In der Abhandlung werden die wichtigsten sozialpolitischen Reformvorgänge in der Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende genauer betrachtet, verknüpft mit dem Versuch, deren Resultate in Verbindung mit der Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit darzustellen und zu bewerten. Es erfolgt eine Bestandsaufnahme (politisch beeinflusster) armutsrelevanter Entwicklungen in Deutschland im 21. Jahrhundert aus soziologischer Perspektive. Die der Arbeit zugrundeliegenden Fragen sind, welche konkreten Änderungen mit den Reformen insbes. im neuen Jahrtausend erfolgt sind, welche armutsrelevanten Auswirkungen sich faktisch feststellen lassen und inwieweit der tiefgreifend reformierte Sozialstaat den sozialstaatlichen Grundsätzen gerecht wird.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Sozialpolitische Entwicklungen in Deutschland
1.1 Verlauf der wohlfahrtsstaatlichen Neuausrichtung in der BRD nach der Abkehr vom Keynesianismus bis zum Jahr
1.2 Paradigmatische Wende und sozialpolitische Umgestaltungsprozesse in der Bundesrepublik ab 1998
2. Veränderungen der sozialen Lage in der BRD
2.1 Die Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende
2.2 Zusammenhänge zwischen politischen Maßnahmen und Armutsentwicklungen in Deutschland ab dem Regierungswechsel 1998
3. Sozialstaatlichkeit im Umbruch?
3.1 Die gegenwärtige Veränderung von Wohlfahrtsstaatlichkeit und ihre Zusammenhänge und Hintergründe in der Bundesrepublik
3.2 Armuts-, Ungleichheits- und Gerechtigkeitsaspekte im deutschen Sozialstaat der Gegenwart
Schlussbetrachtung
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anmerkungen
Der Einfachheit halber benutze ich für allgemeine Personenbezeichnungen in dieser Arbeit meist das generische Maskulinum, beziehe mich dabei aber selbstverständlich gleichermaßen auf Frauen und Männer.
Sämtliche verwendete Internetquellen wurden im September 2012 auf ihr Bestehen überprüft; es wurden generell nur Onlinequellen ausgewählt, deren Verfügbarkeit über längere Zeit gewährleistet sein sollte.
Für die Betreuung der vorliegenden Thesis bedanke ich mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Markus Gangl und Frau Dr. Katharina Maul.
Einleitung
Allerspätestens seit den 80er Jahren werden die westlichen / westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten zunehmend durch verschiedene Entwicklungstendenzen – sowohl ökonomische, als auch soziale und politische – unter Druck gesetzt. Dazu zählen insbesondere die Globalisierung der Märkte und die Internationalisierung des Finanzkapitals sowie deren Einfluss auf Standort- und Wettbewerbsbedingungen, ein länderübergreifendes, „dramatisches Wachstum der Staatsverschuldung“[1], hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, die unter anderem auf eine fortschreitende „Entkoppelung von Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung“[2] zurückzuführen ist, Prozesse demografischen Wandels und neue Migrationsbewegungen. (Die BRD hat zudem noch die Folgen der Wiedervereinigung zu bewältigen.) Dementsprechend ist in zahlreichen europäischen Ländern eine parallele Abkehr von wohlfahrtsstaatlichen Politiken festzustellen, z.B. in Form einer regressiven Verschiebung der Steuerbelastung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden.[3] Der in der Nachkriegszeit allerseits von Regierungen betriebene Keynesianismus ist aufgrund fallender Profitraten etwa ab den 80ern allmählich durch den sog. Neoliberalismus abgelöst worden, einer Ideologie, die vor allem darauf setzt, die Funktionen des Staates als Sozialstaat zu schwächen.[4]
Experten vertreten derzeit mehrheitlich die Meinung, der Wohlfahrtsstaat als solcher sei irreversibel, unterliege aber naturgemäß einem ständigen Wandel – prinzipiell müsse er sich wandeln, um Kontinuität gewährleisten zu können. Dennoch fand in den westlichen Industrienationen gerade in den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Umbau im Sinne einer Anpassung an die Bedingungen der Ökonomie statt.
Im Verlauf der 90er vollzog sich zudem ein weitläufiger wohlfahrtsstaatlicher Paradigmenwechsel vom „Welfare State zum Workfare State“[5] oder „vom fürsorgenden zum aktivierenden Staat“[6], der zu einer charakterlichen Neuausrichtung des Sozialstaats bzw. zu einem qualitativen Umbruch von Wohlfahrtsstaatlichkeit in den beteiligten Ländern führte. Neben einer Verschiebung im Verhältnis von Rechten und Pflichten wie auch im „Rollenverständnis“ zwischen Staat und Staatsbürgern ist das ideologische Leitbild sämtlicher Formen des aktivierenden Wohlfahrtsstaats durch eine „moralische Dominanz der Arbeitspflicht“[7] geprägt. Beinahe ebenso charakteristisch ist die Reduzierung sozialstaatlicher Transfers für Hilfebedürftige sowie eine verstärkte Koppelung von Leistungen an Verpflichtungen und Gegenleistungen.
In der BRD kann die Zeit des Jahrtausendwechsels als grober Orientierungspunkt für eine neue Epoche sozialstaatlichen Umbaus und sozialstaatlichen Denkens betrachtet werden; besonders durch die rapide steigende Arbeitslosigkeit und wachsende Standortkonkurrenz sah man damals einen erhöhten Reformbedarf. Über den gewählten Weg scheint in den etablierten Parteien auf lange Sicht weitgehend Einigkeit zu bestehen (oder bestehen zu müssen) – Regierungswechsel 2005 und 2009 brachten zumindest keinen programmatischen Richtungswechsel hervor.
Im Zuge verschiedener politischer Umgestaltungsprozesse innerhalb der letzten zwölf Jahre hat sich unter anderem die Bedeutung privater Versorgung in den Bereichen Altersvorsorge und Gesundheit weiter erhöht; das Niveau der staatlichen Absicherung wird in Deutschland bereits seit längerem sukzessive verringert. Außerdem wurde das Renteneintrittsalter angehoben und die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu Lasten der Arbeitnehmer aufgegeben. Im Rahmen der sog. Hartz-Reformen wurden regierungsseitig erhebliche Absenkungen von sozialstaatlichen Transferleistungen erwirkt, im Ganzen die größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949[8], verbunden mit einer drastischen Verschärfung von Zumutbarkeitsklauseln und Leistungsberechtigungsvoraussetzungen. Desweiteren führten Verschiebungen bei der Steuerbelastung (wie diverse Steuersenkungen im Sinne der Privatwirtschaft und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte) zu einer wesentlich regressiveren Ausrichtung des deutschen Steuersystems.
