Seit Ende der 1990er Jahre findet mit der Neufassung der Kartell- und Fusionskontrollverordnung eine Neuausrichtung des europäischen Kartellrechts statt (Bundeskartellamt 2007: 1). Die „Prioritätenmitteilung“ der EU-Kommission über die Handhabung des Missbrauchsverbotes für marktbeherrschende Unternehmen (Art. 102 AEUV) aus dem Jahr 2009 bildet dabei die neuste Entwicklungsstufe . Grundlegend für diese Neuausrichtung ist der von EU-Kommission präferierte „more economic approach“ (MEA). Der MEA steht dabei für eine stärker ökonomisch orientierte Kartellrechtsanwendung; die kartellrechtliche Entscheidungsfindung soll primär an ökonomischen Konzepten und empirisch-statistischen Befunden ausgerichtet sein (Schmidt / Voigt 2006: 3f.). Damit verbunden ist die stärkere Orientierung am ökonomischen Kriterium der Effizienz (Bundeskartellamt 2007: 2f.). Die Neuausrichtung der Kartellrechtsanwendung stößt jedoch - gerade im Bereich der Rechtswissenschaft - nicht auf ungeteilte Zustimmung. Besonders die damit verbundene Abwertung des „per-se rule Prinzips“ zu Gunsten des „rule of reason Prinzips“ wird mit der damit oftmals einhergehenden fehlenden Rechtssicherheit und Justiziabilität kritisiert (Schmidt 2007: 8ff.).
Vor dem Hintergrund der ökonomisch basierten Neuausrichtung des EU-Kartellrechts und damit verbundener Rechtseinwände, werden in dieser Arbeit die beiden im Bereich der Marktabgrenzung zentralen Konzepte, das „Bedarfsmarktkonzept“ und der durch die Neuausrichtung verstärkt verwendete quantitativ-ökonomisch orientierte „SSNIP-Test", vorgestellt und eingehend analysiert. Die Analyse des „SSNIP-Tests“ zielt dabei vor allem auf dessen mikroökonomische Funktionsweise, die zentral ist für das Verständnis und die Anwendung dieses Tests.
Bevor mit der eigentlichen Untersuchung der beiden Konzepte begonnen wird, ist es aus didaktischen Gründen sinnvoll, in Kapitel 2 zuerst in das mikroökonomische „Modell der vollkommenen Konkurrenz“ und davon abgeleiteter Denkweisen kurz einzuführen. Im Mittelpunkt von Kapitel 3 stehen dann das „Bedarfsmarktkonzept“ und der „SSNIP-Test“. Kapitel 4 schließt mit einer kurzen Bewertung beider Marktabgrenzungskonzepte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wettbewerbsrecht und Wirtschaftswissenschaft
2.1 Markt und Wettbewerb
2.2 Der relevante Markt und seine Funktion im Kartellrecht
3. Konzepte zur Abgrenzung des relevanten Marktes
3.1 Bedarfsmarktkonzept und Funktionsweise
3.1.1 Konzeptionelle Schwächen
3.1.2 Bewertung
3.2 SSNIP-Test und Funktionsweise
3.2.1 Konzeptionelle Schwächen und Bewertung
3.2.2 Rechtsprobleme ökonomischer Ansätze
4. Resümee
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Seit Ende der 1990er Jahre findet mit der Neufassung der Kartell- und Fusionskontrollverordnung eine Neuausrichtung des europäischen Kartellrechts statt (Bundeskartellamt 2007: 1). Die „Prioritätenmitteilung“ der EU-Kommission über die Handhabung des Missbrauchsverbotes für marktbeherrschende Unternehmen (Art. 102 AEUV) aus dem Jahr 2009 bildet dabei die neuste Entwicklungsstufe[1]. Grundlegend für diese Neuausrichtung ist der von EU-Kommission präferierte „more economic approach“ (MEA). Der MEA steht dabei für eine stärker ökonomisch orientierte Kartellrechtsanwendung; die kartellrechtliche Entscheidungsfindung soll primär an ökonomischen Konzepten und empirisch-statistischen Befunden ausgerichtet sein (Schmidt / Voigt 2006: 3f.). Damit verbunden ist die stärkere Orientierung am ökonomischen Kriterium der Effizienz (Bundeskartellamt 2007: 2f.). Die Neuausrichtung der Kartellrechtsanwendung stößt jedoch - gerade im Bereich der Rechtswissenschaft - nicht auf ungeteilte Zustimmung. Besonders die damit verbundene Abwertung des „per-se rule Prinzips“ zu Gunsten des „rule of reason Prinzips“ wird mit der damit oftmals einhergehenden fehlenden Rechtssicherheit und Justiziabilität kritisiert (Schmidt 2007: 8ff.).
