Dass eine Mehrheitsgesellschaft -und Kultur früher oder später aus ihren ungeliebten Randzonen neue Impulse erhält und, mehr noch, ihrer Schützenhilfe bedarf, sobald ihre „eigene“ Literatur und Kunst auf den Hund zu kommen droht, ist kaum verwunderlich. Ein Blick über den Atlantik genügt, dorthin also, wo das „radikal Andere“ über Jahrhunderte aufgrund seiner vermeintlichen Abnormalität mit Gewalt und Unterdrückung dazu gezwungen wurde, den Inhabern der Hegemonie einen Spiegel vorzuhalten, in dem diese ihrer Überlegenheit frönen durften. Somit ist das Andere oder Fremde letztlich immer ein unverzichtbarer Teil des Selbst. Diese „Harmonie“ wird jedoch gestört, sobald sich das Fremde mit „eigenen“ Erzeugnissen zu Wort meldet – oder auch nur das Wort ergreift, indem es plötzlich mit neuen Klängen – dem Jazz, Gospel, Soul, Blues oder Hip Hop – aufwartet, an denen sich irgendwann auch die Mehrheitskultur erfreut. Freilich sind diese Erzeugnisse zu keiner Zeit allein auf das Fremde zurückzuführen, sondern entstehen immer aufgrund von Anleihen verschiedenster Art, nicht zuletzt auch bei der Hegemonialkultur, die es zu verändern gilt.
Inhaltsverzeichnis
- Die verdammten Fallstricke des Ost-West-Diskurses
- Über die Vermeidung und Verstärkung von ansonsten bzw. ohnehin weiter bestehenden Stereotypen
- Ein Blick über den Atlantik
- Dieses Phänomen hat selbstverständlich auch in der Literatur längst Tradition
- Der einzige Segen: der vom westeuropäischen Imperialismus des vorletzten Jahrhunderts unbestritten (und gänzlich ohne Absicht seitens seiner Vertreter) ausging, ist die reiche und Literatur, die das Prädikat postcolonial trägt und ohne die zumindest die anglophone Literatur um einiges schlechter dastünde
- Mehr noch: aus Sicht der postcolonial literature offenbart sich jede Nationalliteratur mit Reinheitsprinzip als kanonisierte Anämie, von einigen Ausnahmen natürlich abgesehen
- Hochkaräter von Weltrang wie Chinua Achebe, Ngugi wa Thiong'o, Toni Morrison oder Salman Rushdie hat die deutsche Literatur dennoch leider noch nicht hervorgebracht
- Nun soll nicht bedauert werden, dass das Deutsche Reich seinerzeit bei der Aufteilung der Welt nicht noch mehr sonnige Plätze erheischen konnte, ebenso wenig soll unterstellt werden, sie tummle sich derzeit lediglich in bestimmten Feuchtgebieten — unvergessen hierbei Maxim Billers Tutzinger Urteil aus dem Jahr 1999 „Feige das Land, schlapp die Literatur" oder Feridun Zaimoglus Vorwurf in eben jener Tagung an eine , Knabenwindelweichprosa'
- Konnte Heidi Rösch noch im vorigen Jahrzehnt bei ihrer Sichtung der deutschsprachigen interkulturellen Literatur noch zurecht behaupten, dass die von Franco Biondi 1991 beobachteten „Keime einer neuen Weltliteratur" noch recht schwach wären, dann liegt der Grund hierfür, dass sie erst in dieser Zeit zu sprießen begannen
- Fürwahr, die so genannte Migrationsliteratur entstand nicht unter den günstigsten Bedingungen
- Die Gastarbeiterliteratur der 1970er und 80er Jahre operierte in einem ganz eng gezogenen Kreis, viel Raum für künstlerische Innovation war nicht vorhanden: verarbeitete sie doch literarisch, was ein graues, homogenes Nachkriegsdeutschland ihren Vertretern bot: soziale Marginalisierung und den unsicheren Status einer auf Zeit gebilligten Aufenthalts auf deutschem Boden: der durch harte körperliche Arbeit verdient werden musste
- Aus heutiger Sicht wären das ziemlich heiße Themen, die man literarisch nach Belieben ausschlachten könnte
- Doch ähnlich wie bei der postkolonialen Literatur steht am Anfang das writing back
