Die Geschichte um Tristan und Isolde ist diejenige zweier Liebender, „die – von einer
glühenden, alles vergessen machenden Leidenschaft überwältigt – alle Vernunft, alle Normen
gesellschaftlichen Zusammenlebens, alle Not und Gefahr ignorieren.“ Das zutiefst
Menschliche des spannungsreichen Mit- und Gegeneinanders von Mann und Frau garantiert
dabei die Unvergänglichkeit des Stoffes, der auch in der Gegenwart noch verarbeitet wird.
Als Grundlage der Tristandichtung nimmt man in der Forschung ein in der Mitte des 12.
Jahrhunderts altfranzösisches Versepos, die so genannte »Estoire«, an. Von dieser leitet sich
das altfranzösische Epos eines Mannes namens Berol (um 1179/80), ein ebenso nur
fragmentarisch erhaltenes Werk des Autors Thomas de Bretagne (zwischen 1172-1235), der
altfranzösische Prosa-Tristan (um 1225-1235) und das vollständig überlieferte
mittelhochdeutsche Versepos des Dichters Eilhardt von Oberg (um 1170) ab.
Der deutsche Epiker Gottfried von Straßburg stützt sich auf die Version von Thomas de
Bretagne und dichtet zwischen 1200 und 1210 das unvollendete Werk ‚Tristan’, das als
„klassische Stoffrepräsentation des Mittelalters gilt“. Da der Roman aufgrund Gottfrieds Tod
zu keinem Abschluss kommt, setzen Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg die
Handlung im 13. Jahrhundert fort.
Da die den Protagonisten umgebenden weiblichen Nebenfiguren allesamt einen bedeutenden
Einfluss auf die epische Gesamtentwicklung des Romans haben, soll die vorliegende Arbeit
zu ihrer näheren Untersuchung beitragen. Gottfried setzt bei der Ausarbeitung der Frauen
überdies Akzente, die vor dem Horizont des Mittelalters sehr modern erscheinen. Ferner
entwirft er innerhalb des Romans ein weibliches Idealbild, das einer näheren Untersuchung
bedarf.
Die weiblichen Nebenfiguren werden deshalb zunächst anhand ihrer Charakterisierung auf
der Textebene genauer beleuchtet. Dem folgt eine Analyse der Funktionen, welche die Frauen
innerhalb der einzelnen Szenen einnehmen. Diese Vorgehensweise ermöglicht im weiteren Verlauf der Arbeit die Feststellung von Abweichungen oder Entsprechungen zum
mittelalterlichen Frauenbild.
Zuvor jedoch bleibt es unerlässlich, das generelle Konzept der Frauenrolle im Mittelalter zu
klären und die Weiblichkeitsvorstellung des Autors in den Exkursen zu durchleuchten.[...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einführende Bemerkungen
2. Die Stellung der Frau vor dem zeitgenössischen Horizont des Mittelalters
3. Gottfrieds Frauenideal in den Exkursen
4. Blanscheflur
4.1. Blanscheflurs Charakterisierung auf der Ebene des Textes
4.2. Blanscheflurs Funktion im epischen Gefüge
4.3. Blanscheflurs Wirken vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
5. Floraete
5.1. Floraetes Charakterisierung auf der Ebene des Textes
5.2. Floraetes Funktion im epischen Gefüge
5.3. Floraetes Wirken vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
6 Brangäne
6.1. Brangänes Charakterisierung auf der Ebene des Textes
6.2. Brangänes Funktion im epischen Gefüge
6.3. Brangänes Wirken vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
7. Die ältere Isolde
7.1. Die Charakterisierung der älteren Isolde auf der Ebene des Textes
7.2. Die Funktion der älteren Isolde im epischen Gefüge
7.3. Das Wirken der älteren Isolde vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
8. Die blonde Isolde
8.1. Isoldes Charakterisierung auf der Ebene des Textes
8.2. Isoldes Funktion im epischen Gefüge
8.3. Isoldes Wirken vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
8.4. Die Figur der Isolde in den Fortsetzungen bei Ulrich und Heinrich
9. Isolde Weißhand
9.1. Isoldes Weißhands Charakterisierung auf der Ebene des Textes
9.2. Isolde Weißhands Funktion im epischen Gefüge
9.3. Isolde Weißhands Wirken vor dem Erwartungshorizont des Mittelalters
9.4. Isolde Weißhands Handlungsrolle in den Fortsetzungen
9.5. Isolde Weißhand unter Berücksichtigung der Aspekte der übrigen Frauenfiguren
10. Abschließende Bemerkungen
11. Literaturverzeichnis
1. Einführende Bemerkungen
Die Geschichte um Tristan und Isolde ist diejenige zweier Liebender, „die - von einer glühenden, alles vergessen machenden Leidenschaft überwältigt - alle Vernunft, alle Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens, alle Not und Gefahr ignorieren.“1 Das zutiefst Menschliche des spannungsreichen Mit- und Gegeneinanders von Mann und Frau garantiert dabei die Unvergänglichkeit des Stoffes, der auch in der Gegenwart noch verarbeitet wird.
Als Grundlage der Tristandichtung nimmt man in der Forschung ein in der Mitte des 12. Jahrhunderts altfranzösisches Versepos, die so genannte »Estoire«, an. Von dieser leitet sich das altfranzösische Epos eines Mannes namens Berol (um 1179/80), ein ebenso nur fragmentarisch erhaltenes Werk des Autors Thomas de Bretagne (zwischen 1172-1235), der altfranzösische Prosa-Tristan (um 1225-1235) und das vollständig überlieferte mittelhochdeutsche Versepos des Dichters Eilhardt von Oberg (um 1170) ab.2
Der deutsche Epiker Gottfried von Straßburg stützt sich auf die Version von Thomas de Bretagne und dichtet zwischen 1200 und 1210 das unvollendete Werk ‚Tristan’, das als „klassische Stoffrepräsentation des Mittelalters gilt“3. Da der Roman aufgrund Gottfrieds Tod zu keinem Abschluss kommt, setzen Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg die Handlung im 13. Jahrhundert fort.
Da die den Protagonisten umgebenden weiblichen Nebenfiguren allesamt einen bedeutenden Einfluss auf die epische Gesamtentwicklung des Romans haben, soll die vorliegende Arbeit zu ihrer näheren Untersuchung beitragen. Gottfried setzt bei der Ausarbeitung der Frauen überdies Akzente, die vor dem Horizont des Mittelalters sehr modern erscheinen. Ferner entwirft er innerhalb des Romans ein weibliches Idealbild, das einer näheren Untersuchung bedarf.
Die weiblichen Nebenfiguren werden deshalb zunächst anhand ihrer Charakterisierung auf der Textebene genauer beleuchtet. Dem folgt eine Analyse der Funktionen, welche die Frauen innerhalb der einzelnen Szenen einnehmen. Diese Vorgehensweise ermöglicht im weiteren
Verlauf der Arbeit die Feststellung von Abweichungen oder Entsprechungen zum mittelalterlichen Frauenbild.
Zuvor jedoch bleibt es unerlässlich, das generelle Konzept der Frauenrolle im Mittelalter zu klären und die Weiblichkeitsvorstellung des Autors in den Exkursen zu durchleuchten.
2. Die Stellung der Frau vor dem zeitgenössischen Horizont des Mittelalters
Eine Darstellung der zeitgenössischen Sicht der Frau und ihrer Stellung im feudalhöfischen Kontext soll zunächst zu einer Öffnung des Blickfelds beitragen.
Isolde entspricht nämlich keineswegs dem Bild der „immer wieder als vollkommen apostrophierten und interpretierten höfischen Dame“4, deren Hauptaufgabe laut Mälzer primär darauf ausgerichtet waren, zur Mehrung der vröude der feudalen Gesellschaft beizutragen und als Erziehungsinstanz ihres Mannes zu wirken, dem sie Ansporn auf dem Weg ritterlicher Bewährung sein soll.
Indem Gottfried Isolde im Speziellen und die übrigen Frauengestalten des Tristanromans im Allgemeinen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Differenz zum zeitgenössischen Frauenideal versieht, übt er zugleich Kritik an der damals üblichen Sicht auf das weibliche Geschlecht.
Bei der Analyse von Tristan ist es deshalb notwendig, die vrouwe nicht in erster Linie in Ausrichtung auf den riter zu analysieren, „denn erst dann eröffnet sich die Möglichkeit, eine potentielle ‚Individualität’ dieser Frauengestalten sichtbar zu machen“5, so Mälzer.
Aus diesem Grund soll zunächst ein Blick auf die historische Bedeutung der Frau im Mittelalter geworfen werden. Opitz weist darauf hin, dass dabei jedoch der Versuchung widerstanden werden muss, Wertmaßstäbe und Kriterien aus der heutigen Zeit in die Bewertung der damaligen Stellung der Frau einfließen zu lassen, weil diese für die Erfahrungs- und Erwartungshorizonte der damaligen Epoche nicht zwangsläufig zutreffen würden.6
2.1. Die kultur- und sozialhistorische Perspektive
In der streng patriarchalisch strukturierten, mittelalterlichen Gesellschaftsordnung um 1200 war es die zeitgenössische Realität, dass sich die Frau unter die männliche Autorität ordnete. Dies wurde vor allem mit der sowohl vom Adel als auch vom Klerus unangezweifelten und gottgewollten „Inferiorität der Frau“7 begründet, welche sie zu einer reinen Funktionsträgerin des Mannes machte. Die Frau konnte weder ihre eigene Persönlichkeit frei und selbstbestimmt entfalten, noch wurde sie als eigenständiges Subjekt wahrgenommen. Ihre Existenz war durch die übergeordnete Stellung des Ehemannes bedingt.
2.2. Die Sicht der Kirche auf die Frau
Das zur Zeit des Hochmittelalters vorherrschende Frauenbild war seitens der Kirche vor allem von Misogynität geprägt. Weltliche Entsagung und ein Leben im Dienste Gottes waren zwar sichere Garanten für die kirchliche Anerkennung der Frau, konnten aber dennoch nicht ihre von Natur aus schlechten Charakter aufwiegen. Das weibliche Geschlecht ist in den Augen der Kirche „der Ursprung alles Bösen“8: „Dadurch, daß Eva Adam dazu verleitet hatte, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wurde sie zur Verkörperung der sexuellen Verlockung des Mannes.“9
Den Grund für die ablehnende Haltung gegenüber der Frau im Mittelalter sieht Mälzer im neurotischen und repressiven Zwangscharakter der mittelalterlich-christlichen Sexualnormen begründet.10 Bußmann spricht ebenfalls von der Tatsache der Frauendiskriminierung und einem damit untrennbar verbundenen Sexualpessimismus, der weitgehend auf der Theologie der Kirchenväter basiert.11
Um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert entstand jedoch ein komplementäres Bild zum bisherigen Frauenverständnis, nämlich das der heiligen Jungfrau Maria. Der sich daraus entwickelnde Marienkult trug allerdings nur mäßig zu einem Umdenken in Bezug auf die Rollenverteilung der Geschlechter bei, die Vorstellung von der weiblichen Inferiorität wurde auch im folgenden Jahrhundert weiter tradiert.