Vor dem Hintergrund der ökonomisch basierten Neuausrichtung des EU-Kartellrechts und damit verbundener Rechtseinwände, werden in dieser Arbeit die beiden im Bereich der Marktabgrenzung zentralen Konzepte, das „Bedarfsmarktkonzept“ und der durch die Neuausrichtung verstärkt verwendete quantitativ-ökonomisch orientierte „SSNIP-Test, vorgestellt und eingehend analysiert. Die Analyse des „SSNIP-Tests“ zielt dabei vor allem auf dessen mikroökonomische Funktionsweise, die zentral ist für das Verständnis und die Anwendung dieses Tests.
Bevor mit der eigentlichen Untersuchung der beiden Konzepte begonnen wird, ist es aus didaktischen Gründen sinnvoll, in Kapitel 2 zuerst in das mikroökonomische „Modell der vollkommenen Konkurrenz“ und davon abgeleiteter Denkweisen kurz einzuführen. Im Mittelpunkt von Kapitel 3 stehen dann das „Bedarfsmarktkonzept“ und der „SSNIP-Test“. Kapitel 4 schließt mit einer kurzen Bewertung beider Marktabgrenzungskonzepte.
2. Wettbewerbsrecht und Wirtschaftswissenschaft
Das Verhältnis der Disziplinen Rechtswissenschaft und Ökonomik ist traditionell schwierig. Ursächlich sind besonders die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Arbeitsmethoden beider Fachgebiete (Behrens 1988: 210ff.). Aus Sicht des Ökonomen beschäftigten sich Rechtswissenschaftler mit Gegenständen und Fragen, die er selbst mit Hilfe der „Ceteris paribus-Regel“ im Datenkranz seiner Modelle ansiedelt und diese damit als gegeben, d.h. als konstant betrachtet (Behrens 1988: 210)[2]. Der Rechtswissenschaftler hingegen kann in der Arbeit des Ökonomen mit abstrakten Modellen keinen wirklichen Beitrag erkennen, der zur Erfassung der Komplexität des Realen - dem das Recht entsprechen muss - dient (Behrens 1988: 222). Zusammenfassend schreibt Rittner dazu: „Die Ökonomen brauchen vielleicht Modelle, wir Juristen haben damit große Schwierigkeiten, weil die sich nämlich zwischen Wirklichkeit und das Recht schieben, nach dem wir zu entscheiden oder das wir zu regeln haben. Solche Modelle führen juristisch mehr in die Irre als dass sie klären“ (Rittner 2005: 18).
Trotz dieser Differenzen gab und gibt es zahlreiche Bestrebungen zur interdisziplinären Zusammenarbeit beider Fachgebiete, die nicht zuletzt durch das traditionelle Interesse an Institutionen von Seiten der „Ordnungsökonomik“ der Freiburger Schule (Behrens 1988: 211ff.), der „Neuen Institutionenökonomik“ und durch das in den USA verbreitete „Law and Economics“ - Forschungsprogramm vorangetrieben wird. Besonders auf dem Gebiet des deutschen und europäischen Wettbewerbsrechtes zeigt sich die Zusammenarbeit der Disziplinen im Speziellen, da zum einen beide Regelungsbereiche vorwiegend auf ordnungstheoretischem Gedankengut basieren und zum anderen die Neuausrichtung des unionsweiten Wettbewerbsrechts auf Grundlage des MEA der „Chicago School“[3] erfolgt (Schwarze 2005: 9ff.).
Da der MEA und die damit einhergehenden Konzepte und Methoden vorwiegend auf dem Gedankengut der neoklassischen Volkswirtschaftslehre basieren, ist es zum besseren Verständnis sinnvoll auf deren Grundmodell der „vollständigen Konkurrenz“ im Folgenden einzugehen.
