In der Literatur werden die Zeitbedarfe im Milkrun entweder durch Schätzen ermittelt, oder es wird ein festes Zeitintervall für die Zykluszeit angenommen (20 oder 60 Minuten) (Coimbra 2009, S. 115; Reuter 2009, S. 65; Baudin 2007, S. 69; Harris 2003, S. 72; Nomura, Takakuwa 2006, S. 163; Smalley 2005, S. 54ff). Weiterhin gilt es kapazitive Einschränkungen für die Behälterfüllmengen, Transportwagen sowie Quellen und Senken zu berücksichtigen. Auch die bei der Durchführung der Materialbereitstellung bewegten Volumina und Gewichte gilt es in der Planung zu berücksichtigen (Droste, Hasselmann, Deuse 2012, S. 27). Schließlich müssen auch Parametervariationen der Routenführung sowie die Standortplanung der Quellen und Senken in die Optimierung einfließen.
4 Zeitdatenmanagement
In den vorangegangenen zwei Kapiteln sind bereits sowohl die Entwicklung schlanker Logistiksysteme im Allgemeinen als auch eine explizite Ausprägungsstrategie dieser in der innerbetrieblichen Materialversorgung mittels Milkrun beschrieben. Zur Konkretisierung eines Planungskonzepts ist es im Weiteren erforderlich, die geläufigen Methoden der Prozessdatenermittlung zunächst zu beschreiben und hinsichtlich ihrer Eignung für den gegebenen Anwendungsfall kritisch zu hinterfragen. Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Verfahren stellt hierbei die vorbereitende Grundlage für die im weiteren Verlauf folgende Entscheidungsfindung dar.
Ermittlung von Zeitdaten
Die Bestimmung von Prozessdaten kann durch eine Vielzahl meist historisch gewachsener Verfahren erfolgen. Die Spannweite der zahlreichen Gliederungsformen reicht hierbei von einfachen Auflistungen geläufiger Datenermittlungsmethoden (REFA 2002, S. 173) bis hin zu einer Vielzahl kriteriengeleiteter Darstellungsformen (Schlick 2010, S. 671). Eine mögliche Einteilung kann hierbei nach Art der Aufnahmemethode erfolgen, wobei eine grundsätzliche Zuordnung in kontinuierliche Verfahren, Stichprobenverfahren, rechnerische Verfahren und sonstige Verfahren möglich ist (Aft 2001, S. 5.4; Matias 2001, S. 1411-1413; Schlick2010, S. 672; Simons 1987, S. 2).
Auch eine Einteilung der Datenermittlungstechniken in ingenieurmäßige und nicht ingenieurmäßige Herangehensweisen kann erfolgen (Knod 2001, S.430; Konz 2001, S. 1392f). Eine weitere geläufige Art der systematischen Gliederung beschreibt die Einteilung der Methoden nach Art der gewonnenen Daten. Hierbei wird grundsätzlich zwischen Methoden zur Erfassung von Ist-Daten und Methoden zur Bestimmung von SollDaten unterschieden (Heinz, Mesenhöller 2001, S. 573). Die hier beschriebene Einteilung findet sich in der Literatur in diversen - teilweise individuell angepassten - Ausprägungsformen wieder (Grünz 2004, S. 37; Kief 2002, S. 38; Mesenhöller 2004, S. 18f.; Mönig 2005, S. 41; Picker 2007, S. 31-33; REFA 2002, S. 247; Tschich 2000, S.35) und soll auch im Folgenden der übersichtlichen Darstellung signifikanter - für das Planungsmodell relevanter - Zeitdatenermittlungsmethoden dienen.
Erfassen von Ist-Zeiten
Ist-Zeiten beschreiben die tatsächlich vom Mensch oder Betriebsmittel benötigten Zeitanteile für die Durchführung von Ablaufabschnitten (Kief 2002, S. 39). Die Ermittlung von Ist-Zeiten setzt ein bereits bestehendes Arbeitssystem voraus, an dem durch Auswahl einer geeigneten Methode reale Daten gewonnen werden können. Zur weiteren Verwendung sind die Ist-Zeiten durch Berücksichtigung desjeweils zugrunde liegenden Leistungsgrades auf Normleistungsniveau zu normalisieren[3]. Die Erfassung der Daten erfolgt in der Regel durch direkte oder indirekte Messung der jeweiligen Zeitanteile, aber in Sonderfällen auch durch Mitarbeiterbefragungen. Die Zeitmessung lässt sich weiterhin in kontinuierliche Zeitmessungen und Multimomentverfahren unterteilen, wobei auf die verschiedenen Ausprägungsformen im Weiteren eingegangen wird. In einzelnen Anwendungsfallen können Ist-Zeiten zudem durch Befragen der ausführenden Mitarbeiter erfolgen.
Bestimmen von Soll-Zeiten
Die Bestimmung von Soll-Zeiten beschreibt eine prospektive Methode der Zeitdatenermittlung anhand vorhandenen Datenmaterials unter besonderer Berücksichtigung zeitbestimmender Einflussgrößen (Picker 2007, S. 23). Die Ausgangsdaten für das Zusammensetzen von Soll-Zeiten können sowohl ermittelte Ist-Zeiten als auch Planzeiten oder SvZ liefern (Mesenhöller 2004, S. 20-26). Weitere darzustellende Methoden sind das Schätzen, Berechnen und Simulieren von Zeitanteilen.
Vereinbaren von Soll-Zeiten
Obgleich das Vereinbaren von Soll-Zeiten praktische Anwendung findet, lässt sich dieses Verfahren nicht eindeutig der Zeitwirtschaft bzw. den Methoden der Zeitdatenermittlung zuordnen. Die Vereinbarungen dienen dabei weniger der Datengewinnung als vielmehr der individuellen Leistungsabstimmung auf operativer Ebene (Mesenhöller 2004, S.27-28; Picker 2007, S. 31). Grundlage hierbei sind sowohl Erfahrungswerte der Mitarbeiter als auch Wissen über bestehende Ist-Zeiten. Da das Vereinbaren aus zuvor genannten Gründen für die Modellbildung keine Relevanz besitzt, erfolgt keine weitere Beschreibung dieser Methode.
[...]
[1] ggf. Erweiterung durch andere Autoren möglich (Drew, McCallum, Roggenhofer 2005, S. 268ff; Womack, Jones 2004, S.24ff; Reuter 2009, S.39)
[2] auch unter dem japanischem Begriff Jidoka bekannt (Reuter 2009, S. 41)
[3] vgl. Abschnitt 4.1, S. 30f
- Citation du texte
- Benedikt Kramps (Auteur), 2012, Entwicklung eines Planungskonzepts zur parameterbasierten Zeitermittlung innerbetrieblicher Milkruns in der Lean Production, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205779
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