Die Funktionen der Frau waren aus klerikaler Sicht eindeutig definiert und begrenzten sich auf die Erzeugung und anschließende Aufzucht von Nachkommen. Zudem hatten die beiden Traditionslinien von Eva und Maria ein gemeinsames Postulat: Die Verdammung des Geschlechtlichen.12 Der Erfolg zeichnete sich schnell ab: Weiblichkeit, Leiblichkeit und Sexualität gerieten immer mehr unter das Stigma der Negativität, ja sogar der Sündhaftigkeit.13
2.3. Die Frau in der feudalen Adelsgesellschaft
Der Mythos vom Sündenfall Evas im Paradies bestimmte auch die gesellschaftliche Sicht auf die Frau im Mittelalter. Genau wie aus der klerikalen Perspektive sollte sie sich aufgrund ihrer von Eva entlarvten Schwachheit dem Mann unterordnen und sich der ihr zugeteilten Bestimmung, nämlich der Lustbefriedigung des Mannes und der Funktion als Tauschobjekt bei politischen Heiratsverträgen, widmen.14
Bis auf wenige Ausnahmen, in denen sich die Frau der höfischen Gesellschaft zeigen durfte, war ihr Dasein auf die Kemenate beschränkt, während sich der Mann, der gleichzeitig der Vormund seiner Gattin war und dem sie bei Bedarf auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung zu stehen hatte, in der kriegerischen Sphäre unter seinesgleichen befand.
Das Betätigungsfeld mittelalterlicher Edelfrauen, welche rechtlich und finanziell abhängig vom Mann waren, hatte meist einen ausschließlich häuslichen Charakter. Ihr wurde wenig Respekt entgegengebracht, weswegen der höfische Frauendienst, der im Minnesang verherrlicht wird, laut Mälzer eher eine Ausnahme darstellte15. Obwohl die Frau per legem weder Rechtsperson noch vollfrei war und man ihr die Übernahme öffentlicher Ämter nicht gestattete, fanden dennoch viele Edelfrauen den Weg zu politischer Verfügungsgewalt.
2.4. Die mittelalterliche Ehepolitik unter den Bedingungen des Klerus
Die Kirche, deren Vorstellungen im Großen und Ganzen zwei Frauenbilder beinhaltete - das der sinnlichen und somit schändlichen Eva und das der glorifizierten Maria, die sich gänzlich einem asketischen Lebenswandel zuwendet - gestattete die Ehe nur aus einem Grund, nämlich der Vermeidung von Unzucht.
Die kirchlichen Würdenträger stützten sich damit auf Augustinus’ These der drei Ehegüter, welche die Funktionen der Ehe bestimmen sollten: Bonum prolis, die Erzeugung und Erziehung von Nachkommen, bonum fidei, die Erfüllung der gegenseitigen Treue und bonum sacramenti, das Postulat von der unauflöslichen Ehe als heiligem Sakrament.16 „Akzeptieren die Ehepartner diese Ehegüter, dann, und nur dann ist der eheliche Akt gottgewollt und nicht sittlich zu verwerfen“17, so Bußmann.
Die Ehe im heutigen Verständnis, welche mit gegenseitiger Liebe aber auch Lust an Körperlichkeit verbunden ist und primär die emotionale Befriedigung der Partner zum Ziel hat, war zu dieser Zeit nicht denkbar. Körperliche Sehnsüchte waren verpönt, ganz besonders bei der Frau, es sei denn, sie dienten der Zeugung der Nachkommenschaft.
Auch bei der Fortpflanzung zeigte sich die inferiore Stellung der Frau, die eher als Gehilfin des Mannes statt als gleichwertige Partnerin gesehen wurde: „Die Frau wird verglichen mit der Erde, die den Samen des Mannes lediglich passiv aufnimmt.“18 Die Ehe war somit eher eine Zweckgemeinschaft als eine auf gegenseitige Liebe basierende Partnerschaft. Folglich war auch der Wille der Frau kein wesentlicher Hinderungsgrund für das Zustandekommen einer Heirat.
Erst Mitte des 12. Jahrhunderts setzte sich langsam das Prinzip der Konsensehe durch, was aber in der Realität oftmals nur eine formale Angelegenheit blieb. „Dennoch […] gewann die Liebe als Grund für eine Eheschließung langsam an Bedeutung; sie wurde nicht ausnahmslos als malum verdammt.“19
In der Rangordnung der Geschlechter belegte die Frau jedoch immer noch Platz zwei, was sich vor allem auf die Regeln bezüglich des Geschlechtsverhaltens auswirkte: „[Die] weibliche Sexualität [wurde] viel stärker diskreditiert als die männliche.“20 So musste die Frau nicht nur unberührt in den Stand eintreten, sie verpflichtete sich auch, jedem freizügigen Verhalten zu entsagen, während der Mann nicht obligatorisch auf die Polygamie verzichten musste. „Die Restriktionen, mit denen die Ehe belegt wurde, trafen vor allem die Frau“,21 fasst Mälzer zusammen.
2.5. Die mittelalterliche Ehepolitik im feudaladeligen Kontext
Während eine Ehelichung aus der Sicht der Kirche den Zweck erfüllte, Unzucht zu vermeiden und für eine sichere Nachkommenschaft zu sorgen, wollte man nach feudalem Verständnis die Brautleute aus politischen, dynastischen oder ökonomischen Überlegungen verheiraten. So konnte man verfeindete Adelshäuser miteinander versöhnen, innen- und außenpolitisch seine Macht erweitern, verlorene Territorien zurückerobern oder seinen Besitz ausdehnen.
Nicht persönliche Sympathien spielten bei der Partnerwahl eine Rolle, sondern rein strategische Gesichtspunkte, was vor allem die Entscheidungsmacht und den Handlungsspielraum der Frau enorm einschränkte: „Der eigene Familienverband sowie der des zukünftigen Ehemannes betrachtete die Frau als Geschäfts- und Heiratsobjekt22, als Ware, die man gegen einen bestimmten Wert eintauschte“23. Eine wertvolle Mitgift steigerte dabei die Attraktivität der Zukünftigen und somit auch den Heiratswillen des ledigen Mannes.
Mit der Eheschließung trat die Frau in die Vormundschaft ihres Gatten ein und wurde von diesem versorgt, da sie selbst, bis auf ihre Mitgift, mittellos war. Laut Mälzer war sie zur damaligen Zeit auf ihren „Funktionswert“, nämlich auf ihren „sozialen, politischen und dynastischen“24 reduziert.
Während die Kirche die Unauflöslichkeit der Ehe propagierte, war es aus feudaler Sicht möglich, diese durch eine Scheidung zu beenden, was vor allem dann der Fall sein konnte, wenn die Ehefrau keinen Beitrag zur Sicherung der Nachkommenschaft leisten konnte.
Auch die Untergeordnetheit der Frau lässt an die klerikale Sichtweise der Ehe erinnern. Dies wird vor allem an der Gepflogenheit deutlich, dass der Mann die Frau im Falle eines Ehebruchs verstoßen oder sogar straflos töten durfte, während sie selbst keine Möglichkeit hatte, sich gegen die Untreue ihres Angetrauten zu wehren. Generell schuldete die Frau ihrem Mann absolute Gehorsam, was „notfalls auch mit Prügeln einfordert werden konnte […] (potestas maritalis)“25 Für Liebe war im damaligen Verständnis von Ehe kein Platz.
2.6. Die adelige Ehefrau - Erziehung, Aufgaben und Handlungsspielraum
Während junge Männer am Hof hauptsächlich für die späteren Kriegshandlungen ausgebildet wurden und sich im Turnierkampf übten, war die Erziehung der Mädchen eher geprägt von der Entwicklung feinerer Fähigkeiten wie den richtigen Umgangsformen und Fertigkeiten wie Reiten, Jagen, Schachspielen, Tanzen, Musizieren und Handarbeiten. Der vor allem nach Unterhaltung trachtende Wert der damaligen Frau trat deutlich hervor.
Dieser Ausbildung zugrunde lag eine strenge Wertevermittlung, die die Tugenden der zuht und maze mit einschloss. Die höfische Edelfrau sollte ihr Ansehen in der Gesellschaft durch normkonformes Verhalten bewahren und so „zum hohen muot ihrer Umgebung und besonders des Mannes beitragen“26. Mälzer bezeichnet die Frau demzufolge als „Instrument, das der Vervollkommnung des Mannes dienen sollte“27, denn diesem war sie zu Gehorsam, Demut, Unterwürfigkeit und Respekt verpflichtet. Dazu war es notwendig, als Jungfrau in den Ehestand einzutreten, was durch eine strenge Beaufsichtigung der adeligen Mädchen gewährleistet wurde.
In einem Bereich jedoch war die Frau dem Mann überlegen, nämlich auf dem Gebiet der intellektuellen Ausbildung. Gerade Frauen höherer Schichten konnten geistig tätig werden und so ein Mindestmaß an Selbstbestimmung erlangen. „Die Ehefrau richtete oftmals an ihren Höfen kulturelle Zirkel ein, auf denen sich gebildete Kleriker, Minnesänger, Dichter und fahrende Spielmänner trafen.“28 Häufig wurden die jungen Frauen sogar in der lateinischen Sprache unterrichtet.
Als Musterbeispiel für die Erziehung eines adeligen Mädchens greift Mälzer auf die blonde Isolde zurück, betont aber zugleich, dass ihr Bildungsstand weit über dem einer durchschnittlichen Adelstochter liegt. Gottfried weist folgendermaßen auf die hohe intellektuelle Ausbildung Isoldes hin:
si kundeêschoene vuoge
und höfscheit genuoge
mit handen und mit munde. diu schoene si kunde ir sprâche dâvon Develîn, si kunde franzois und latîn, videlen wol ze prîse
in welhischer wîse. 29
Neben den höfischen Fertigkeiten und feinen Künsten beherrscht Isolde also auch Englisch, Französisch und Latein und zeichnet sich durch ihre musikalische Begabung aus. Der Spielmann Tantris lehrt Isolde zudem in der Sittenlehre, der sogenannten morâliteit30 , welche für Gottfried eine ganz besondere Stellung in der Erziehung einer Adelstochter einnimmt, da auf diesem sittlichen Grundstock die weitere Ausbildung aufbaut:
wan sîne hânt guot nochêre,
ezn lêre sîmorâliteit. 31
Obwohl der Handlungsspielraum der adeligen Hofdame durch die untergeordnete Position zum Mann im Allgemeinen eher begrenzt war, gab es eine Anzahl von Edelfrauen, auf welche die Restriktionen der Muntehe nicht zutrafen und die verantwortungsvolle Aufgaben am Hof übernehmen mussten. Je höher diese Frauen in der sozialen Hierarchie standen, desto größer war ihr Einflussbereich.