2.1 Markt und Wettbewerb
Konstitutive Merkmale kapitalistischer Volkswirtschaften sind u.a. Märkte und Wettbewerbsprozesse, die gleichzeitig die zentralen Kategorien ökonomischen Denkens bilden. Die Ökonomik versteht unter einem Markt weniger einen Ort, sondern vielmehr den Tauschprozess selbst, der durch das Aufeinandertreffen von Akteuren, den Anbietern und Nachfragern von Tauschgütern, entsteht (Fritsch et al. 2007: 6). Verbunden mit dem Tauschprozess ist das zweite zentrale Element der Marktwirtschaft: der Wettbewerb bzw. die Konkurrenz. Allgemein ist unter Wettbewerb zu verstehen, dass mehrere Akteure auf Anbieter- oder Nachfragerseite das gleiche Ziel verfolgen ohne dies gleichzeitig erreichen zu können (Olten 1998: 13). Die Konkurrenz um die Zielereichung spiegelt sich nach ökonomischem Verständnis in den Preisen der Tauschgüter wider. Je kleiner beispielsweise das verfügbare Mengenangebot im Verhältnis zur Mengennachfrage ist, desto höher ist dessen Preisniveau (Fritsch et al. 2007: 7). Der Tauschprozess kann folglich nur von denjenigen Nachfragern erfolgreich abgeschlossen werden, deren Zahlungsbereitschaft sich über oder auf dem Marktpreisniveau befindet. Nachfrager mit einer Zahlungsbereitschaft unterhalb dieses Marktpreises können ihr Tauschziel hingegen nicht realisieren. Wettbewerb ist also das Rivalisieren mehrerer Wirtschaftssubjekte um ein bestimmtes Ziel, das aber durch unterschiedliche Ressourcenausstattungen nicht von allen erreichbar ist. In diesem Kontext wird die Anreizfunktion des Wettbewerbes deutlich, d.h. die Ressourcenausstattung z.B. durch Mehrleistung, Innovation oder Imitation zu verbessern, um damit Vorteile gegenüber Konkurrenten zu generieren (Olten 1998: 25). Neben der Anreizfunktion ist die Kontrollfunktion eine weitere zentrale Funktion des Wettbewerbes[4]. Kontrolle erzeugt ein funktionierender Wettbewerb indem das Bestehen im Wettbewerb die gegenseitige Orientierung am Handeln der Wettbewerber erfordert und dadurch ein Angleichungsprozess erfolgt, der hilft einseitige Marktmacht zu verhindern (Olten 1998: 23).
Um das Marktgeschehen und damit den Wettbewerbsprozess eingehender analysieren zu können, verwendet die Volkswirtschaftslehre das „Modell der vollständigen Konkurrenz“, dessen Funktionsweise in Abbildung 1 auf Basis eines Preis-Mengendiagramms veranschaulicht ist. Grundlegend für das Modellverständnis sind eine Reihe von Modellprämissen, von denen besonders fünf zentral sind (vgl. Fritsch et al. 2007: 27f.; Olten 1998: 45f.): (1.) Ein Markt umfasst unendlich viele Marktteilnehmer auf beiden Seiten (Polypol), so dass der Marktpreis als gegeben gilt und nicht zu beeinflussen ist von Seiten einzelner Marktakteure. (2.) Es werden auf dem zu betrachtenden Markt nur komplett gleichartige Güter gehandelt (Homogenität der Güter). (3.) Es gibt keinerlei persönliche, örtliche oder zeitliche Präferenzen, die das Verhalten der Marktteilnehmer beeinflussen; allein vollständige Rationalität leitet das Handeln. (4.) Alle Marktteilnehmer sind vollständig über alle Marktparameter wie Produkteigenschaften, Anbieter und Konkurrenten gleich informiert, d.h. kostenverursachende Informationsasymmetrien sind ausgeschlossen. (5.) Es bestehen keinerlei Marktzutritts- oder Marktaustrittsschranken für Anbieter und Nachfrager.