Seit dem Jahrtausendwechsel haben auch die Themen Armut und soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik an politischem Stellenwert gewonnen. 2001 konstatierte der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass ab den 80er Jahren die „soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen“ habe.[9] Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht wurde 2005 ebenfalls ein Anstieg sozialer Ungleichheit eingeräumt; als Hauptursache sahen die Verfasser eine Schwäche der Weltwirtschaft und die daraus resultierende „mangelnde wirtschaftliche Dynamik im Inland“[10] – also ein konjunkturelles, nicht ein strukturelles Problem. In einer 2006 veröffentlichten Untersuchung zur Reformbereitschaft der Bundesbürger gaben 59% von 3021 Befragten an, sich gegenwärtig finanziell einschränken zu müssen.[11] Diese vielbeachtete Studie der Friedrich Ebert Stiftung führte auch den Begriff des Prekariats ein – er bezeichnet aktuell den Anteil der Deutschen, der durch unsichere Arbeits- und Lebensperspektiven, schlechte Finanzlage, sozialen Ausschluss und oft fatalistische Grundeinstellung geprägt ist.
In der vorliegenden Arbeit sollen die wichtigsten sozialpolitischen Reformvorgänge in der Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende genauer betrachtet werden, verknüpft mit dem Versuch, deren Resultate in Verbindung mit der Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit darzustellen und zu bewerten. Ziel ist eine Bestandsaufnahme (politisch beeinflusster) armutsrelevanter Entwicklungen in Deutschland im 21. Jahrhundert aus soziologischer Perspektive. Dabei ist zu beachten, dass bis dato nicht alle zentralen sozioökonomische Prozesse politisch bearbeitet worden sind bzw. in manchen Bereichen eine sog. Politik des Aussitzens betrieben wurde. Ein gewichtiges Beispiel ist hier die Heterogenisierung der Arbeitsbedingungen.[12] Aus diesem Grund muss eine umfassende analytische Betrachtung auch Problemfelder berücksichtigen, in denen der Staat bislang auf Interventionen und Regulierungsmaßnahmen verzichtet hat.
Die Abhandlung gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel geht es darum, welche substanziellen politischen, rechtlichen und strukturellen Veränderungen mit den jüngsten wohlfahrtsstaatlichen Reformprozessen in der BRD erfolgt sind. Was wurde wann konkret geändert und was wurde mit den Änderungen offiziell beabsichtigt? Um einen Kontext herzustellen, wird im Vorfeld zunächst die Sozialpolitik der 80er und 90er Jahre („Ära Kohl“) umrissen. Kapitel zwei widmet sich der Frage, welche Auswirkungen dieser Änderungen sich im Hinblick auf die Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit faktisch feststellen lassen. Welche – positiven wie negativen – Entwicklungen in der Bundesrepublik stehen eindeutig bzw. nachweislich in Zusammenhang mit den geänderten sozialen Gegebenheiten, was lässt sich theoretisch plausibel darauf zurückführen? In Kapitel drei wird neben der näheren Erläuterung des wohlfahrtsstaatlichen Umbruchs an sich eine soziologische Bewertung der deutschen Sozialpolitik seit dem definitiven Vollzug des Paradigmenwechsels im Zeitraum der Jahrtausendwende vorgenommen; als Maßstab dient dabei das sozialstaatliche Ziel der Schaffung von sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit. Inwieweit gelingt es dem reformierten Sozialstaat tatsächlich, die gesellschaftlichen Probleme und negativen sozialen Folgen heutiger kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Ökonomie abzumildern? Bewertungsgegenstand soll auch sein, ob mit der vollzogenen Politik ein merklicher Fortschritt für die Ärmsten im Land erreicht wurde und / oder in Zukunft zu erwarten ist. Die nachstehende Schlussbetrachtung beinhaltet zum einen eine Zusammenfassung von Ergebnissen dieser Arbeit, zum anderen einige abschließende Gedanken zur Perspektive der Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik.
1. Sozialpolitische Entwicklungen in Deutschland
1.1 Verlauf der wohlfahrtsstaatlichen Neuausrichtung in der BRD nach der Abkehr vom Keynesianismus bis zum Jahr 1998
Kaum ein anderer Politikbereich unterliegt solchermaßen Veränderungen wie die Sozialpolitik. Ein eindeutiger Beginn des wohlfahrtsstaatlichen Wandels unserer Zeit ist in Deutschland bereits in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der 80er Jahre festzustellen. Mit dem Amtsantritt des Bundeskanzlers Helmut Kohl verfestigte sich ab 1982 der sog. Neoliberalismus, der bereits einige Jahre zuvor begonnen hatte, die keynesianisch gesteuerte Politik in der Bundesrepublik abzulösen. Der Neoliberalismus drücke, so der Sozialwissenschaftler Rainer Roth (1999), „nicht nur agressive Erfordernisse eines krisenhaften Stadiums der Kapitalverwertung aus, sondern auch eine Kräfteverschiebung zwischen Staat und Konzernen“.[13] Je mehr die ökonomische Macht von Banken und internationalen Unternehmen wachse, desto stärker werde ihre Position gegenüber der Politik und desto mehr verlangten sie, selbst zu bestimmen.[14]
Eine Folge war die Drosselung staatlicher Ausgaben, jedoch „weitgehend nur im Bereich der soziaalstaatlichen Leistungen. [...] Die Liste der zwischen 1982 und 1990 verfügten Streichungen und Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen ist lang.“[15] Neben zahlreichen Kürzungen bei verschiedenen Versicherungs- und Transferleistungen setzte die Regierung Kohl auch auf Verschärfungen von Anspruchsvoraussetzungen, Sanktionen (u.a. schrittweise Erhöhung der Sperrzeiten) und der Zumutbarkeitsregelung für Erwerbslose, um ihr erklärtes Primärziel, das Überwinden der bestehenden Wirtschaftskrise, zu verwirklichen. Paradigmatisch ummantelt wurden die Maßnahmen mit einer Art Leistungsideologie – es müsse mehr produziert / gearbeitet und weniger konsumiert werden. Die Leistungsbereitschaft des Einzelnen sei gesunken. Außerdem dürfe es keine Ausbeutung der Fleißigen durch die Faulen geben.[16] Gleichermaßen wurde um Verständnis geworben: Die Sicherung des sozialen Netzes verlange nach Opfern, einen anderen erfolgversprechenden Weg gäbe es nicht.[17] Auch in den Massenmedien der Bundesrepublik wurde die Auffassung, „dass eine 'Wende zum Weniger' nötig sei […] wie ein Naturgesetz behandelt, dem zu widersprechen hieß, sich lächerlich zu machen“.[18]
Faktisch liefern international vergleichende Analysen bis heute keine greifbaren Belege dafür, dass ein verhältnismäßig hohes Sozialleistungsniveau die Wirtschaftskraft eines Landes beeinträchtigt. Eher wirkt ein umfassendes Maß an sozialer Gleichheit und Sicherheit als produktiver Faktor auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft zurück[19], was an späterer Stelle (Kap. 3) genauer erläutert werden soll.