So kümmerten sich die Edeldamen in Friedenszeiten um die komplexe Organisation des Burghaushalts, versorgten Kranke und Verletzte, widmeten sich der Kindererziehung oder übernahmen karitative Aufgaben. An Kompetenz und Bereitschaft durfte es der Edelfrau nicht fehlen, wenn es galt „[sich] während der Abwesenheit des Burgherrn um seine Ländereien zu kümmern, die Burg vor Angriffen zu verteidigen […] und Rittern, Hofbeamten und der Dienerschaft ihre Löhne zu zahlen […]“32. Die Frauen schlüpften folglich in die Rolle des Mannes, übernahmen dessen Aufgaben, handelten gemäß seinem Ansinnen und konnten somit auch ihren Status dem seinen angleichen.
In Deutschland war die gemeinsame Regentschaft eines Herrscherpaares bis ins 12. Jahrhundert hinein bereits rechtlich festgelegt. Dies wird durch den Begriff „consortium imperii“33 ausgedrückt. In der späteren Stauferzeit reduzierte sich der Aufgabenbereich der Edeldame wieder stark auf repräsentative Funktion am Hof. Auch in der zeitgenössischen Literatur trifft man eher selten auf diese einflussreichen Herrscherdamen, wenn, dann eher in abgeschwächter Version. Eine Ausnahme stellt hierbei Gottfrieds von Straßburg Konzeption der Königin von Irland, der wisen Isolde, dar.34
2.7. Das Frauenbild in der höfischen Literatur
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Klerus und Adel in der auf den Lehren der Kirchenväter gründenden Annahme der Inferiorität des weiblichen Geschlechts übereinstimmen. Diese realhistorischen Tendenzen werden auch im Frauenbild der höfischen Literatur reflektiert.35
Das Erscheinungsbild der Frau im höfischen Roman ist sehr vielfältig, so tritt sie als strahlend-schöne Hofdame, als hässliche Gralsbotin, als hochmütig-abweisende Minneherrin oder als liebende, sich unterordnende Ehefrau auf. Die unterschiedlichen Ausgestaltungsvarianten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Allesamt erfüllen die Frauen bestimmte Funktionen bzw. haben einen gewissen Wert für die männlichen Protagonisten, was wiederum die These der weiblichen Objekthaftigkeit stützt. Da die Frau im höfischen Roman nur im Bezug auf die Aufgabe, die sie für den Mann hat, interessant ist, haftet ihr oftmals eine gewisse Passivität, häufig sogar Selbstverleugnung, Entsagung oder auch ein Gefühl der Resignation an. „Anerkennung ist [nur] zu erreichen, wenn sie sich diese Wertvorstellungen zu eigen gemacht hat - dies ist in der Stilisierung der höfischen Dame zur Minneherrin und zur sich unterordnenden Ehefrau realisiert“36, bestätigt Mälzer.
Inwiefern dies auf die Frauenfiguren im Tristanroman zutrifft soll im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingehend geklärt werden. Fest steht jedoch, dass die Frau im höfischen Roman abhängig ist von zwei Faktoren, denen sie ihre eigenen Interessen unterzuordnen hat: Von der Kirche einerseits, der sie hinsichtlich ihrer Tugenden verpflichtet ist, und von der Gesellschaft andererseits, deren Erwartungen sie zu erfüllen und in deren für sie vorgesehenen Handlungsspielräumen sie sich einzufügen hat.
3. Gottfrieds Frauenideal in den Exkursen
Unabhängig von dem im Mittelalter vorherrschenden Bild der Frau, ihrer gesellschaftlicher Stellung, ihren Pflichten und Rechten, besitzt Gottfried eine ganz eigene Sichtweise auf die Weiblichkeit und auf deren Bedeutung im höfisch-mittelalterlichen Kontext. Dies offenbart er dem Leser in den Exkursen seines Romans, die in die Handlung eingebettet sind.
3.1. Die Exkurse im Tristan
Tomasek gliedert die Gesamtheit der Exkurse unter einem thematischen Gesichtspunkt und gelangt zur Einteilung in eine kleine Gruppe literaturtheoretisch und stoffgeschichtlich motivierter Exkurse einerseits37 sowie in die drei großen Minneexkurse, welche die aktuelle Bedeutung des Handlungsgeschehens herausheben sollen, andererseits.38 Besonders aufschlussreich für eine Analyse des Gottfried’schen Frauenbildes gestalten sich dabei Letztere, deren Funktion Tomasek treffend beschreibt: „Ihre Aufgabe ist, das auf der Handlungsebene Geschehende ins Exemplarische und Gegenwärtig-Aktuelle zu erheben und dadurch die literarische Welt mit dem Leben des Rezipienten zu korrelieren“39.
Die Minnexkurse setzen sich zusammen aus der sogenannten Minnebußpredigt40, der Grottenallegorese41 und dem huote -Exkurs42 und haben die Aufgabe, als Exkurshaltung auf das an Tristan und Isolde vollzogene Schicksal zu reagieren und somit eine gewisse interpretatorische Distanz zu erlauben.43 Da der Autor in allen drei Exkursen den Zustand der Wirklichkeit als unzureichend empfindet, entwirft er jeweils ein utopisches Idealbild, welches seine Wünsche und Vorstellungen bezüglich einer gesellschaftlichen Veränderung widerspiegelt. Die Stellung der drei großen Exkurse im epischen Gefüge ist dabei nicht unwesentlich: „Die rede von minnen steht unmittelbar nach dem ersten Vollzug der Liebesgemeinschaft nach dem Minnetrank, der huote -Exkurs direkt vor dem letzten Beisammensein vor der Trennung, die Grottenallegorese zwischen diesen beiden auf dem Höhepunkt der Liebesbeziehung“44
Somit befinden sich die Exkurse an denjenigen Punkten des Handlungsstranges, an denen Tristan und Isolde eine Kombination der Liebesgemeinschaft mit dem höfischen Zusammenleben noch nicht versagt ist.
3.2. Gottfrieds Kritik an Gesellschaft und Ehepolitik in der rede von guoten minnen
In einer eindringlichen Zeitklage, welche der erste der drei Minneexkurse, nämlich die rede von guoten minnen, darstellt, macht Gottfried den Rezipienten auf die gegenwärtig bestehende „Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit“45 aufmerksam. Er kritisiert, indem er auf die Problematik einer Realisierung der Tristan-Minne hinweist, in verdeckter Weise die Heiratspolitik des Mittelalters. Der Autor bringt so eine generell „gegenwartskritische Einstellung zum Ausdruck“46.
Pfeiffer sieht in diesem Textabschnitt die Funktion der kontrastierenden Darstellung von der verwirklichten Tristan-Minne der Liebenden als Ausgangspunkt und Grundthema und der verdorbenen Minne als Umkehrung des im Roman entworfenen Minneideals.47 Auch Tomasek spricht von einem Wechsel zwischen der „Darstellung dessen, was sein soll und Kritik dessen, was ist“ als den beiden Grundelementen von Utopie.48
Die Tatsache, dass Gottfried in der ersten Person Plural spricht, verleiht der Rede nicht nur den bußpredigthaften Charakter, sondern macht zeitgleich klar, dass er sich bei seiner Kritik nicht ausnimmt. Er bezieht sowohl sich selbst, als auch die Gesellschaft mit ein und macht sie so zur Zielscheibe seiner Vorwürfe.
Gleich zu Beginn offenbart Gottfried die angenehmen Eigenschaften der guoten minnen49 welche für denjenigen, der ir mit triuwen pflaege50 untrennbar verbunden ist mit senften herzesmerzen51 und großer vröude52 . Doch nennt er auch die Gegenspielerin dieser vorbildlichen Tristan-Minne, die leiden huote, die wâren suht der minne, der minnen vîendinne53 . Somit entlarvt er die „gesellschaftliche Überwachung der Liebenden als eine bedeutsame Leidquelle“54.
Gottfried zufolge werden die meisten Menschen der wahren Liebe nicht gerecht, denn sie betreiben diese mit velschlîchen sachen55 , was an „den schlechten Sitten der Gegenwart“56, die im darauf folgenden Bild des Ackerbaus zu Tage treten, konkretisiert wird. Gottfried beklagt, dass die Liebe mit gegelletem sinne, mit valsche und mitâkust57 angebaut wird, um dann zu Unrecht Glück für Leib und Herz zu erwarten. „Dieses Bild impliziert […] eine gewisse Abhängigkeit des Menschen von seinen pervertierten Verhaltensweisen, die einmal vorhanden, ihm selbst ebenso leit zufügen, wie sie die Minne entehren“58, präzisiert Pfeiffer. Tomasek sieht in dieser Metapher den „Wunsch nach einem veränderten Verhaltensmaßstab in einem neuen Paradigma der Minne“59.
Das zweite Problem ist Gottfried ebenfalls bewusst: Jeder strebt nach der staete vriundes muot60 , doch allen ist diese dauerhafte Freundschaft versagt. Vermutlich sieht Gottfried den Grund dafür darin, dass in mittelalterlichen Eheerwägungen nicht liebevolle Gefühle, sondern machtpolitische Interessen, gesellschaftliches Ansehen und materieller Besitz im Mittelpunkt stehen. Die Liebe ist letztendlich käuflich geworden. Gottfried zeigt das Resultat dieses Verhaltens in einer „allegorischen Darstellung der entehrten Minne“61 auf: Minne ist getriben unde gejaget in den endelesten ort.62
Eine weitere Eigenschaft, die der Liebe der damaligen Gegenwart fehlt, ist Gottfrieds Ansicht nach eine triuwe, diu von herzen gât63, von welcher der Mensch jedoch die Augen abwendet: wir haben si mit unwerde vertreten in der erde64. Diese Worte geben Anlass zur Vermutung, dass Gottfried die zu dieser Zeit üblichen, im hohen Stand alltäglichen ehebrecherischen Tendenzen auf das Schärfste verurteilt und stattdessen die reine Liebe, die auf einem gemeinsamen Fundament des Vertrauens fußt, gutheißt.