Abbildung 1:Modell der vollständigen Konkurrenz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das in Abbildung 1 dargestellte Preis-Mengendiagramm beinhaltet die beiden Dimensionen Preis (abgetragen auf der Ordinate) und Gütermenge (abgetragen auf der Abszisse). Die Güternachfrage und das Güterangebot sind jeweils durch die lineare Nachfragekurve D[5] und die lineare Angebotskurve S[6] dargestellt, deren Verlauf vom Preis determiniert ist und folglich fällt (Güternachfrage) bzw. steigt (Güterangebot). Die Angebotskurve repräsentiert die gewinnmaximalen Grenzkosten der Produktion (Fritsch et al. 2007: 48)[7]. Die Nachfragekurve repräsentiert die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften der Konsumenten für das angebotene Produkt. Im vorliegenden Modell sind beispielsweise vier Konsumenten (x1, x2, x3, x4) bereit mehr als den gegebenen Marktpreis p5 zu bezahlen. Das angebotene Produkt stiftet für sie einen höheren Nutzen, als der Marktpreis impliziert. Konsument x5 will bzw. kann hingegen nur den Marktpreis p5 bezahlen. Alle weiteren potentiellen Interessenten auf der Nachfragekurve haben eine Zahlungsbereitschaft unterhalb des Marktpreises und verzichten damit auf das Tauschgeschäft.
Insgesamt kann im Modell der Anbieter fünf Produkteinheiten zum Marktpreis p5 verkaufen. Der Schnittpunkt von Nachfrage- und Angebotskurve in Punkt MG veranschaulicht dieses Ergebnis. Ökonomisch repräsentiert der Schnittpunkt das Marktgleichgewicht bei dem der Gleichgewichtspreis p5 den Markt vollständig räumt, so dass, wenn z.B. der Marktpreis p4 wäre, ineffiziente Ungleichgewichte zwischen zu hohem Angebot und zu niedriger Nachfrage nicht vorliegen[8]. Zusammenfassend gilt, dass im Marktgleichgewicht das Tauschvolumen maximal ist, d.h. die Absatzmenge ist dort am größten (Fritsch et al. 2007: 47).
Ein weiterer positiver Effekt im Marktgleichgewicht ist das damit einhergehende Nutzenmaximum auf Seiten der Konsumenten und das Gewinnmaximum auf Seiten der Anbieter. Das Nutzenmaximum resultiert aus dem Kauf der jeweils individuellen nutzenmaximalen Gütermenge; das Gewinnmaximum wird erzielt, weil die gewinnmaximale Menge abgesetzt werden konnte (Olten 1998: 47). Darüber hinaus steht den vier Konsumenten x1, x2, x3 und x4 ihre jeweils über dem Marktpreis liegende individuelle Zahlungsbereitschaft - die diesen nach Kaufabschluss weiterhin zur Verfügung steht und aggregiert die ökonomische Konsumentenrente (KR) ergibt - weiterhin für Konsum- oder Sparzwecke zur Verfügung (Olten 1998: 47)[9]. Auch dem Anbieter, der im Modell bei p5 einen höheren Absatzpreis (Marktpreis) erzielt als zur gewinnmaximalen Produktion eigentlich nötig, erhält dadurch einen zusätzlichen Gewinn, der ökonomisch als Produzentenrente (PR) bezeichnet wird und für potentielle Neuinvestitionen zusätzlich zur Verfügung steht (Olten 1998: 47)[10]. Werden KR und PR addiert, errechnet sich daraus die „Soziale Wohlfahrt“, ein ökonomisches Maß, das dazu dient Strukturen eines Marktes auf Effizienz zu prüfen.