Im Folgenden eine kleine Auswahl sozialpolitischer Änderungen im Überblick: Im Jahr 1982 verdoppelte man die Vorversicherungszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld von sechs auf zwölf Monate sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und senkte die Höhe des Unterhaltsgeldes in der Arbeitsförderung. Der Beitragssatz zur Sozialversicherung stieg von 3% auf 4% an. Zudem billigte das Bundeskabinett eine Verdoppelung der Sperrzeit sowie neue Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose – letztere waren in der zweiten Hälfte der 70er Jahre schon zweimal verschärft worden. 1984 wurden Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und das sog. Schlechtwettergeld, eine Vorgängerleistung des heutigen Saison-Kurzarbeitergelds, von 68% auf 63%[20] des vorangegangenen Nettoeinkommens verringert und die Höhe der Arbeitslosenhilfe von 58% auf 56% des früheren Nettoentgelts abgesenkt. Daneben kam es sowohl zu einer weiteren Kürzung des Unterhaltsgeldes als auch zu einer erneuten Verlängerung der Sperrzeit, die nun um weitere vier Wochen auf zwölf Wochen ausgeweitet wurde. Ab 1986 wurden bei der Bedürftigkeitsprüfung für Arbeitslosenhilfe auch Einkommen und Vermögen von Partnern in sog. eheähnlichen Gemeinschaften (der Begriff umfasste damals noch beinahe jede Form des Zusammenwohnens und -wirtschaftens zwischen Mann und Frau) einbezogen. Im Bereich der Rentenversicherung beschloss man 1983 neben einer Erhöhung des Beitragssatzes unter anderem, dass rentenähnliche Zusatzeinkünfte künftig der Krankenversicherungspflicht unterliegen sollen. 1984 folgte eine Reduzierung der Rentenanpassung durch Überarbeitung der allgemeinen Bemessungsgrundlage, 1989 wurde die Bruttolohnorientierung der Renten aufgegeben und die Lebensarbeitszeit für Frauen erhöht. Bei der Krankenversicherung wurden verschiedene Leistungsansprüche der Versicherten vermindert, während Zuzahlungen und Eigenbeteiligungsanteile umfassend erhöht wurden. Im Sozialhilfebereich erfolgte vor allem eine sukzessive Herabsetzung der Regelsatzanpassung. Entgegen dem Trend des sozialstaatlichen Rückbaus verbesserte sich die finanzielle Förderung von Familien. In der Familienpolitik ermöglichte 1986 die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsjahr, eine strukturelle Neuerung, dass erstmals auch Väter Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen konnten.
Sozialpolitisch bedeutend war auch das sog. Beschäftigungs-Förderungsgesetz aus dem Jahr 1985, das den Kündigungsschutz einschränkte, befristete Arbeitsverträge erleichterte und diverse Abweichungen vom Prinzip des Normalarbeitsverhältnisses begünstigte. Die Regierung senkte darüber hinaus die staatlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik; vielmehr wurde versucht, das Überangebot an Arbeitskräften durch Frühverrentung und Altersteilzeit abzubauen.[21] Eine auf sozialer Ebene ebenfalls relevante wirtschaftspolitische Entscheidung war im Sommer 1983 die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 13% auf 14%.