Nach Tomasek bewirkt die Abwendung von der wahren Treue, dass die Menschheit selbstbetrügerisch entgegen ihrer eigenen Interessenslage handelt.65 Gottfrieds Idealbild der Liebe zwischen Mann und Frau, nämlich die utopische und den gesellschaftlichen Verhältnissen entgegengesetzte Vorstellung von triuwe under vriunden66 „bildet als Wunschbild den Abschluss“67:
ein blic, ein inneclich gesiht zu herzeliebes ougen, der leschet ane lougen hundert tusent smerzen des libes unde des herzen. ein kus in liebes munde, der von des herzen grunde her uf geslichen kaema ohi waz der benaeme seneder sorge und herzenot! 68
Diese Liebeskonzeption hat nicht nur unfeudalen Charakter, sie stellt eine volle, leiblich-seelische Liebesgemeinschaft 69 gleichberechtigter Partner dar und bedeutet die vorbehaltlose und aufrichtige Hingabe der Liebenden zueinander. Sie ist nicht an gesellschaftliche Vorbedingungen geknüpft und ist ganz auf Erfüllung konzentriert. 70
Aus Gottfrieds Blickwinkel kann also von einer Ausdifferenzierung der Problematik „Liebe und mittelalterliche Gesellschaft“ in drei Teile gesprochen werden: Der Autor kritisiert zunächst in der Ackerbau-Metapher den falschen Umgang mit der Liebe, allegorisiert jene anschließend als entehrte Minne und beklagt schließlich, wie wenig Beachtung der Treue im zeitgenössischen Hofleben geschenkt wird.
All diese Kritik lässt Gottfrieds Einstellung zur in seinen Augen offenbar bedauernswerten Position der Frau erahnen. Diese Stellung kehrt er in seinem Roman, in dem er alle gesellschaftlichen Verpflichtungen außer Kraft setzt und die Aufrichtigkeit der Liebe zwischen Tristan und Isolde hervorhebt, um. In seinen Augen hat der Mensch durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der materialistischen Ehepolitik seiner Zeit die „Verkehrung der idealen Minne“71, wie Pfeiffer das Negativbild der Liebe beschreibt, selbst verschuldet und könnte, wenn er nur wollte, die gesellschaftliche Determination der Liebe aus eigener Verantwortung ändern:
s o guot, so lonbaere
triuwe under vriunden waere, war umbe lieben wir si niht? 72
3.3. Die Minnegrottenallegorese: Gottfrieds Wunsch nach Vereinbarung von minne und ere
Auch der zweite der drei großen Minneexkurse ist bezüglich Gottfrieds Sicht auf die Frau im Mittelalter sehr aufschlussreich. Seine Beschreibung des gemeinsamen Zusammenlebens von Tristan und Isolde in der Minnegrotte entspricht der Beschreibung einer höchsten und idealen Form der Liebe, welche von der Autonomie der Individuen geprägt ist. Dies bestätigt das im Text beschriebene Gesellschaftswunder, in dem die Liebenden in der Anwesenheit des Partners ihre Genugtuung finden:
nu wes bedorften s ’ ouch darîn
oder waz solt ieman zuo z ’ in dar? sie haeten eine gerade schar: dane was niuwan ein und ein.73
„Die Liebe des eigenständigen Paares erscheint als nicht mehr überbietbares Absolutum irdischen Glücksstrebens überhaupt“, so Tomasek.74
Die Liebenden benötigen auch zur leiblichen Wohlfahrt nichts außer der anderen Person. Diese „Liebesautarkie der individuellen Existenz“75 zeigt sich deutlich im Speisewunder:
si sâhen beide ein ander an,
dâgenerten sîsich van.
der wuocher, den daz ouge bar, daz was ir zweier lîpnar.76
Im Grottenleben sowie in der tropologischen Ausdeutung des Grotteninneren, welche die Handlungsebene laut Tomasek „transzendiert“77, manifestieren sich die für Gottfried zentralen Werte der Tristan-Minne, die Grotte wird zu einem „universalen ethischen Sinn- Gebäude“78: Die Rundung des Grottengewölbes steht sinnbildlich für die einvalte an minnen79 dessen Weite für die minnen craft80 und die Höhe, deist der h ô he muot.81 Die weiße, glatte und ebene Wand verdeutlicht der durnehte recht82, wohingegen der marmorgrüne Fußboden der staete83 gleicht. Das kristallene Bett inmitten der Minnegrotte trägt Gottfrieds Ansicht nach dieselben Charakteristika wie die Liebe selbst, denn es ist cristallîn, durchsihtic und durchl û ter84 . Der schmuckvoll verzierte Schlussstein der Grotte spiegelt die höchste Vollendung sowie die vollständige Erfüllung der Minne, die in der Gottfried’schen Liebeskonzeption zwar möglich, jedoch sehr selten und von hoher Exklusivität ist. Davon zeugt die schwierige Lokalisierbarkeit und somit die nur wenigen Menschen vorbehaltene Zugänglichkeit der Grottenregion: „[…] die ideale Zeit- und Ortlosigkeit der Grotte zeigt nicht nur deren […] Distanz gegenüber der Normalität, sondern auch die universale Gültigkeit ihres Anspruchs“85, bestätigt Tomasek.
Der Autor gibt dem Leser hier Einblicke in seine persönliche Vorstellung von Liebe und Partnerschaft, welche nicht etwa auf den feudalpolitisch ausgerichteten Werten der mittelalterlichen Hofgesellschaft beruht, sondern auf der völligen Einheit und Symbiose von Mann und Frau. Somit lässt Gottfried die Grundzüge seiner Sicht auf die Frau im Mittelalter an die Oberfläche treten.
Der Innenraum der Grotte und die damit verbundenen Tugenden beschreiben ausschließlich das Innere der idealen Minnebeziehung, was für Gottfried jedoch nicht als ausreichend für die Definition der wahren Liebeskonzeption scheint. Er bezieht sich deshalb in seinen nachfolgenden Ausführungen auch auf das Verhältnis der Minne zur Gesellschaft, indem er die Verbindungsglieder zur Außenwelt, nämlich den Türverschluss und die Grottenfenster deutet.86
Die doppelte Türverriegelung, einmal aus Zedernholz und einmal aus Elfenbein, hat nach Tomasek zwei Funktionen, nämlich die des Schutzes einerseits und die des Einlasses andererseits.87 Das Zinn der verborgenen Klinke deutet Gottfried als diu guote andaht88 , welche das ständige Streben nach dem Geheimnis der Liebe versinnbildlicht. Das Schloss ist aus golt89 , einem Material, das die Erfüllung der angestrebten Liebe repräsentiert. Nicht jedem ist folglich der ideale Liebeszustand in der Minnegrotte möglich, sondern nur denjenigen, deren Tugenden den von ihr geforderten Anforderungen entsprechen. Wie Gottfried bereits in der Minnebußpredigt verlauten lassen hat, ist die absolute Grundvoraussetzung für die Erfahrung der Liebe und damit für den Zutritt zur Minnegrotte die triuwe, diu von herzen gat90 . „Die Abschirmung der Grotte nach außen soll zeigen, daß Minne nicht durch valsch und gewalt91 zu erlangen ist“ erklärt Pfeiffer.92 Auch die drei Grottenfester betreffen die Verbindung von innen und uzzen und werden von Gottfried als güete, diemüete und zuht93 gedeutet, was laut Tomasek drei allgemeine Verhaltensweisen des menschlichen Umgangs sind.94 Durch diese Öffnungen leuchtet die Sonne in die Grotte, welche für Gottfried die Ehre versinnbildlicht:
[ … ] ze disen drîn
dâlachetîn der süeze schîn, diu saelige gleste,
ê re, aller liehte beste
und erliuhtet die fossiure wertlîcherâventiure. 95
An dieser Stelle ist der Leser an eine Schlüsselstelle der Grottenallegorese gelangt, denn hier liegt die Vermutung nahe, dass mit Gottfrieds Deutung der Sonne als ê re die gesellschaftliche Anerkennung gemeint ist, welche durch eine allgemeinmenschliche Integrität (diemüete, zuht, güete) der Liebenden im Umgang mit ihrer Umwelt erreicht wird.96 Exakt diese gesellschaftliche Akzeptanz hat Gottfried den beiden jedoch bereits aberkannt, was für ihn das Leben in der Minnegrotte trotz aller vorbildlichen Einheit und Harmonie zwischen den Liebenden als mangelhaft und defizitär erscheinen lässt:
sine haeten umbe ein bezzer leben
niht eine b ô ne gegeben
wan eine umbe irêre. 97
Gottfried versteht also unter dem Idealzustand der Minne sowohl die Autonomie und den individuellen Selbstanspruch der Liebenden als auch die Einsicht für die soziale Verantwortung des Menschen sowie die Erfüllung von gesellschaftlichen Erfordernissen. Tomasek sieht demnach in den Tugenden diemüete, zuht und güete, welche für ihn angesichts des mittelalterlich-feudalen Gesellschaftsrahmens in einer integeren Lebensführung offenbar werden, eine „Mittlerfunktion“98, deren Aufgabe es ist, der Minne die fehlende Ehre zuzuführen. Im Hinblick auf diese Annahme kommt er zu folgendem Ergebnis:
Gemessen an einem derartigen Ehrbegriff müssen auch Tristan und Isolde, obgleich sie in ihrer Minnebeziehung als vorbildlich gelten dürfen, unvollkommen erscheinen. Denn nie wird von ihnen der Versuch unternommen, [ … ] das Wohlwollen der Gesellschaft für sich und damit auch für ihre Liebe dauerhaft zu erwerben. 99
Da die Liebenden die zweite der beiden Komponenten der idealen Liebe, nämlich die Ehre, missachten, der Autor aber eine gesellschaftliche Anerkennung befürwortet und eine absolute Notwendigkeit im Ausgleich von Minne und Gesellschaft sieht, distanziert sich dieser von der Handlungsweise der Helden.100 „Der grundlegende Konflikt von minne und ere [, der bereits im Prolog angedeutet worden ist,] bleibt bestehen“101.
Mikasch-Köthner warnt jedoch davor, die Betonung der Notwendigkeit gesellschaftlicher Anerkennung voreilig als Aufwertung der feudalen Hofgesellschaft zu betrachten102, was auf der Textebene durchaus gerechtfertigt ist.