Exemplarisch soll nun gelten, dass sich der Gleichgewichtspreis nicht am Markt durch freien Wettbewerb bildet, sondern dass dieser am Markt durch einen Anbieter - sei es durch Absprachen mit Marktkonkurrenten oder durch Missbrauch seiner starken Marktstellung - einseitig festgesetzt wird. Beispielsweise fixiert dieser Anbieter mit Kenntnis des Nachfrageverhaltens den für ihn gewinnmaximalen Preis bei p4 und schöpft damit die über dem Gleichgewichtspreis liegende Zahlungsbereitschaft der Nachfrager x1, x2, x3 und x4 teilweise bis vollständig ab. Nachfrager x5 tätigt den Kauf bei diesem Preisniveau hingegen nicht mehr; seine Zahlungsbereitschaft befindet sich unterhalb von p4. Im Ergebnis kann der Anbieter im Modell nicht mehr fünf, sondern lediglich noch vier Einheiten absetzen. Das ökonomische Ergebnis: im Vergleich zum Marktgleichgeweicht eine ineffiziente Allokation der vorhandenen Ausgangsressourcen. Nachvollziehbar wird diese Bewertung bei Betrachtung der Veränderungen im Bereich von KR und PR. Die einseitige Preisfixierung über dem Gleichgewichtspreis hat neben der Absatzreduktion das Abschöpfen der vorhandenen Zahlungsbereitschaft der Nachfrager zur Folge. Die Umverteilung bestehender KR zu Gunsten des Anbieters in Form höherer PR ist die logische Folge[11]. Dieser Umstand alleine wäre rein ökonomisch kaum bedenklich, wenn nicht das Aussetzen des Preismechanismuses neben der Umverteilung auch einen gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverlust („dead weight loss“) zur Konsequenz hätte. Dieser resultiert aus der mit der Preisfixierung verbundenen allokativen Ineffizienz vorhandener Marktressourcen, d.h. das Marktpotential kann durch die Preisfixierung nicht optimal genutzt werden, es wäre eine Verbesserung für mindestens einen Tauschpartner möglich gewesen. In Abbildung 1 kommt der Wohlfahrtsverlust in Form des Dreiecks A/B/MG zum Ausdruck.
Das Modellbeispiel verdeutlicht die Ineffizienzen, die volkswirtschaftlich zu erwarten sind, sobald Wettbewerbsprozesse im Markt durch bestimmte Handlungsweisen behindert oder ganz außer Kraft gesetzt werden. Um derartig verursachte Marktergebnisse zu minimieren, bedarf es folglich bestimmter Institutionen und Organe, die helfen pareto-optimale Tauschergebnisse sicherzustellen. Im Folgenden wird daher auf die entsprechenden Rechtsnormen, Organe und Anwendung des Kartellrechts eingegangen.
2.2 Der relevante Markt und seine Funktion im Kartellrecht
Zentrale Funktion des Kartellrechts ist die Sicherstellung wettbewerblicher Prozesse auf Güter- und Dienstleistungsmärkten. Sowohl das deutsche als auch das europäische Kartellrecht basieren auf drei Säulen: Der Kartellbekämpfung (Kartellverbot), der Missbrauchsaufsicht (Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung) und der Fusionskontrolle (Verbot marktbeherrschender Unternehmenszusammenschlüsse).
In Deutschland sind die entsprechenden Normen im „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ (GWB) institutionalisiert, das am 1. Januar 1958 inkrafttrat und inzwischen in der 7. Novelle aus dem Jahr 2005 vorliegt[12]. Auf Unionsebene finden sich die entsprechenden Normen (außer der „EG-Fusionskontrollverordnung“) im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) , der Bestandteil des Lissabonvertrages aus dem Jahr 2007 ist[13]. Im Mittelpunkt des EU-Kartellrechts steht neben der Sicherstellung wettbewerblicher Marktstrukturen vor allem die damit verbundene Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes (vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV iVm Art. 26 AEUV). Zudem erfordert die Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts den zwischenstaatlichen Bezug (vgl. z.B. Art. 101 Abs. 1 AEUV).