Das zwischen 1982 und 1990 anhaltend positive Wirtschaftswachstum bei jedoch stark ansteigenden Arbeitslosenzahlen führte in Verbindung mit der betriebenen Sozialpolitik dazu, dass trotz wachsendem gesellschaftlichen Wohlstand eine relative Verarmung bei einem zunehmenden Teil der Bevölkerung eintrat – eine Entwicklung, auf die hier nur am Rande hingewiesen werden soll. Sozialpolitische Probleme blieben in hohem Maße ungelöst. Überdies sank die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik von 30,1% im Jahr 1982 auf 26,5% im Jahr 1990.[22] Das Armutsrisiko stieg in erster Linie für jene Personengruppen, die nicht oder nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen konnten. Zusammenhänge zwischen der gerade 1982 und 1983 äußerst entschieden praktizierten „Politik der Leistungseinschränkungen im Sozialbereich“ und den steigenden Armutszahlen wurden regierungsseitig später geleugnet.[23]
1990 wurde die wirtschaftliche und politische Wiedervereinigung Deutschlands herbeigeführt (die bislang beschriebenen Vorgänge bezogen sich ausschließlich auf den westlichen Teil der heutigen BRD). Der ehemaligen DDR wurde dabei die strukturelle Ordnung der Bundesrepublik auferlegt, verbunden mit dem Versprechen „es wird niemandem schlechter gehen als zuvor“.[24] Bei der Bundestagswahl Ende 1990 konnten Helmut Kohl und seine schwarz-gelbe Regierung mit dieser und anderen zumindest sehr optimistisch gedachten Zusicherungen die gesamtdeutschen Wähler für sich gewinnen; 1994 wurde die Regierung Kohl noch einmal knapp im Amt bestätigt. In der Zeit von 1990 bis 1998 wuchsen die deutschen Staatsschulden von rund 1049 Milliarden DM auf über 2000 Milliarden DM an.[25] Eine Folge der exorbitanten finanziellen Belastung – insbes. auch der Sozialversicherungen – durch den Prozess der Wiedervereinigung waren stark steigende Sozialbeiträge. Die Finanzierung der deutschen Einheit war ebenso ausschlaggebend dafür, dass die Sozialleistungsquote Mitte der 90er Jahre wieder bei etwa 30% lag. Roth (1999) weist darauf hin, dass die wachsende Staatsverschuldung eine wachsende Kontrolle von Ausgaben und Haushaltspolitik durch die Gläubiger hervorgerufen und den Einfluss der Staatsbürokratie geschwächt hat.[26]
Eine Zusammenfassung der wichtigsten sozialpolitischen Reformen zwischen 1990 und 1998 zeigt, dass sich gewisse Trends der vorausgegangenen acht Jahre fortsetzten. Bemerkenswert ist auch, dass einerseits mit der neuen Pflegeversicherung das Sozialversicherungssystem erweitert wurde und damit die Ausgaben erhöht wurden, während andererseits (auf der Einnahmenseite) eine zum Teil staatlich unterstützte Flucht aus der Sozialversicherung dessen Finanzierungsprobleme verstärkte. Unter Experten ist seit jeher die Annahme verbreitet, dass eine „Finanzierung über Sozialabgaben in einem Zielkonflikt zur Beschäftigungsentwicklung“[27] stünde.
Der nachfolgende Abriss sozialpolitischer Ereignisse in Deutschland ab 1990 basiert im Wesentlichen auf Darstellungen von Jochem (1999) und Mohr (2009) und lässt eine Reihe von Geschehnissen aus Relevanzgründen unberücksichtigt.
Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kam es 1993 mit dem ersten und zweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms zu einer zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosenhilfe und zur erneuten Absenkung der Leistungssätze (beim Arbeitslosengeld von 63% auf 60%, bei der Arbeitslosenhilfe von 56% auf 53% des letzten Nettoeinkommens). Das im Jahr 1996 verabschiedete Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz führte zusammen mit der Arbeitslosenhilfereform und dem 1997 beschlossenen Arbeitsförderungsreformgesetz unter anderem zu Einschränkungen bei den Rehabillitationsleistungen, verschärfter Überprüfung von Arbeitsunfähigkeit, nochmaliger Erleichterung befristeter Arbeitsverträge, einer weiteren Reduzierung des Kündigungsschutzes, Senkung der Bemessungsgrundlage bei der Arbeitslosenhilfe sowie zu einer noch rigoroseren Ausgestaltung der Zumutbarkeitsbestimmungen. Ebenfalls erwähnenswert ist die Tatsache, dass nun Bemühungsnachweise seitens der Arbeitslosen zu erbringen waren. Insgesamt „wurden die Auflagen für Arbeitslose, sich um Arbeit zu bemühen, Arbeitsangebote oder Arbeitsgelegenheiten anzunehmen, sowohl in der Arbeitslosenversicherung, als auch in der Sozialhilfe ausgeweitet.“[28] Zudem wurden staatliche Lohnkostenzuschüsse an Privatunternehmen ausgebaut, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erweitert und private Arbeitsvermittler zugelassen.
Bei den Reformen im Gesundheitswesen ist besonders die Einführung der Pflegeversicherung 1994 / 1995 von Bedeutung. Desweiteren erfolgten abermals Leistungskürzungen bei den Krankenkassen bei gleichzeitiger Erhöhung von Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen. Im Bereich der Sozialhilfe wurde die Anpassung der Sozialhilfesätze an steigende Lebenshaltungskosten mehrfach ausgesetzt. Das Wohngeld wurde ab 1990 überhaupt nicht mehr an die Entwicklung von Mieten und Einkommen angeglichen (bis zur Wohngeldreform 2001). Auf dem Feld der Familienpolitik legte die Regierung dagegen 1992 einen ab 1996 gültigen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren fest. Außerdem erhöhte man das Kindergeld und hob die Steuerfreibeträge für erwerbstätige bzw. entsprechende Einkünfte beziehende Eltern an. Bei der Rentenversicherung wurden im Rahmen des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes 1996 das Fremdrentenrecht eingeschränkt, die Anrechnungszeiten verkürzt und das Renteneintrittsalter für Frauen angehoben. Im Dezember 1997 folgte das sog. Rentenreformgesetz '99; es beinhaltete eine Senkung des allgemeinen Rentenniveaus, die Einführung des Demografiefaktors[29], Heraufsetzung der Altersgrenzen ab dem Jahr 2000 und ferner eine stärkere Würdigung von Kindererziehungsphasen. Mit dem Gesetz sollte auch die Zahl der vorzeitigen Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente verringert werden.[30]
Einige Beschlüsse in der Wirtschaftspolitik führten ebenso wie die Mehrzahl der sozialpolitischen Maßnahmen zu einer höheren finanziellen Belastung der Bürger: Mit Beginn des Jahres 1993 wurde z.B. die Mehrwertsteuer von 14% auf 15% erhöht, zum 01.04.1998 trat eine Mehrwertsteuererhöhung von 15% auf 16% ein.