So sieht Gottfried den Grund für die Nichterfüllung der Forderung nach Ehre und damit für die vom Autor verurteilte Gesellschaftsferne des Paares in König Marke und des damit verbundenen Hochadels. Dieser steht der gesellschaftlichen Akkreditierung von Tristan und Isolde im Weg, was deutlich, als Marke, der die Liebenden in der Grotte entdeckt hat, die Öffnung mit Gras, Blumen und Blättern bedeckt, um Isoldes Gesicht vor der in seinen Augen schädlichen Sonne zu schützen:
nu er der sunnen war genam, diu von obene durch den stein û f ir antlütze schein,
er vorhte, ez waere ir an ir lîch schade unde schedelîch. 103
Die verdeckte Marke-Kritik wird im weiteren Versverlauf zu einem offenen Tadel und enthüllt Markes Fixiertheit auf die bloße körperliche Sinnlichkeit, was wiederum einer allgemeinen Beanstandung Gottfrieds, nämlich der Reduzierung der Frau auf rein erotische Gesichtspunkte, gleichkommt:
ze vröuden haete aber d ô
an sînem wîbe Isolde,
szwaz s ô sîn herze wolde, niht z ’ê ren, wan ze lîbe.104
Auch in der Szene des trennenden Schwerts kommt noch einmal eine „scharfe Kritik an einer Gesellschaft zum Ausdruck, die an der Demonstration sinnentleerter feudaler Standestugenden festhält und sich mit der Wahrung des bloßen Scheins zufrieden gibt“, bekräftigt Mikasch Köthner.105
diu verre gelegenheit
diu was im liep unde leit.
liep meine ich von dem wâne, si waeren valschesâne.
leit meine ich, daz er sich versach.106
Resümierend kann festgehalten werden, dass Gottfrieds Idealbild jenes des „in der Liebe Erfüllung findenden und mit der Gesellschaft vollauf versöhnten Menschen“107 ist, was sowohl für den Mann als auch für die Frau gleichermaßen Gültigkeit besitzt und letzterer demnach mehr Autonomie und Selbstbestimmung zuspricht als dies die höfische Wirklichkeit zu dieser Zeit tatsächlich realisiert. Mikasch-Köthner reflektiert außerdem das Hauptproblem der Aufhebung der Diskrepanz von Schein und Sein und betont die zwei Dimensionen der idealen Minne:
Vollkommenheit in der Liebe ist nur dann zu erreichen, wenn der einzelne nicht nur in dem begrenzten Innenraum einer Partnerbeziehung, sondern auch nach außen hin ganz er selbst ist, anstatt der Welt eine Rolle vorzuspielen, die [ … ] den Zwiespalt nur verschärft und den Menschen sich selbst immer stärker entfremdet. 108
Im Rahmen der Minnegrottenallegorese versuche Gottfried eine „individuelle und gesellschaftliche Forderungen in sich vereinigende Minneethik“ zu entwerfen und so eine „Perspektive des Ausgleichs aufzuzeigen“109, so Mikasch-Köthner. Pfeiffer fügt dem hinzu, dass die „Verbindung von sinnlichem und sittlichem Minne-Ideal […] die Allegorese somit zum Höhepunkt der theoretischen Minnedarstellungen [macht]“ und die Minnegrottenallegorie als Weiterentwicklung und Steigerung des Minne-Ideals der rede [von minnen] aufgefaßt werden kann.110
In Bezug auf das Gottfried’sche Frauenbild lässt sich im Übrigen feststellen, dass die Frau im Rahmen der hier entworfenen Liebeskonzeption dem Mann hinsichtlich der anfallenden Gesichtspunkte ausnahmslos ebenbürtig ist.
3.4. Der huote-Exkurs: Gottfrieds Entwicklung der idealen Weiblichkeit
Die Frage nach der Vereinbarkeit von minne und ê re wird auch im dritten der drei großen Minneabhandlungen, im so genannten huote -Exkurs, erörtert, indem die Problematik anhand drei verschiedener Frauentypen diskutiert wird und schließlich „in Gottfrieds neuem Weiblichkeitsideal seine Lösung findet“111.
Das Verhalten der Frau wird nach verschiedenen Möglichkeiten hin untersucht, wobei Gottfried nach Lösungswegen sucht, wie die Frau
sich zu verhalten habe, um eineüber die Partnerbeziehung hinausgehende Vollkommenheit zu erreichen, die ihr dauerhaft die Anerkennung der Gesellschaft einträgt und damit ihre Liebe erst eigentlich zur Erfüllung des menschlichen Daseins werden lässt 112.
Pfeiffer bemerkt überdies die Diskrepanz zwischen „ethisch gefärbtem, bewußtem MinneIdeal des Exkurses und irrationaler, allmächtiger Minne der Handlung“113. Der huote Exkurs befindet sich nämlich unmittelbar nach der letzten, heimlichen Liebesbegegnung zwischen Tristan und Isolde, in der die beiden wegen der Unvorsichtigkeit Isoldes und ihrer fehlenden maze114 , eine Basistugend, die im huote -Exkurs propagiert wird, entdeckt werden. Der Autor distanziert sich also zunehmend von der Handlungsweise seiner Protagonisten, „die Abweichung zu dem auf der Exkursebene entworfenen Ideal wird […] anhand des Verhaltens der Frau konkret faßbar“115.
3.4.1. Die huote als Ursache des Selbst- und Ehrverlusts der Frau
Zunächst beanstandet Gottfried die höfische Institution der huote, die Überwachung der Frau, welche in seinen Augen als vertâne antwerc und vîndin der minne betrachtet werden kann, die manic wîp entêret, diu vil gerneêre haete, ob man ir rehte taete116. So plädiert er für ein Selbstbestimmungsrecht der Frau, spricht sie von jeglicher Fremdbestimmtheit frei und legt damit seine Vorstellung einer in seinen Augen idealen Paarbeziehung offen: „Vertrauen als Basis maßvollen, dem Ehepartner gegenüber fairen Verhaltens […] und somit eine Haltung des Mannes, […] die von Verständnis, Toleranz der Frau gegenüber und Akzeptanz ihrer Persönlichkeit bestimmt ist“117.
Der Grund liegt für Gottfried auf der Hand: man tuot der manegez durch verbot, daz man ez gâr verbaere, ob ez unverboten waere.118 Seiner Meinung nach wird die Frau nur durch den Charakter des Verbotenen dazu verleitet, das Schlechte zu tun, was mit Evas Fehltritt im Paradies, welcher Gottfried als „Beispiel für die Verderblichkeit jeden Verbots“119 dient, und der daraus resultierenden Weitergabe der christlichen Erbsünde begründet wird: die vrouwen, die der arte sint, die sint ir muoterêven kint.120
Die Folgen für Evas Verhalten, unter deren Dominanz auch die mittelalterliche Frau steht, sieht Gottfried in ihrem Selbst- und Gottesverlust sowie in der Vernichtung der ê re121 , was laut Hahn drei spezifische Kennzeichen der dignitas hominis sind122. „Mit diesem Rekurs auf die Rolle der Frau in der Genesis greift Gottfried zunächst auf das die Stellung der Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft bestimmende christlich-androzentrische Weiblichkeitsklischee zurück, um von hier aus Möglichkeiten seiner Überwindung aufzuzeigen“123.
3.4.2. Erster Entwurf der Frau:Ê ve und die eliminierte Sinnlichkeit
Die erste Möglichkeit einer „immanenten Überwindung der Folgen des Sündenfalles“124 sieht Gottfried in einer Frau, diu sich es danne enthaben kann125, die also auf ihre leiblichen Triebe zugunsten der Tugend verzichtet und somit ihre angeborene Wesensart verneint.
Dieses Weiblichkeitsbild verdiene zwar lobes undêren126 , dennoch spricht Gottfried seine Bedenken offen aus, sein Lob entpuppt sich als Scheinlob: diu ist niwan mit namen ein wîp und ist ein man mit muote.127 Eine Frau, die derart handelt und ohne jede Sinnesfreude lebt, verliert in den Augen des Dichters jegliche Weiblichkeit und unterscheidet sich kaum noch vom Mann.
Durch eine Frau, die sich auf diese Weise ganz außerhalb der Sinnensphäre stellen will, [kann] kaum ein Beitrag zu einer echtenüberwindung Evas, geschweige des durch Eva initiierten Selbstverlustes der Frau geleistet werden “ 128.
Gottfried sieht die Schwierigkeit des Frauseins darin, trotz der Zwänge und der Verbote, ihr individuelles Wesen der Weiblichkeit zu bewahren und nicht durch Ausschaltung jeglicher körperlicher Begierde aufzugeben.
3.4.3. Zweiter Entwurf der Frau: Das reine wîp im Kampf zwischen lîpundêre
Hieraus resultiert Gottfrieds um einen Aspekt weiterentwickelter Entwurf von Weiblichkeit: Dies ist eine Frau, die einen unaufhörlichen Kampf zwischen lîp undêre und somit gegen ihre Sinnlichkeit führt, um sich selbst und der Gesellschaft Tribut zu zahlen. Diese Frau nennt Gottfried das reine wîp129, eine Auszeichnung, die ihr der Dichter schon allein aufgrund ihrer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Unzulänglichkeit zukommen lässt.130
waz mac ouch iemer werden
so reines an dem wibe so daz si wider ir libe mit ir eren vehte. 131
Nicht die Konzentration auf einen der beiden Teilaspekte birgt laut Gottfried das Seelenheil der Frau und deren Anerkennung durch die Gesellschaft in sich, sondern das Gerechtwerden beider Faktoren, d.h. die Vermittlung zwischen lîp undêre mithilfe der richtigen maze132. Dies kommt jedoch micheler arbeit133 gleich:
si sol den kampf so keren,
daz si den beiden rehte tuo und sehe ietwederm also zuo, daz daz ander da bi
von ir iht versumet si. 134
Die ideale Lösung scheint für den Dichter jedoch auch in diesem Frauenbild, welches eine maßvolle Triebkontrolle und den weltlichen Aspekt der ê re vereinbart, dennoch aber auch eine gewisse Leidkomponente beinhaltet, noch nicht gegeben zu sein, wenngleich er die „Vermittlung der Ansprüche von Individuum und Gesellschaft“135 als grundsätzlich erreichbar einstuft:
ein wîp, diu wider ir lîbe tuot, diu s ô gesetzet ir muot, daz sîir selber ist gehaz, wer sol die minnenüber daz? 136
Was laut Gottfried dem reinen wîp137 fehlt, ist die innere Übereinstimmung mit sich selbst, welche mit Selbstakzeptanz und -versöhnung korreliert ist. Diese Charaktereigenschaften sieht der Dichter in dem Entwurf eines neuen Weiblichkeitsideals, in der Konzeption des saeligen wîp138 , begründet.
3.4.4. Dritter Entwurf der Frau: Das saelige wîp und die Versöhnung von innen und uzzen
Das saelige wîp ist laut Gottfried eine Frau, diu ir wîpheit wider ir selber liebe treit der werlde zuo gevalle139, welche also mit der Annahme der eigenen Persönlichkeit und ihrer individuellen, weiblichen Wesenszüge eine Brücke zur Gesellschaft schlägt und somit dem mittelalterlichen Ehrbegriff gerecht wird. Das saelige wîp hat eine neue maze gefunden, welche in der Liebe zu sich selbst und im Bewusstsein und der Rückbesinnung auf die weibliche Persönlichkeit liegt.