- Statt großer Wohne und Werke — entstanden hier allerdings Mitleid erregende und betroffen machende, realistische Daseinsbeschreibungen des Fremd- und Ungewolltseins
- Sie bieten Einblicke in ein Deutschland aus einer anderen Perspektive — nicht von außen, sondern von unten
- Der eigentliche Anspruch an ein umfassendes „Zurückschreiben" wird jedoch durch die Gastarbeiterliteratur nicht erfüllt
- Nun lässt sich dies zum Teil durch die relativ kurze Dauer der Migrationserfahrung erklären
- Der Gaststatus spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, denn vielen dieser Gäste war selbst nicht klar, dass sie ihr zukünftiges Leben in Deutschland verbringen würden
- Vielleicht bedurfte es einer neuen Generation von Schriftstellern, den Kindern jener Gäste, für die das Dasein auf deutschem Boden eine Selbstverständlichkeit darstellte
- Inwiefern es sich bei ihren Erfahrungen um Migration handelte, sei dahingestellt, ist ja für sie Deutschland von Beginn an Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen — nicht selbstverständlich jedoch Heimat
- „Auch du bist Deutschland"
- Werbespruch
- ein gut gemeinter, aber politisch und sozial problematischer
- signalisiert erstmals, und dies knapp 40 Jahre nach jener Migration, dass auch „du" (also das Andere / Fremde) Teil dieses Landes sind
- Und auch wenn die Politik sich noch recht schwer tut Deutschland zu einem Einwanderungsland zu erklären: wäre ein solcher Spruch in den 90er Jahren vielleicht als avantgardistisch abgetan worden
- Die zweite Generation der Autoren nichtdeutscher Herkunft hat es trotz allem ein wenig leichter
- Die Frage, wo ihre „eigentliche" Heimat ist: stellt sich ihnen nicht, da sie i.d.R. (zumindest territorial) nicht auf eine Vergangenheit außerhalb bundesrepublikanischer Grenzen verweisen können
- Ihre Geschichte und ihre Geschichten handeln vom Hier: und wenn das Dortige in ihren Texten auftaucht: dann zwangsläufig aus der Perspektive eines Hiesigem
- Es gibt Wege als nicht deutschstämmiger Autor der Migrationsproblematik zu begegnen
- Der auf den ersten Blick einfachste besteht darin, ihr auszuweichen
- Selim Özdogan begann seine Schriftstellerkarriere bewusst mit Themen, die durchaus mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft kompatibel sind und gezielt die Leserschaft der twentysomethings ansprechen, um erst seit seinem vielten Roman („Mehr", 1999) auch vermehrt über jene Themen zu sprechen, die er in seinen früheren Büchern (2 Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist": „Nirgendwo & Hormone") aus Furcht auswich: um ja nicht in die „Ausländerecke" geschoben zu werden
- Dies soll nicht als negative Kritik am Autor verstanden werden: sondern deutet vielmehr auf die Problematik mit interkultureller (oder zugespitzt. problembeladenen) Literatur auf Seiten der Rezipienten hin
- Doch nicht zwangsläufig muss „Fremdheit" als Problem begriffen werden
- So sind in Rafik Schamis Texten die Bürde des Orientalismus stets gegenwärtig
- Bestehende Klischees, deren Paradigmen aufgrund einer Jahrhunderte währenden Tradition sich ins „westliche" Bewusstsein festgeschrieben haben (wie Vorstellungen von Zivilisation und Barbarei, Religion und Götzenverehrung, Modernität und Rückständigkeit, Bewegung und Stillstand, Zentrum und Peripherie, Herr und Diener oder Subjekt und Objekt), werden kommentarlos, meist spielerisch: reproduziert
- Auf diese Weise Schami einen clash innerhalb seines Textes
- In seinen Romanen geht es nicht um eine frontale Begegnung mit einem gigantischen Problemberg eines erstarrten Ost-West-Diskurses: allerdings werden die Probleme, oft auch konkret, benannt und somit zur Kenntnis genommen
- Anders so Zaimoglus Kanak Sprak-Frühwerk