Im Großen und Ganzen ist festzuhalten, dass die von CDU, CSU und FDP betriebene Sozialpolitik zwischen 1982 und 1998 von drei primären Zielsetzungen bestimmt wurde. Erstens der Kostensenkung im sozialen Sektor, vor allem im Gesundheitswesen, zweitens einer Anpassung der Rentenversicherung an demografische Entwicklungen und drittens der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Als Legitimationsgrundlage diente das Wohl der Allgemeinheit. „Die gefundenen Lösungen bedeuteten fast immer Leistungseinschränkungen, höhere Selbstbeteiligungen, verschärfte Integrationsmechanismen.“[31] Verschiedene politische Schritte bewirkten eine im Zeitverlauf stetige Zunahme des sozialen Zwangs zu arbeiten. Das wiederholte Absenken sozialer Transfer- und Versicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit begünstigte dazu tendenziell sinkende Löhne; über das Mindestsicherungssystem der Sozialhilfe wurde in Deutschland ab den 80er Jahren zweifellos staatliche Lohnpolitik vollzogen, wie z.B. auch Boeckh / Huster / Benz (2011) betonen: „Die Mindestsicherungspolitik wurde so zu einem der zentralen Instrumente angebotsorientierter, wirtschaftsliberal ausgerichteter staatlicher Lohnpolitik, die durch Schnitte bei anderen Sozialleistungen flankiert wurde.“[32]
Zu beachten sind allerdings auch einige Leistungsverbesserungen, wie beispielsweise die Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer für ältere Erwerbslose, Erleichterungen für berufstätige Eltern, eine Erweiterung der Kinder und Jugendhilfe und die Einführung einer staatlichen Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung. Trotz umfangreicher Einschnitte und Änderungen blieben die Grundlagen des Systems an sich in den Jahren der konservativ-liberalen Koalition erhalten.
Die Politik der Regierung Kohl war insgesamt eindeutig auf Umverteilung von „unten nach oben“ gerichtet. Hier nicht dargestellte Steuerreformen sorgten dafür, dass sich die Einkommensverteilung zulasten von Arbeitnehmern verschob, während Unternehmer und Vermögende begünstigt und so die Privatvermögen von Superreichen erhöht wurden.[33] Unbestreitbar fand eine zunehmende Subventionierung privatwirtschaftlicher Gewinne statt; von 1980 bis 1998 fiel der Anteil an Gewinnsteuern am Gesamtsteueraufkommen von 22,7% auf 11,7%.[34]
Abschließend ein knappes Resümee zur deutschen Sozialpolitik 1973 – 1998 aus dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2001. Dort wurde ein kontinuierlicher Anstieg relativer Einkommensarmut seit Beginn der 80er Jahre ermittelt. Daneben stellten die Verfasser im Untersuchungszeitraum eine generelle Zunahme der Ungleichheit von Erwerbseinkommen in der Bundesrepublik fest.[35]
„Die Sozialgesetzgebung hat auf veränderte gesamtgesellschaftliche Bedingungen mit vielen Reformen reagiert, die auch zu Einschnitten führten. Hinsichtlich der steuerfinanzierten Transfers mit Mindestsicherungscharakter haben fehlende bzw. nicht regelgebundene, lediglich diskretionär erfolgte Anpassungen teilweise zu sinkenden Realwerten geführt. Zumindest beim Familienleistungsausgleich ist [...] eine wesentliche Verbesserung eingetreten. ...“[36]
1.2 Paradigmatische Wende und sozialpolitische Umgestaltungsprozesse in der Bundesrepublik ab 1998
„Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“[37]
Im Jahr 1998 kam es zum Regierungswechsel in der BRD; die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl wurde nach 16 Jahren von einer rot-grünen Koalition abgelöst, neuer Bundeskanzler wurde der damalige SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder. SPD und Grüne versprachen in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Armut zu legen; insbes. die Kinderarmut müsse reduziert werden.[38] Die Forderung nach einer Verbesserung der Lebenssituation für von Armutsentwicklungen betroffene Bevölkerungsschichten war in den Jahren zuvor Kern sozialdemokratischer wie grüner Oppositionspolitik gewesen.[39] Nach dem Machtwechsel verschoben sich Prioritäten und Positionen allerdings zweifellos in Richtung des neoliberalen Mainstreams. Der im vorausgegangenen Kapitel dargestellte Prozess des wohlfahrtsstaatlichen Wandels erfuhr unter der Regierung Schröder eine drastische Beschleunigung und mündete schließlich in einer strukturellen „Neuorganisation des Leistungssystems und des institutionellen Settings“[40]. Mit dieser erfolgte auch eine radikale Uminterpretation des Sozialstaatsgedankens, die der Soziologe Stephan Lessenich (2008) zugespitzt als „Neuerfindung des Sozialen“ bezeichnete. Hintergrund sei die gewollte Herstellung eines veränderten, an die Gegebenheiten des flexiblen Kapitalismus angepassten Beziehungsverhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft.[41]
Als Akt der ideologischen Grundsteinlegung für den Vollzug des sozialstaatlichen Paradigmenwechsels in Deutschland kann die Veröffentlichung des sog. Schröder-Blair-Papiers gesehen werden, das 1999 als europabezogenes Konzept zur Modernisierung sozialdemokratischer Politik vorgelegt wurde. In weiten Teilen wird hier nicht mehr die Gemeinschaft als Verantwortungsträger für das Wohl des Einzelnen betrachtet, sondern der Einzelne gleichermaßen für sich selbst wie für das Wohlergehen der Gesellschaft verantwortlich gemacht. „Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des Einzelnen [...] kann nicht an den Staat delegiert werden.“[42] In der Konsequenz „wurde die Frage nach Gerechtigkeit und Teilhabe in wachsenden Teilbereichen von Verteilungsfragen abgekoppelt und der Weg für eine stärkere Individualisierung von Risiken freigemacht.“[43] Auch die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft stellte einen essenziellen Punkt des Schröder-Blair-Papiers dar. Der Fokus lag dabei unter anderem auf der Frage, inwieweit der Staat Marktversagen korrigieren solle; denn ein Zuviel an Sicherheit, so die Argumentation der beiden Autoren, mindere die Entfaltung von Werten wie Unternehmergeist, Eigenverantwortung, Leistungswillen und Erfolgsstreben. „Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft [...] wurde über-, die Bedeutung des Einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaffung von Wohlstand unterschätzt.“[44] Ebenso habe man die Schwächen der Märkte bislang überbewertet und ihren Stärken zu wenig Beachtung geschenkt.[45]
Das neoliberale Denkschema, das bereits die Politik der schwarz-gelben Vorgängerregierung geprägt hatte, wurde damit im Prinzip in erweiterter Form zur Leitschnur der neuen rot-grünen Bundesregierung, deren Maßnahmen in nicht wenigen Bereichen letztlich als eine konsequente Fortführung der Politik der 80er und 90er Jahre betrachtet werden können – auch wenn man zunächst versuchte, sich inhaltlich abzugrenzen. Perspektivisch neu war die politische Zentrierung auf den Gedanken von Arbeit um jeden Preis. Dass die Formulierung um jeden Preis sehr nahe an der Wirklichkeit liegt, verdeutlicht folgende Aussage des Politikwissenschaftlers Josef Schmid (2010): „Nicht mehr die Höhe der Sozialausgaben, sondern das erreichte Niveau an Beschäftigung ist Messlatte dieser neuen Politik.“[46] Demzufolge konzentrierte sich die Regierung Schröder „weniger auf die Sicherung von Einkommen, als nunmehr auf die Herstellung neuer Formen von Arbeitsbereitschaft, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsgelegenheit“[47].