Um wettbewerbswidrige Handlungsweisen von Marktakteuren zu identifizieren, benötigen die zuständigen staatlichen Organe - Bundeskartellamt und/oder EU-Kommission - Kenntnisse über die Wettbewerbssituation in demjenigen Markt in dem der unter Verdacht stehende Produkt- oder Dienstleistungsanbieter agiert. Zu prüfen ist, ob ein Marktverhalten vorliegt, dass die Wettbewerbskräfte - denen Unternehmen im Rahmen ihrer Preiskalkulation im Wettbewerbsfall gegenüberstehen - in ihrer Wirkung beschränkt oder blockiert (Kommission 1997: 5, Rn. 2). Folgende Wettbewerbskräfte sind dabei zentral: Die Nachfragesubstituierbarkeit und die Angebotssubstituierbarkeit (Kommission 1997: 6, Rn. 13). Bei Vorliegen von Nachfragesubstituierbarkeit, d.h. der Möglichkeit der Nachfrager auf Substitutionsgüter auszuweichen, verhindert das Konkurrenzangebot die willkürliche Festlegung von Verkaufsbedingungen wie z.B. Verkaufspreis oder Produktqualität (Kommission 1997: 7, Rn. 15). Angebotssubstituierbarkeit impliziert, dass im Fall eines dauerhaften relativen Preisanstieges eines Produktes ein oder mehrere Anbieter kurzfristig in der Lage sind, ihre Produktion bzgl. dieses Produktes ohne wesentliche Zusatzkosten auszuweiten oder umzustellen und zeitnah am Markt zu platzieren (Kommission 1997: 7, Rn. 20). Ist Angebotssubstituierbarkeit möglich, so erzeugen derartige potentielle Anbieter zusätzlichen Wettbewerbsdruck hinsichtlich der Verkaufsbedingungen am Markt. Ist die Wirksamkeit dieser Wettbewerbskräfte nachzuweisen, ist ein wettbewerbswidriges Handeln eines am Markt tätigen Anbieters unwahrscheinlich. Vorraussetzung für eine derartige Beurteilung ist jedoch nach h.M., dass dieser Markt vorab definiert ist, d.h. eine Abgrenzung vorgenommen wurde hinsichtlich der Frage welche Produkte dem Markt angehören und welche nicht. Nur wenn dies geklärt ist, kann im zweiten Schritt untersucht werden, ob die aufgeführten Wettbewerbskräfte zwischen den Produkten des Marktes zur Entfaltung gelangen oder nicht.
[...]
[1] Vgl. Kommission (2009): Mitteilung der Kommission - Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Art. 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, in: ABl. Nr. C 45/7 vom 24.2.2009.
[2] „Ceteris paribus-Regel“: Alle nicht untersuchten Umstände / Variablen bleiben konstant und entfalten keine Wirkung auf die im Modell verwendeten Variablen.
[3] Zur „Chicago School“, vgl. z.B. Bittlingmayer, WuW 1987, S. 709ff..
[4] Zu nennen wären daneben noch die Freiheits-, Lenkungs- und Verteilungsfunktion, die aber für den hier zu behandelnden Kontext weniger relevant sind, vgl . Olten, Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, S. 21ff..
[5] Die Nachfragekurve basiert auf der Nachfragefunktion x = D(p).
[6] Die Angebotskurve basiert auf der Angebotsfunktion x = S(p).
[7] Entspricht der Marktpreis den Grenzkosten (GK) ist das Gewinnmaximum erreicht.
[8] Bei Realisation von p4 läge ein Angebotsüberhang im Umfang von x6-x4 vor, da zum Preis p4 die Gütermenge x6 bereitgestellt würde bei gleichzeitiger Konsumentennachfrage von lediglich der Menge x4. Ein Verlust auf Anbieterseite wäre die Folge.
[9] Im vorliegenden Modell errechnet sich die KR aus ((1/2*(p1-p5)*x5).
[10] Im vorliegenden Modell errechnet sich die PR aus ((1/2*(p5-px)*x5).
[11] Vgl. die ursprüngliche KR-Fläche (p1/p5/MG) mit der neuen KR-Fläche (p1/p4/A) und die ursprüngliche PR-Fläche (p5/px/MG) mit der nun vergrößerten PR-Fläche (p4/px/B/A).
[12] Vgl. die §§ 1-3 GWB (Kartellverbot), §§ 19-21 GWB (Missbrauchsverbot) und §§ 35-43 GWB (Fusionskontrolle).
[13] Vgl. die Art. 101 AEUV (Kartellverbot), Art. 102 AEUV (Missbrauchsverbot) und VO 139/2004 (Fusionskontrolle).
- Arbeit zitieren
- Dipl.-Sozialwirt Univ. Elliot Hofherr (Autor:in), 2012, Abgrenzung des relevanten Marktes im EU-Kartellrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204704
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