„Gottfried erhebt seinen Selbstliebe-Begriff140 zu einem programmatischen Wert, der allein auf eine diesseits bezogene Lebensführung ausgerichtet ist“141, erklärt Mälzer. So kann sich die Frau selbstständig aus der „scheinbar unauflöslichen Verstrickung in Sünde, Ehr- und Selbstverlust“142 befreien, was natürlich den Verzicht auf jegliche Einwirkung von außen, also auch auf die feudale Institution der huote mit einschließt. Mit ihrer innovativen, individuumsbezogenen Konzeption ist das saelige wîp bezüglich „ihrer individuellen Art zu lieben“143 ein Vorbild für die gesamte Gesellschaft:
diu gerne da nach sinne,
daz al diu werlde minne diu minne sich selben vor
zeige al der werlde ir minnen spor. 144
Durch ihr wieder gewonnenes und versöhntes Selbst, welches auf dem Aspekt der Individualität beruht, schafft die Frau die rechte Korrelation zwischen Innen- und Außenbereich der Welt, die „ursprüngliche paradiesische Integrität der gesamten Person“145 ist wiederhergestellt, die „Überwindung des durch den Sündenfall bedingten Persönlichkeitszerfalls“146 ist erreicht.
Damit erreicht diese dritte Frauenkonzeption, im Vergleich zu den vorherigen Entwürfen, das höchste Maß an Autonomie und Souveränität. Trotzdem erfährt das saelige wîp erst in der Liebe zum Mann ihre völlige Erfüllung, sie stellt den „gebenden Part in der vorbehaltlosen Hingabe“147 an den Mann dar und ist mit ihrer liebenden Funktion die Voraussetzung für dessen irdische Erfahrung von Glück:
wie r û met s ’ alle sîne wege
vor distel und vor dorne, vor allem senedem zorne!
wie vrîet s î’ n vor herzen ô t, s ô wol s ô nie dekein Is ô t dekeinen ir Tristanden baz. 148
Die letzten beiden Verse heben deutlich Gottfrieds Urteil darüber hervor, dass die Isolde der Handlungsebene keineswegs seinem idealen Weiblichkeitsentwurf entspricht. Die Textstelle besagt jedoch auch, dass der Dichter eine neue Partnerschaftlichkeit entwirft, die von Vertrauen, Selbstliebe, Verständnis und gegenseitiger Bejahung getragen wird, und er die Utopie des saeligen wibes als „eine im Diesseits einzulösende anthropologische und gesellschaftliche Realmöglichkeit“149 sieht.
Laut Mälzer exemplifiziert Gottfried im huote -Exkurs anhand einer Frau sein neues individuumsbezogenes Menschenbild, welches von den Gedankenströmungen des Humanismus des 12. Jahrhunderts beeinflusst wird.150 Dies enthüllt nicht zum ersten Mal die Unzufriedenheit des Dichters an der Unmündigkeit der mittelalterlichen Frau und deren begrenzten Entfaltungsmöglichkeiten, denn „der postulierte Ausgleich zwischen dem Selbst der Frau und bestehenden Konventionen war in der Realität kaum umsetzbar.“151
Gottfried fordert jedoch eine Gesellschaft, in welcher die Innerlichkeit des Menschen eine höhere Stellung einnimmt als die Standestugenden. Seine Gefühle und das Ausleben der wahren Liebe sollen ausschlaggebend für seine weltliche Anerkennung sein. Er räumt außerdem der individuellen Selbstfindung der mündigen Frau, mit dem Ziel ihrer Übereinstimmung mit sich selbst, äußerste Priorität ein.
Der ideale Weiblichkeitsentwurf des huote -Exkurses lässt also eine neue Auffassung von der Frau im speziellen und vom Menschen allgemein anklingen und zeugt von einem sich hier vollziehenden Paradigmenwechsel.
Als abschließende Bemerkung in der Reflexion über die drei großen Minneexkurse sollte darauf hingewiesen werden, dass Gottfrieds in diesen Textstellen entworfenes Idealbild keineswegs dem Geschehen und den Figurencharakteren auf der Handlungsebene entspricht. Während die Minne in den Exkursen von den Voraussetzungen abhängig erscheint, „die der
Einzelne mit seinem (guten oder schlechten) Verhalten schafft“152, tritt sie im Roman als „irrationale und unbeherrschbare Gewalt [auf], der die Liebenden ausgeliefert sind“153.
Dies mag zum einen die Aufgabe erfüllen, reflektorisch eine gewisse Distanz des Dichters zum epischen Geschehen zum Ausdruck zu bringen, es entspricht vor allem aber auch der ebenso in den textuellen Gegebenheiten existierenden Differenz zwischen Idealvorstellung und Realität. Denn genau wie die in den Exkursen dargestellte Liebe keinen Anklang in der damaligen Realität findet, so ist auch die Rolle der Frau und ihre feudalhöfische Stellung in der Wirklichkeit nicht diejenige, die sich Gottfried in den Exkursen wünscht. Dies ist nicht deswegen der Fall, weil die Frau nicht durch eigenes Zutun ihre rechtlose Position ändern möchte, sondern weil sie von den Bedingungen der damals wirkenden, gesellschaftlichen Kräfte abhängig ist.
Wenn Gottfried also in den Exkursen sein Wunschbild einer sich selbst behauptenden und sich in einer rechtlich abgesicherten Position befindenden Frau skizziert, gesteht er sich durch die Distanzierung dieses Entwurfs zum inhaltlichen Geschehen die Unzulänglichkeit und Utopie dieses, zu dieser Zeit noch nicht durchführbaren, Idealbildes ein. Das freie Minneparadies des huote -Exkurses, welches „anders als die a-soziale Minne der Handlung privates und gesellschaftliches Glück umschließt“154 ist noch nicht möglich, genau wie die im Inneren der Frau verwurzelte Harmonie zwischen feudalhistorischem Machtgefüge und den seelischen Bedürfnissen nach rechtlicher Anerkennung und freier Entfaltung (noch) nicht umgesetzt werden kann.
4. Blanscheflur
Die Geschichte um Riwalin und Blanscheflur ist der eigentlichen Tristan-Handlung vorgeschaltet und nimmt einen großen Teil des Gesamtepos ein. Überdies fungieren die mit vielerlei Problemen behaftete Liebesbeziehung seiner Eltern und die unglückseligen Umstände bei Tristans Geburt als Vorausdeutung auf das Schicksal des Protagonisten.
4.1. Blanscheflurs Charakterisierung auf der Ebene des Textes
Gottfried führt Blanscheflur, Tristans leibliche Mutter, ab Vers 632 als Pendant zu deren Bruder Marke, welcher als der guote, der höfsche h ô hgemuote155 beschrieben wird, ein. Für Deist ist Marke „die Verkörperung dessen, was sich in der festlichen Natur [des davor beschriebenen glanzvollen Hoffestes] bereits ausgedrückt hatte“156. Schausten weist dem Hoffest ebenfalls die Funktion der Vorführung eines „Szenario[s] höfischer Vollkommenheit“157 zu.
Durch diese Parallelkonstruktion macht der Verfasser indirekt auf Blanscheflurs Übereinstimmung mit dem höfischen Idealbild aufmerksam. Als sunderlîchez wunder und als maget, daz dânoch anderswâschoener wîp nie wart gesehen158 wird Markes Schwester bezeichnet und auf diese Weise von der Masse der übrigen Hofdamen hervorgehoben. „Die Schwester Markes wird als das schönste Juwel unter der Menge glänzender Damen geschildert, die von den anwesenden Herren auch wie Schmuckstücke betrachtet werden“159.
Trotz ihrer positiven Andersartigkeit, die aus Gottfrieds Formulierung eines Unterschiedes zu den übrigen Hofdamen ersichtlich wird, stellt sie für den Autor dennoch eine Repräsentantin der gesamten Frauenwelt dar, eine Frau, welche die Fähigkeit besitzt, ihre hervorragenden Eigenschaften auf ihr ganzes Geschlecht zu übertragen und somit als Auszeichnung für dieses fungiert:
wir hoeren von ir schoene jehen, sine gesaehe nie kein lebende man mit inneclîchen ougen an, ern minnete dânâch iemer mêwîp und tugende baz dan ê.160
Deist deutet diese Verse folgendermaßen: „So wie die Natur die Gesinnung des Menschen veredelt, erfährt jeder Mann eine Steigerung seines Lebensgefühls, wenn er die bestrickende Schönheit Blanscheflurs auch nur erblickt“161. Auffällig ist, dass die Betonung ausdrücklich auf Blanscheflurs äußerer Erscheinung und dem Effekt, den diese auf andere hat, liegt:162
diu saelige ougenweide
diu machete û f der heide
vil manegen man vrech unde vruot, manec edele herze h ô hgemuot. 163
Die Wirkung Blanscheflurs wird laut Schausten hier emphatisch angepriesen.164 Sie bewirkt folglich eine vitalisierende und freudvolle Reaktion, die von ihrem visuellen „sinnlich- betörende[m]“165 Erscheinungsbild, welches gleich mehrmals als ougenweide166 charakterisiert wird, ausgelöst wird. Dadurch rückt Blanscheflur in den Mittelpunkt des höfischen Geschehens. „Gottfried schildert sie als Frau, die von der Anziehungskraft zum anderen Geschlecht weiß und dieses Wissen im Ringen mit der wahren Liebe als Werkzeug einsetzt“167, so Deist.
Nach Kraschewski-Stolz weist der Topos ougenweide auf die Stellung Blanscheflurs innerhalb der Gesellschaft hin und hebt gleichzeitig ihre Schönheit und den visuellen Genuss hervor, den diese Anmut vermittelt: „Der Glanz der ‚lachenden’ Natur und die vröude der höfischen Gesellschaft - das ist der höfisch-ästhetische Hintergrund, aus dem die Person Blanscheflurs als dessen vollendetste Repräsentatin sich heraushebt.168
Der ougenweide - Topos tritt auch bei Blanscheflurs Tod wieder auf:
owe der ougenweide,
da man nach leidem leide mit leiderem leide
siht leider ougenweide !169
Hier fällt die erhebliche Divergenz zwischen ougenweide und leide auf, was den Leser dazu veranlasst, seine positive Erwartungshaltung bezüglich der Benennung der Blanscheflur als ougenweide zu überdenken. „Indem der Topos selbst durch diese innovierende Bildfüllung in seiner rein ästhetischen Aussage in Frage gestellt wird, gilt dies auch für den Bereich, den er
vertritt: die höfische Gesellschaft“, so Kraschewski-Stolz.170 Gottfried spielt damit auf die Unvereinbarkeit Blanscheflurs persönlicher Interessen mit den Normen der Hofgesellschaft an.
Doch nicht nur Blanscheflur hebt sich von der Masse der vornehmen Hofgesellschaft ab. Auch Riwalin besticht mit seiner positiven Andersartigkeit und seinen superlativischen Eigenschaften: s ô was der höfsche Riwalîn und muose ez ouch binamen sîn, der ez des tages und an der stete ze wunsche vor in allen tete.171 Die Außerordentlichkeit der beiden Figuren scheint eine emotionale Annäherung des späteren Paares nahezu unumgänglich zu machen. Ferner gilt auch Tristan als Repräsentant der Superlative.