Die nach dem Regierungswechsel vollzogene wohlfahrtsstaatliche Umgestaltung wird nun anhand einer Zusammenfassung rot-grüner Politik im Rückblick skizziert. Eine allumfassende Darlegung ist mir dabei nicht möglich.
Im Jahr 1999 begann man mit der etappenweisen Umsetzung einer ökologisch ausgerichteten Steuerreform, um Umweltverschmutzung und umweltschädlichem Verhalten steuerrechtlich entgegenzuwirken. Neben dem Ziel, Anreize zum Energiesparen zu setzen, hatte die Bundesregierung vorgesehen, „den Faktor Arbeit durch eine Senkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung mit dem erzielten Steuermehraufkommen zu entlasten und dadurch zu besseren Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt beizutragen“[48]. Infolge wiederholter Anhebung indirekter Steuern (z.B. der neu eingeführten Stromsteuer) erhöhten sich die Preise für Kraftstoffe und Strom besonders für die Bürger; die Wirtschaft wurde durch zahlreiche Sonderregelungen begünstigt. Wirft man einen Blick auf die Steuerpolitik im Ganzen, die bei der Bekämpfung von Armut durchaus auch eine Rolle spielt, so muss man zu dem Ergebnis kommen, dass insbes. hier „die Politik der Kohl-Regierung von Schröder fortgesetzt“[49] worden ist. Allein Unternehmen und Reiche konnten, wie bereits in den Jahren zuvor, von umfangreichen Steuersenkungen profitieren (vgl. Abb. 1). Vor allem Einkommensteuer, Körperschaftssteuer und Gewerbesteuer wurden stark abgesenkt und / oder so modifiziert, dass sich für die betreffenden Kreise immer gewaltigere Einsparmöglichkeiten eröffneten.
Im Bereich der Alterssicherungs- und Rentenpolitik wurden zwar anfänglich von der Regierung Kohl vorgenommene Gesetzesänderungen rückgängig gemacht, dies waren jedoch Reformen von temporärer Geltung, die letztlich keinen Bestand hatten. Schon bald schlug man wieder den Weg der Vorgängerregierung ein. Unter Rot-Grün wandelte sich die bisherige Rentenpolitik zunehmend zu einer Politik der Alterssicherung, bei der die Sicherung von Lebensstandards schließlich weniger durch die gesetzliche Rentenversicherung vorgesehen war, als vielmehr durch betriebliche und private Vorsorgemaßnahmen. Eine Stabilisierung der Beitragssätze zur GRV gelang der Regierung Schröder nur auf Kosten des Leistungsniveaus. Mit der Rentenreform 2001 wurde die sog. Riester-Rente eingeführt, eine freiwillige Form privater Altersvorsorge, staatlich unterstützt durch Zulagen und Steuervergünstigungen. Ferner sollte die 2003 in Kraft getretene und 2005 ins SGB XII integrierte Grundsicherung im Alter und bei dauerhaft voller Erwerbsminderung dazu führen, versteckte Altersarmut zu verringern.[50] Der Zweck des Gesetzes bestand darin, den betroffenen Menschen eine eigenständige soziale Leistung zu gewähren, um deren grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherzustellen, wenn eigene Mittel nicht ausreichten. Das 2004 verabschiedete „Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung“ führte zu einer Modifikation der Rentenanpassungsformel; durch die Einführung eines „Nachhaltigkeitsfaktors“ wurde die Höhe zukünftiger Renten ab 2005 nicht mehr allein von der Lohnentwicklung abgeleitet, sondern auch vom Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern abhängig gemacht. Boeckh / Huster / Benz (2011) pointieren den Effekt: „Damit ist de facto eine Absenkung des zukünftigen Rentenniveaus festgeschrieben worden.“[51] Zusätzlich sieht das 2005 verwirklichte Alterseinkünftegesetz zukünftig eine höhere Besteuerung von Renten und Altersbezügen vor.
Im Gesundheitswesen wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 die sog. Praxisgebühr eingeführt und der Kurs der Rückverlagerung von Kosten auf die Privathaushalte fortgesetzt. So bezahlten die Krankenkassen beispielsweise keine Brillen und Sehhilfen mehr. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz gab Rot-Grün das Paritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung auf; der größere Anteil der Aufwendungen wird seitdem von den Arbeitnehmern getragen.
2001 wurde das Wohngeld den steigenden Mieten angepasst, gleichzeitig aber der Kreis der Bezugsberechtigten verkleinert. Die Familienpolitik blieb weiterhin progressiv ausgerichtet. Entscheidungen in der Familienpolitik umfassten z.B. eine Erhöhung des Kindergeldes, Ansätze zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine rechtliche Stärkung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften.