- Hier werden die jeweiligen Paradigmen des bestehenden Diskurses offen benannt und angegangen
- Die sozial Marginalisierten erhalten eine Stimme und sprechen zurück — allerdings mit der „Übersetzung" Zaimoglus: der die Interview-Protokolle in seine Kunstsprache überträgt
- Auch der Stand der Literatur wird mitbedacht mit Verweisen zur Gast- bzw Betroffenheitsliteratur, insbesondere ihrer literarischen und programmatischen Defizite und ihrer heuchlerischen Rezeption auf deutsch-deutscher Seite, steht doch die Selbststilisierung des Opferdaseins der betroffenen Migrantenschicksale im Vordergrund
- So werde, so Zaimoglu im Vorwort zu Kanak Sprak, „jeder sprachliche Schnitzer als poetische Bereicherung ihrer Mutterzunge' (gemeint ist Emine Sevgi Özdamars gleichnamiges Buch) gefeiert"
- Sowohl die sprachliche als auch die soziale Dimension in Kanak Sprak operieren gegen eine sich anbiedernde Darbietung und Rezeption einer interkulturellen Literatur
- Sprachlich kennzeichnend für diese ist eine bestimmte Mischung aus dem fremden Sprachgebrauch
- So Özdamar türkische Sprichwörter oder Redewendungen und transportiert diese in ihren deutschen Text: wodurch dieser entfremdet wird
- Dies trifft auch auf Zaimoglu und Schami zu: die ihrerseits türkische bzw. arabische Elemente in ihre Werke integrieren
- Schami experimentiert insbesondere mit der klassischen arabischen Märchenerzählung
- Zaimoglus Kanak Sprak zeichnet sich hingegen aus durch eine heterogene Mischung aus verschiedenen Erzählstilen, die nicht eindeutig identifizierbar sind
- Zaimoglu selbst verwendet zu ihrer Bezeichnung Begriffe wie „Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen"
- Ein wichtiges Merkmal von Kanak Sprak ist, dass den Marginalisierten eine Stimme verliehen wird: also „einzig der Kanake das Wort" hat
- Bestehende Klischees über diese Personengruppe, zu denen u.a. Transvestiten, Zuhälter, Kleinkriminelle oder Islamisten gehören, werden somit lediglich indirekt bestätigt bzw. in Frage gestellt
- ist auch: dass es sich in Kanak Sprak um „24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft" handelt
- Somit wird die Heterogenität „selbst" des Kanaken Ausdruck verliehen: der sonst — in Analogie zum Orientalismus-Diskurs — nur als einheitliche Masse wahrgenommen wird
- Ob diese Autoren letztlich das Bild des Anderen verändern können, ist eine schwierig zu beantwortende Frage, verweist letztere doch auf die Grenzen des durch Literatur Möglichem
- Zaimoglu, Özdamar und Schami verfolgen verschiedene Ansätze in ihren interkulturellen Texten
- Es ist jedoch wichtig, dass diese Verschiedenheit existiert, und dass sie Einfluss auf die deutsche Kultur ausüben
- Doch erst, wenn sie Teil einer Mehrheitskultur werden, kann von echter Vermischung die Rede sein
- Letztere stellt das hervorragendste Merkmal von Kultur überhaupt dar — ihre immerwährende Veränderung und ihre niemals statische: prozesshafte Eigenschaft
- Allerdings handelt es sich bei der Ost-West-Problematik um polare Einheiten: eine Konstruktion (noch) mit Ausschlusscharakter: eine Jahrhundertfrage also, die derzeit am ehesten von der Literatur in Angriff genommen werden kann
- Noch hat jener Spruch des Flohmarkt-Kanaken, Akay, Geltung: „Den Fremdländer kannst du nimmer aus der Fresse wischen"
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Essay analysiert die Herausforderungen und Möglichkeiten der interkulturellen Literatur im Kontext des Ost-West-Diskurses. Er beleuchtet, wie Stereotype in der Literatur reproduziert und vermieden werden, und untersucht die Rolle von Migrantenautoren in der deutschen Literaturlandschaft.