Deutlich wird Gottfrieds Sympathie bezüglich Blanscheflur auch nach dem Bekanntwerden der Verletzung ihres geliebten Riwalin, indem er die Trauernde mit „Attributen moralischer Vollkommenheit“172 bedenkt: […] Blanscheflur, die reine, die höfsche, die guote […] mit durnehtem muote. Wie Nauen weiter bemerkt, stehen diese Prädikate sonst nur der Gottesmutter zu.173
Was in diesen Trauer- und Verzweiflungsszenen ebenfalls an die Oberfläche tritt, ist die Schwäche und Hilfsbedürftigkeit, welche Blanscheflur anhaftet. Als sie den todkranken Riwalin am Krankenbett besucht, äußert sich ihre Angst und Sorge um den Geliebten in körperlichen Gebrechen. Es erfolgt eine Somatisierung der psychischen Qualen:
ir clâren ougen wart der tac
trüebe unde vinster als diu naht. sus lac si in der unmaht
undâne sinne lange,
ir wange an sînem wange, gelîche als ob si ware t ô t. 174
Dies ist nicht das einzige Mal, dass Blanscheflur beinahe oder sogar vollständig das Bewusstsein verliert, was von einer schwachen körperlichen Verfassung zeugt. Natürlich muss einschränkend gesagt werden, dass diese körperliche Schwäche in erster Linie Blanscheflurs Ohnmacht vor dem überwältigenden Gefühl der grenzenlosen Liebe zu Riwalin verdeutlichen soll. Trotzdem bringt diese Akzentsetzung in Verbindung mit der „Betonung ihrer Jugend und Unschuld auf diese Weise […] bedauerlicherweise mehr als einen Anflug [von] Naivität in das Porträt der Königsschwester“175, so Maier-Eroms.
4.2. Blanscheflurs Funktion im epischen Gefüge
Die Geschehnisse um Riwalin und Blanscheflur sind der eigentlichen Tristanhandlung vorgeschaltet und können als dessen Herkunfts- und Jugendgeschichte eingeordnet werden. Sosna gliedert diese Vorgeschichte in drei Abschnitte, nämlich die Vorstellung zentraler Themen und Motive anhand der Elterngeschichte sowie die Problematik um Tristans Status, anschließend die Schwerpunktsetzung auf Tristan selbst und schließlich sein Weg zum Hof Markes.176
4.2.1. Die Elterngeschichte als Vorstellung zentraler Themen und Motive
Der Inhalt lässt sich knapp zusammenfassen: Riwalin und Blanscheflur lernen sich auf dem Hoffest von Blanscheflurs Bruder, König Marke, kennen und beginnen eine heimliche Liebesbeziehung. Nach Riwalins Verwundung im Kampf besucht Blanscheflur den Geliebten heimlich am Krankenbett und empfängt dort ein Kind von ihm. Beide flüchten nach Parmenien, um der Schande am Hof König Markes zu entgehen. Bevor Riwalin dort in den Kampf gegen Morgan zieht, heiratet er Blanscheflur rechtmäßig. Als Blanscheflur erfährt, dass Riwalin im Kampf umgekommen ist, bringt sie nach tagelangen Qualen Tristan zur Welt und stirbt bei dessen Geburt.
Die zentralen Themen, welche laut Sosna mithilfe dieser vorgeschalteten Eltern- und Jugendgeschichte eingeführt werden, sind zum einen das Motiv der heimlichen Liebesbeziehung und Tristans ritterliche Abkunft und zum anderen die Problematik, die sich aus beidem für Tristans späteren Status ergibt.177 Vor der sozialen Anerkennung und Legitimation der Ehe sterben nämlich beide Elternteile und die eheliche Situation wird nicht geklärt. Tristan wird als illegitimes Kind geboren. Durch seinen zusätzlichen Waisenstatus nimmt er schnell eine gesellschaftliche Außenseiterposition ein. Schausten bringt die Problematik auf den Punkt: „Tristan ist das Produkt der Folge der Liebe-Leid-Existenz seiner Eltern“.178
Während Floraete in Bezug auf Tristan die Rolle der Sozialisierung und Erziehung übernimmt, fungiert Blanscheflur als seine biologische Mutter, die ihm durch die heimliche Liebesnacht mit Riwalin, dessen Leben schenkt.
Neben dieser groben inhaltlichen Zusammenfassung der Vorgeschichte sollen die verschiedenen Stationen von Blanscheflurs Handeln und deren Auswirkungen auf den epischen Verlauf noch genauer betrachtet werden.
4.2.2. Das Rätsel um Blanscheflurs Gefühle
Anfänglich verbirgt Blanscheflur ihre Gefühle für Riwalin, den tapferen und vorzüglichen Ritter, der auf dem Hoffest das weibliche Geschlecht mit seiner Kampfeskunst beeindruckt. Riwalin hat Blanscheflur - unabhängig von den lobenden Worten der übrigen Hofdamen - dennoch schnell eingenommen und ihr Herz erobert, doch Blanscheflur verhält sich kühl: […] daz sîdoch als ô sch ô ne und als ô tougenlîchen hal, daz s î’ z in allen vor verstal179 . Noch behält Blanscheflur die Kontrolle über ihre Gefühle, die ihr letztendlich durch ihre Tiefe und Stärke den Tod bringen werden, was auch im späteren Verlauf bei Isolde der Fall sein wird.
Durch Zufall wendet sich Riwalin schließlich Blanscheflur zu, um sein Grußwort an sie zu richten. Sie entgegnet diesen Gruß zunächst höflich mit einem Segensspruch, stellt Riwalin daraufhin jedoch zur Rede: An einem vriunde mîn, dem besten den ich ie gewan, dâhabet ir mich beswaeret an.180 Ab diesem Zeitpunkt nimmt Blanscheflur ihr Liebesglück selbst in die Hand, denn an diesem Rätsel, das sie Riwalin stellt, werden ihr Wille zu selbstgesteuertem Handeln und ihr diplomatisches Kalkül offensichtlich.
Maier-Eroms vervollständigt die Funktion dieser verdeckten Form der Signalisierung der Gefühle: „Derartige Verschleierungstechniken sind nicht nur harmloses erotisch angehauchtes Geplänkel, sondern fungieren auch als notwendiger Schutz für weibliche Personen, deren Ehre viel stärker von ihrer Makellosigkeit abhängt als die des Mannes.“181 Blanscheflurs Rätsel ist demnach nicht nur ein Mittel um Riwalin aus der Reserve zu locken, sondern dient auch zum Schutz ihres gesellschaftlichen Ansehens, auf das sie stets bedacht ist. Denn nicht einem Freund hat Riwalin Leid zugefügt, sondern ihrem eigenen Herzen, so die Bedeutung für den zunächst „dunklen Sinn [Blanscheflurs] Worte“182.
Dieser Wortinhalt bleibt für Riwalin zunächst uneinsichtlich, was seine Sehnsuchtsqualen im weiteren Verlauf der Handlung noch verstärken wird. Hier begegnet dem Leser das erste Beispiel einer aufrichtigen und emotionalen Liebe, das ihm später auch bei Tristan und Isolde noch begegnen wird. Nicht vergessen werden darf, dass auch Isolde zu einem Wortspiel greift, um Tristan ihre Liebe zu gestehen.
4.2.3. Die Verwirrung der Verliebten und ihre Annäherung
Weiterhin hält Blanscheflur ihr Gefühle bedeckt: durch diese geschiht enhazze ich iuch ze sêre niht; ine minne iuch ouch niht umbe daz.183 Trotzdem hegen die beiden an dieser Stelle erstmals zärtliche Gedanken füreinander: d ô alêrste huob ez sich mit gedanken under in.184 Obwohl zunächst noch keiner weiß, was der andere fühlt, bauen die beiden eine tiefe emotionale Verbindung auf: […] der künec, die süeze künigin, die teilten wol gelîche ich herzen künicrîche: daz ir wart Riwalîne, dâwider wart ir daz sîne.185
Obwohl auch Blanscheflur tiefe smerzen über die Ungewissheit seiner Gefühle verspürt, richtet Gottfried sein Augenmerk hier vor allem auf die Drangsal Riwalins. Im Leimrutengleichnis186 vergleicht er die Liebe mit einem klebrigen Ast, die den Vogel, der davonfliegen möchte, fesselt, zurückhält und ihn bei jedem Fluchtversuch noch mehr an sich bindet. Dieses Gleichnis wirft ein negatives Bild auf das Geschlecht der Frauen, deren Wirkung auf Männer hier mit Gefahr, Gefangenschaft und Unbezwingbarkeit korreliert ist. Außerdem fungiert es als Vorausdeutung auf Tristan und Isolde.
Riwalin erscheint als Blanscheflurs Spielball und aufgrund seiner völligen Unwissenheit über ihre Gefühle Blanscheflurs Willen unterworfen. Seine Gedanken befinden sich in einer ungewissen habe: tr ô st truog in an und zwîvel abe.187 Dem komplementären Wortpaar tr ô st und zwîvel werden hier die Gefühlsqualitäten minne und haz188 zugeordnet, welche sich in der Person des Protagonisten im kriec189 befinden.190 Als Riwalin die rehte minne bewusst wird, verändert sich sein Leben von Grund auf: sîn leben begunde swachen: von rehtem herzen lachen, des er dâvor was wol gewon, dâz ô ch er sich mit alle von.191
Blanscheflurs Entwicklung verläuft parallel zu der ihres Geliebten, was davon zeugt, dass auch sie nicht die Überhand über diu gewaltaerinne Minne192 behalten kann: ez hât mich gâr verkêret an muote und an dem lîbe193. Ihre naive und kindliche Seite offenbarend wägt Blanscheflur sogar ab, ob es sich bei Riwalin um einen Zauberer handelt, der mit seinen magischen Kräften der Frauenwelt Schaden zufügt. In diesem Fall würde sie seinen Tod Riwalins, bevor noch mehr Frauen durch ihn Unglück erleiden. Schließlich sieht sie ein, dass sie selbst verantwortlich für ihre Lage ist: daz wizze got, deist allermeist mîn selbes herzen volleist194.
Nachdem sie Riwalin von seiner Schuld freigesprochen hat, analysiert Blanscheflur die Ursachen ihrer emotionalen Ergriffenheit, nämlich das rühmende Lob der Fähigkeiten Riwalins durch die übrigen Hofdamen sowie seine äußerlichen Vorzüge. Gleichzeitig bedenkt sie die negativen Folgen ihrer Verliebtheit: Er wil und will joch al ze vil, des er niht wellen solte, ob er bedenken wollte, waz vuoge waere undêre195. Wieder liegt Blanscheflurs größte Angst in der Unfähigkeit der Aufrechterhaltung von höfischem Anstand, Ehrbarkeit und dem magetlîchen namen196 . Trotzdem wird ihr klar, dass der Schmerz, den sie ertragen hat, nur als Liebe ausgelegt werden kann197: so dunket mich, diu herzeclage, die ich durch in ze herzen trage, diun si niwan von minnen.