Die gravierendsten sozialstaatsbezogenen Neuregelungen nach dem Jahrtausendwechsel erfolgten indessen unbestritten über die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik. Bereits Ende 2001 wurden mit dem Job-AQTIV-Gesetz viele Rechtsnormen geändert. Schmid (2010) bezeichnet das Gesetz als „markant“; es fand hiermit eine eindeutige Umorientierung von aktiver zu aktivierender Arbeitsmarktpolitik statt.[52] Unter anderem setzte man die Zumutbarkeitskriterien zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit weiter herab, baute die Einsatzmöglichkeiten für Leiharbeit aus und führte eine Meldepflicht bei vorauszusehender Arbeitslosigkeit ein. Daneben intensivierte und erweiterte man sowohl die Arbeitsvermittlung, als auch die Förderung diverser Aktivierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Das Job-AQTIV-Gesetz zielte vor allem darauf ab, Arbeitslose insgesamt schneller und effektiver als bisher in Arbeit zu bringen. Es wurde jedoch noch von den politischen Entwicklungen überholt, bevor sämtliche institutionelle Änderungen sich in der Praxis etablieren konnten.[53] Eine auf Dauer angelegte, strukturelle, rechtliche und instrumentelle Reorganisation der deutschen Arbeitsmarktpolitik brachten dagegen die „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz-Gesetze) mit sich, die 2002 im Rahmen des Reformkonzeptes „Agenda 2010“ konstituiert wurden und ab 2003 nach und nach in Kraft traten. Sie beinhalteten eine beträchtliche Umstrukturierung der Arbeitsverwaltung, weitreichende Modifikationen im Leistungssystem sowie eine äußerst strikte Neuausrichtung arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Die neue Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung unterstellte als erwerbsfähig geltenden Hilfebedürftigen grundsätzlich eine gewisse Inaktivität bzw. einen Mangel an Eigenverantwortung[54] und gab den bis dato existierenden Konsens auf, „dass Erwerbslosigkeit als gesellschaftliches und nicht als individuelles Problem zu behandeln sei“.[55] Aufgrund ihrer Bedeutsamkeit für diese Abhandlung werden die Hartz-Gesetze im folgenden Absatz etwas detaillierter dargelegt.
Ab 2003 wurden die Gesetzespakete Hartz I und Hartz II umgesetzt. Damit vollzog sich ein deutlicher Abbau rechtlicher Regelungen zur Begrenzung von Leiharbeit, während gleichzeitig die Arbeitnehmerüberlassung durch neue „Personal-Service-Agenturen“ (subventionierte Leiharbeitsunternehmen) bundesweit als Instrument zur Vermittlung von Arbeitslosen in Beschäftigung eingerichtet wurde. Ein in vielerlei Hinsicht fragwürdiger Ansatz, der sich schon bald als „nicht erfolgreich“ erwies.[56] Außerdem änderte man die Bedingungen für geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse, um „den Arbeitsmarkt für geringfügig Beschäftigte flexibler zu machen und so neue Arbeitsplätze in diesem Segment entstehen zu lassen“.[57] Eine Kann-Leistung stellten „Bildungsgutscheine“ für die Kosten beruflicher Weiterqualifizierung dar, mit denen berufliche Weiterbildung verschiedener Art gefördert werden sollte. Daneben sollte Arbeitslosen durch einen neuen Existenzgründungszuschuss der Einstieg in die Selbstständigkeit als Einzelunternehmer erleichtert werden (Konzept der „Ich-AG“).
Symbolisch untermauerte man den Wandlungsprozess mittels einer Umbenennung der Bundesanstalt für Arbeit in Bundesagentur für Arbeit (BA); 2004 wurde die Behörde mit dem dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nach dem Prinzip des New Public Management, einer an privatwirtschaftlichen Methoden orientierten Konzeption, umstrukturiert. Ein zentraler Punkt war dabei die Erweiterung der Arbeitsvermittlung über private Dienstleister, welche die Effizienz der BA bei der Vermittlung steigern sollten.[58] Zudem durfte die Behörde „zur Erhebung und Verarbeitung von Sozialdaten nun privatwirtschaftliche Unternehmen heranziehen“.[59] 2004 trat parallel zu den Harz-Gesetzen das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt in Kraft. Neben einer Reform des Kündigungsrechts wurde hiermit die Anspruchsdauer für Arbeitslosengeld auf grundsätzlich zwölf Monate beschränkt. Für ältere Arbeitnehmer, die in der Regel weitaus länger anspruchsberechtigt waren, sah das Gesetz ab Februar 2006 eine Kürzung des Arbeitslosengeldbezugs auf maximal 18 Monate vor (von vormals bis zu 32). Hartz IV legte zum Jahresbeginn 2005 Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen. Mit der sog. Grundsicherung für Arbeitssuchende entstand eine einheitliche Mindestsicherung für Langzeitarbeitslose, die etwa auf Sozialhilfeniveau angesiedelt war und nur noch bei nachgewiesener Bedürftigkeit beansprucht werden konnte. Eine weitere Veränderung im Leistungsrecht betraf das „Zumutbarkeits- und Sanktionsregime“[60], dem Bezieher der Grundsicherung unterworfen wurden. Mit Hartz IV erhöhte sich der Zwang zur Arbeitsaufnahme nicht bloß durch niedrige Sozialleistungen in Verbindung mit strikter Bedürftigkeitsprüfung, auch der direkte Druck auf Leistungsbezieher stieg. Zum einen legte das SGB II fest, dass erwerbsfähigen Hilfebedürftigen jetzt prinzipiell jede Arbeit zumutbar sei, zum anderen wurden die behördlichen Sanktionsmöglichkeiten erheblich ausgeweitet. Darüber hinaus re-integrierte man einen Großteil der bisherigen Sozialhilfeempfänger in die aktive Vermittlung durch die BA.[61]
Teile des Hartz-Pakets waren und sind bis heute (auch) verfassungsrechtlich umstritten; mehrere maßgebliche Urteile des Bundesverfassungsgerichts bestätigten in den Folgejahren massive Verstöße gegen das Grundgesetz.[62] Gut ein Jahr nach Umsetzung der letzten Hartz-Gesetze ergab eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass die gesellschaftlichen Veränderungen 63% der Deutschen Angst machten, als dominante gesellschaftliche Grundstimmung wurde von den Sozialforschern „Verunsicherung“ festgestellt.[63]
[...]
[1] Roth, Rainer (1999): Das Kartenhaus. Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland; Frankfurt a. M. (2. Aufl.), S. 8
[2] Schmid, Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich – Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme; Wiesbaden (3. Aufl.), S. 58
[3] Vgl. ebd., S. 59 (Schaubild 2-1)
[4] Vgl. z.B. Roth 1999, S. 381 ff.