- Die Rolle von Stereotypen im Ost-West-Diskurs
- Die Entwicklung der Migrationsliteratur in Deutschland
- Die Herausforderungen und Chancen der interkulturellen Literatur
- Die Frage nach Identität und Heimat in der Migrationsliteratur
- Die Bedeutung von Sprache und Stil in der interkulturellen Literatur
Zusammenfassung der Kapitel
Der Essay beginnt mit einer Analyse des Ost-West-Diskurses und seiner Auswirkungen auf die Literatur. Dabei wird deutlich, wie das „Andere" oft als Spiegelbild des „Selbst" dient und wie die Hegemonialkultur von der Auseinandersetzung mit dem Fremden profitiert. Der Autor argumentiert, dass die postkoloniale Literatur einen wichtigen Beitrag zur Dekonstruktion von Stereotypen leistet und dass die deutsche Literatur von den Erfahrungen von Migrantenautoren profitieren könnte.
Im weiteren Verlauf des Essays wird die Entwicklung der Migrationsliteratur in Deutschland beleuchtet. Die Gastarbeiterliteratur der 1970er und 1980er Jahre wird als eine Form des „writing back" betrachtet, die die Lebensrealität von Migranten in Deutschland aus ihrer eigenen Perspektive darstellt. Der Autor argumentiert, dass die zweite Generation von Migrantenautoren neue Perspektiven auf die Frage nach Heimat und Identität einbringt.
Der Essay analysiert verschiedene Ansätze von Migrantenautoren, um mit der Migrationsproblematik umzugehen. Selim Özdogan wird als Beispiel für einen Autor genannt, der zunächst Themen wählte, die mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft kompatibel waren, bevor er sich später vermehrt mit Migrationserfahrungen auseinandersetzte. Der Autor weist darauf hin, dass die Rezeption von interkultureller Literatur auf Seiten der Leser eine Herausforderung darstellt.
Rafik Schamis Texte werden als Beispiel für eine literarische Auseinandersetzung mit dem Orientalismus betrachtet. Schami reproduziert bewusst Klischees, um einen clash innerhalb seiner Texte zu erzeugen. Der Autor argumentiert, dass Schami die Probleme des Ost-West-Diskurses nicht frontal angeht, sondern sie durch die Reproduktion von Klischees zur Kenntnis nimmt.
Feridun Zaimoglus Kanak Sprak wird als ein Beispiel für eine radikale Auseinandersetzung mit dem Ost-West-Diskurs betrachtet. Zaimoglu gibt den sozial Marginalisierten eine Stimme und stellt bestehende Klischees über diese Personengruppe in Frage. Der Autor argumentiert, dass Zaimoglus Sprache und Stil eine wichtige Rolle bei der Dekonstruktion von Stereotypen spielen.
Der Essay endet mit der Frage, ob die interkulturelle Literatur tatsächlich das Bild des Anderen verändern kann. Der Autor argumentiert, dass die verschiedenen Ansätze von Migrantenautoren einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kultur leisten, aber dass eine echte Vermischung erst dann möglich ist, wenn die interkulturelle Literatur Teil einer Mehrheitskultur wird.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen den Ost-West-Diskurs, die Migrationsliteratur, die interkulturelle Literatur, Stereotype, Identität, Heimat, Sprache, Stil, Orientalismus und Kanak Sprak. Der Essay beleuchtet die Herausforderungen und Möglichkeiten der interkulturellen Literatur im Kontext des Ost-West-Diskurses und untersucht die Rolle von Migrantenautoren in der deutschen Literaturlandschaft.
- Quote paper
- StR Sener Saltürk (Author), 2008, Die verdammten Fallstricke des Ost-West-Diskurses: Über die Vermeidung und Verstärkung von ansonsten bzw. ohnehin weiter bestehenden Stereotypen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204011