„Was sich für Blanscheflur ereignet hat, ist die Entwicklung von der ersten Bezauberung bis zur Erkenntnis der Liebe“198, so Deist. Beide öffnen sich nun gegenseitig für ihre Gefühle. „Blanscheflur entscheidet sich bewusst-wählend für Riwalin. Der Nachdruck liegt zweifellos auf dem Moment des Wählenkönnens, sogar des Wählerischseinkönnens,“199 so die Autorin über Blanscheflurs Annäherung an Riwalin, welche sie aus eigenem Antrieb unternimmt.
4.2.4. Blanscheflurs Griff zur List
Da Riwalin nach dem Hoffest die Nachricht erhält, Marke im Kampf gegen einen Widersacher beistehen zu müssen, können die Verliebten ihr Glück nur für kurze Zeit genießen. Die Kämpfe enden für Riwalin tragisch: Halbtot und unter lautem Klagen wird er nach Tintajol zurückgebracht. Das ganze Land reagiert mit Trauer und Fassungslosigkeit, doch Blanscheflurs Verzweiflung übertrifft die Gefühle der übrigen Hofdamen: Aus Schmerz und Trauer martert sich Blanscheflur selbst, was Gottfried nicht negativ bewertet:
die sluc si t û sent stunde dar
und niuwan dar, da ’ z ir dâwar; da engegen, dâdaz herze lac,
dar tete diu schoene manegen sclac .200
Blanscheflur verspürt eine tiefe Sehnsucht nach dem Tod. Nur durch ihr irdisches Ende kann der unerträgliche Schmerz, den sie durch die Liebe zu Riwalin erfahren muss, beendet werden.
Doch Blanscheflur will nicht sterben, ohne ihren Liebsten noch ein letztes Mal gesehen zu haben. Dieser Gedanke lässt neue Hoffnung in ihr aufkeimen, sodass sie einen Plan schmiedet und ihre alte Erzieherin, die ihren Vorteil in Blanscheflurs Gunst sieht und sich sogleich mit jener verbündet, um Hilfe bittet. In Gestalt einer Ärztin wird Blanscheflur daraufhin in Riwalins Krankenzimmer gelassen. An dieser Szene wird deutlich, dass Blanscheflur, genau
wie Isolde, ihr Schicksal nicht akzeptiert, sondern es selbst in die Hand nimmt, um Riwalin, von dem ihr ganzes Leben abhängt, noch einmal nahe sein zu können. Dies führt in letzter Instanz dazu, dass Tristan geboren wird.
Deist weist darauf hin, dass dem überwältigenden Gefühl der Liebe nicht einmal die Schranken der Gesellschaft standhalten können.
Für Blanscheflur gelten die Bindungen der Gesellschaft und sie weißvon deren Wichtigkeit. [ … ] Diese Regeln verlieren aber ihre Stelle im höfischen Wertsystem vor dem Gesetz der Liebe, das nun zur obersten Autorität aufrückt, selbst wenn diese neue Wertkategorie mit höfischer Norm und Sitte in Konflikt gerät. 201
Blanscheflurs Vorgehen, um ihre Liebe ausleben zu können und die Emotionen, die sie dabei verspürt, entsprechen Isoldes listenreichem Verhalten im weiteren Verlauf des Epos.
[...]
1 Buschinger/Spiewok (Hrsg.), 1991, S. 7.
2 Vgl. Ebd. S. 9.
3 Ebd. S. 10.
4 Mälzer, 1991, S. 2.
5 Ebd. S. 2.
6 Vgl. Opitz, 1991, S. 25.
7 Mälzer, 1991, S. 7.
8 Ebd. S. 9.
9 Ebd. S. 10
10 Vgl. Ebd. S. 11.
11 Vgl. Bußmann, 1991, S. 119.
12 Vgl. Mälzer, 1991, S. 14.
13 Vgl. Bußmann, 1991, S. 120.
14 Vgl. Mälzer, 1991, S. 18.
15 Vgl. Ebd. S. 19.
16 Vgl. Ebd. S. 15; Vgl. Schlösser, 1960, S. 265f.
17 Bußmann, 1991, S. 122.
18 Ebd.
19 Mälzer, 1991, S. 16.
20 Ebd. S. 17.
21 Ebd. S. 18.
22 Vgl. Wiegand, 1972, S. 26.
23 Mälzer, 1991, S. 25.
24 Ebd. S. 26,
25 Ebd.
26 Ebd. S. 22ff.
27 Ebd. S. 23.
28 Ebd. S. 21.
29 Gottfried von Straßburg: Tristan. Band 1. 2006
11. V. 7979ff..
30 V. 8020.
31 V. 8019ff.
32 Mälzer, 1991, S. 29.
33 Vgl. Ennen, 1984, S. 230.
34 Vgl. Ebd. S. 27-30.
35 Vgl. Ebd. S. 31.
36 Ebd. S. 31.
37 V. 4588ff, V.7935ff, 8601ff.)
38 Vgl. Tomasek, 1985, S. 117.
39 Ebd. S. 117.
40 V. 12183ff.
41 V. 16923ff.
42 V. 17858ff.
43 Vgl. Tomasek, 1985, S. 119.
44 Vgl. Ebd. f.
45 Tomasek, 1985, S. 121f.
46 Ebd. S. 136.
47 Pfeiffer, 1970, S. 194.
48 Vgl. Tomasek, 1985, S. 140.
49 V. 12185.
50 V. 12214.
51 V. 12190.
52 V. 12214.
53 V. 12196ff.
54 Tomasek, 1985, S. 139.
55 V. 12225.
56 Pfeiffer, 1970, S. 195.
57 V. 12236.
58 Pfeiffer, 1970, S. 197.
59 Tomasek, 1985, S. 142.
60 V. 12269.
61 Pfeiffer, 1970, S. 195,
62 V. 12280f.
63 V. 12336.
64 V. 12341.
65 Tomasek, 1985, S. 148.
66 V. 12345.
67 Pfeiffer, 1970, S. 196.
68 V. 12348ff.
69 Spiess, 1957, S. 131f.
70 Tomasek, 1985, S. 148.
71 Pfeiffer, 1970, S. 198.
72 V. 12345ff.
73 V. 16850ff.
74 Tomasek, 1985, S. 155.
75 Ebd.
76 Vers 16815ff.
77 Tomasek, 1985, S. 158.
78 Ebd. S. 153.
79 V. 16932.
80 V. 16937.
81 V. 16939.
82 V. 16964.
83 V. 16970.
84 V. 16984.
85 Tomasek, 1985, S. 153.
86 Vgl. Ebd. S. 164.
87 Vgl. Ebd.
88 V. 15040.
89 V. 17042.
90 V. 12336.
91 V. 16995ff.
92 Pfeiffer, 1970, S. 200.
93 V. 17064ff.
94 Vgl. Tomasek, 1985, S. 175.
95 V. 17065ff.
96 Vgl. Tomasek, 1985, S. 175.
97 V. 16875ff.
98 Tomasek, 1985, S. 176.
99 Ebd.
100 Tomasek, 1985, S. 177.
101 Vgl. Ebd. S. 156.
102 Mikasch-Köthner, 1991, S. 111.
103 V. 17609ff.
104 V. 17723ff.
105 Mikasch-Köthner, 1991, S. 111.
106 V. 17511.
107 Tomasek, 1985, S. 179.
108 Mikasch-Köthner, 1991, S. 108.
109 Ebd. S. 105.
110 Vgl. Pfeiffer, 1970, S. 201/204.
111 Mälzer, 1991, S. 217.
112 Mikasch-Köthner, 1991, S. 112.
113 Pfeiffer, 1970, S. 206.
114 V. 18009.
115 Mikasch-Köthner, 1991. S. 117.
116 V. 17864ff.
117 Mälzer, 1991, S. 218.
118 V. 17928.
119 Pfeiffer, 1970, S. 207.
120 V. 17933.
121 V. 17960.
122 Vgl. Hahn, 1964, S. 188f.
123 Mälzer, 1991, S. 219.
124 Tomasek, 1985, S. 190.
125 V. 17969.
126 V. 17970.
127 V. 17975.
128 Tomasek, 1985, S. 191.
129 V. 17987.
130 Vgl. Tomasek, 1985, S. 192.
131 V. 17986ff.
132 V. 18009.
133 V. Vers 18008.
134 V. 17992ff.
135 Tomasek, 1985, S. 193.
136 V. 18025ff.
137 V. 17987.
138 V. 18063.
139 V. 18051.
140 Vgl. Tomasek, 1985, S. 229ff.
141 Mälzer, 1991, S. 221.
142 Ebd.
143 Ebd. S. 222.
144 V. 18045ff.
145 Tomasek, 1985, S. 194.
146 Ebd.
147 Mälzer, 1991, S. 223.
148 V. 18104ff.
149 Tomasek, 1985, S. 197.
150 Vgl. Mälzer, 1991, S. 224.
151 Ebd. S. 225.
152 Pfeiffer, 1970, S. 212.
153 Ebd.
154 Pfeiffer, 1970, S. 213.
155 V. 627f.
156 Deist, 1982, S. 68.
157 Schausten, 1999, S. 150.
158 V. 633.
159 Maier-Eroms, 2007, S. 207.
160 V. 636ff.
161 Deist, 1982, S. 68.
162 Vgl. Franz, 1927, S. 73.
163 V. 641f.
164 Vgl. Schausten, 1999 , S. 150.
165 Deist, 1982, S. 96.
166 V. 641.
167 Deist, 1982, S. 96.
168 Kraschewski-Stolz, 1983, S. 236.
169 V. 1751.
170 Vgl. Kraschweski-Stolz, 1983, S. 236.
171 V. 695ff.
172 Hollandt, 1966, S. 21.
173 Vgl. Nauen, 1947. S. 59.
174 V. 1302.
175 Maier-Eroms, 2007, S. 207.
176 Sosna, 2003, S. 220.
177 Vgl. Ebd.
178 Schausten, 1999, S. 154.
179 V.730ff.
180 V. 754f.
181 Maier-Eroms, 2007, S. 207.
182 Hollandt, 1966, S. 17.
183 V. 770f.
184 V. 790f.
185 V. 814ff.
186 V. 841 - 880.
187 V. 892.
188 V. 883.
189 V. 884.
190 Vgl. Schausten, 1966, S. 152.
191 V. 950ff.
192 V. 960.
193 V. 994.
194 V. 1021.
195 V. 1047.
196 V. 1060.
197 Vgl. Deist 1982, S. 73.
198 Vgl. Ebd.
199 Ebd. S. 76.
200 V. 1175ff.
201 Deist, 1982, S. 82.
- Arbeit zitieren
- Barbara Bauer (Autor:in), 2012, Die weiblichen Nebenfiguren in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205278
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