[5] Wolf, Michael (2007): „Sozialpolitik und Soziale Arbeit jenseits des Wohlfahrtsstaats: Leben auf eigenes Risiko“ In: UTOPIE kreativ 206, S. 1153-1170
[6] Dingeldey, Irene (2011): „Der aktivierende Wohlfahrtsstaat – Governance der Arbeitsmarktpolitik in Dänemark, Großbritannien und Deutschland; Frankfurt a. M., S. 19
[7] Petzold, Stefan (2009): Der Arbeitsbegriff hinter den Hartz IV-Gesetzen und Auswirkungen auf Sozialstaat und Grundrechte; Hamburg, S. 77
[8] Vgl. Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus; Bielefeld, S. 89
[9] Deutscher Bundestag (2001): Lebenslagen in Deutschland – Erster Armuts- und Reichtumsbericht; Berlin, Bonn (Drucksache 14/5990), S. 10
[10] Deutscher Bundestag (2005): Lebenslagen in Deutschland – Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht; Berlin, Köln (Drucksache 15/5015), S. 12
[11] Müller-Hilmer, Rita (2006): Gesellschaft im Reformprozess. Umfrage im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung; TNS Infratest Sozialforschung; München, Bielefeld, Berlin, Hamburg, Wetzlar
[12] Vgl. Schmid 2010, S. 60
[13] Roth 1999, S. 386
[14] Ebd.
[15] Stapelfeldt, Gerhard (1998): Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland: Kritik der ökonomischen Rationalität. Zweiter Band; Hamburg, S. 366 f.
[16] Vgl. Kohl, Helmut (1982): Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 13. Oktober 1982 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn: 'Koalition der Mitte: Für eine Politik der Erneuerung' In: Bulletin Nr. 93, 14. Oktober 1982; Bonn, S. 853-868
http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/kohl_RE_1982/kohl_RE_1982.pdf
[17] Vgl. ebd.
[18] Butterwegge, Christoph (2012): Armut in einem reichen Land – Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird; Frankfurt, New York (3. Aufl.), S. 218
[19] Vgl. Garfinkel, Irvin / Rainwater, Lee / Smeeding, Timothy (2010): Wealth and Welfare States. Is America a Laggard or Leader? Oxford, New York, S. 35 f.; Bäcker et al. 2008, S. 81
[20] Bei diesen und den folgenden Angaben handelt es sich um die Regelsätze für kinderlose Erwachsene.
[21] Der fragmentarische Überblick sozialpolitischer Ereignisse in den 80ern erfolgte u.a. auf Grundlage von Stapelfeldt 1998, S. 367 ff. sowie Mohr, Kathrin (2009): „Von 'Welfare to Workfare'? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik“ In: Bothfeld, Silke / Sesselmeier, Werner / Bogedan, Claudia (Hrsg.): Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III; Wiesbaden, S. 49-60
[22] Vgl. Stapelfeldt 1998, S. 364
[23] Boeckh, Jürgen / Huster, Ernst-Ulrich / Benz, Benjamin (2011): Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung; Wiesbaden (3. Aufl.), S. 114
[24] Helmut Kohl am 1.7.1990, zitiert nach Stapelfeldt 1998, S. 393
[25] Vgl. Boeckh / Huster / Benz 2011, S. 116
[26] Vgl. Roth 1999, S. 386
[27] Jochem, Sven (1999) „Sozialpolitik in der Ära Kohl: Die Politik des Sozialversicherungsstaates“, ZeS-Arbeitspapier Nr. 12/99; Bremen, S. 40
http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2008/441/pdf/AP_12_1999.pdf
[28] Mohr 2009, S. 53
[29] Dieser sollte nach der Jahrtausendwende bei der Berechnung der gesetzlichen Renten einbezogen werden und den steigenden Rentenlaufzeiten durch eine Streckung der Lebensrente entgegenwirken.
[30] Vgl. Jochem 1999, S. 34
[31] Boeckh / Huster / Benz 2011, S. 114
[32] Ebd., S. 115 (kursiv gedruckte Hervorhebungen im Original)
[33] Vgl. Butterwegge 2012, S. 134 f.
[34] Vgl. Roth 1999, S. 428
[35] Deutscher Bundestag (2001): Lebenslagen in Deutschland – Erster Armuts- und Reichtumsbericht; Berlin, Bonn (Drucksache 14/5990), S. 39, 48
[36] Ebd., S. 34
[37] Schröder, Gerhard / Blair, Tony (1999): Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten; London
[38] Butterwegge 2012, S. 168
[39] Vgl. ebd.
[40] Mohr 2009, S. 57
[41] Vgl. Lessenich 2008, S. 89
[42] Schröder / Blair 1999
[43] Boeckh / Huster / Benz 2011, S. 123
[44] Schröder / Blair 1999
[45] Ebd.
[46] Schmid 2010, S. 61
[47] Petzold 2009, S. 58
[48] http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_39840/DE/BMF__Startseite/Service/Glossar/O/001__Oekosteuer-Oekologische_20Steuerreform.html#doc40272bodyText1
[49] Roth 1999, S. 428
[50] Vgl. Boeckh / Huster / Benz 2011, S. 124
[51] Ebd., S. 125
[52] Schmid 2010, S. 143
[53] Vgl. Mohr 2009, S. 54
[54] Vgl. Petzold 2009, S. 53 ff.
[55] Scherschel, Karin / Booth, Melanie (2012): „Aktivierung in die Prekarität: Folgen der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland“ In: Scherschel, Karin / Streckeisen, Peter / Krenn, Manfred (Hrsg.): Neue Prekarität. Die Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik – europäische Länder im Vergleich; Frankfurt a. M., S. 19
[56] Deutscher Bundestag (2006): Bericht 2006 der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt; Berlin (Drucksache 16/3982), S. 11
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/039/1603982.pdf
[57] Oschmiansky, Frank (2010): „Minijobs / geringfügige Beschäftigung“ http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/55335/minijobs
[58] Vgl. Mohr 2009, S. 54 f.
[59] Petzold 2009, S. 55
[60] Mohr 2009, S. 55
[61] Vgl. Schmid 2010, S. 396
[62] Vgl. z.B. BVerfG, 2 BvR 2433/04, 2 BvR 2434/04 vom 20.12.2007 sowie BVerfG, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 vom 9.2.2010
[63] Vgl. Müller-Hilmer 2006, S. 4
- Citar trabajo
- Stefan Petzold (Autor), 2012, Sozialstaatlichkeit im Umbruch?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205050
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