So deutungsoffen Franz Kafkas Romanfragment DER PROZESS inklusive der Parabel VOR DEM GESETZ auch sein mag, soviel Anklang finden die darin angeführten Denkanstöße zu den Fra-gen nach Recht und Gesetz bis in die Gegenwart. Johann Brauns EINFÜHRUNG IN DIE RECHTSWISSENSCHAFT etwa nimmt die »merkwürdige Geschichte«1 um den Mann vom Lande und dem Türhüter als Ausgangspunkt für seine Erklärungen zu den Grundlagen des Rechts, um am Ende Kafkas Parabel sogar zu reformulieren: »Frage also nicht, was das Gesetz dir ge-ben kann, frage vielmehr, was du dem Gesetz geben kannst.«2 Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise sich DER PROZESS interdisziplinär zwischen Jura, Phi-losophie und Literatur bewegt. Dabei definiert Kafka weder Recht noch Gesetz, schon gar nicht Gerechtigkeit, sondern er setzt Akzente, hinterfragt Konventionen und zeichnet Umris-se. Ebenso verhält es sich mit der Figur, die Recht spricht, mit der Figur des Richters. Hierauf nimmt Braun keinen Bezug, auch scheint der Richter im PROZESS nur auf, seine Gestalt wird lediglich erahnbar. Aber dennoch, Kafkas Protagonist K. befindet sich nicht nur in der Para-bel, sondern schlechthin VOR DEM GESETZ, und nach Derrida bedeutet: »Vor dem Gesetz er-scheinen […] vor den Richter treten oder geführt werden«3.
KAFKAS RICHTER
So deutungsoffen Franz Kafkas Romanfragment DER PROZESS inklusive der Parabel VOR DEM GESETZ auch sein mag, soviel Anklang finden die darin angeführten Denkanstöße zu den Fragen nach Recht und Gesetz bis in die Gegenwart. Johann Brauns EINFÜHRUNG IN DIE RECHTSWISSENSCHAFT etwa nimmt die »merkwürdige Geschichte«1 um den Mann vom Lande und dem Türhüter als Ausgangspunkt für seine Erklärungen zu den Grundlagen des Rechts, um am Ende Kafkas Parabel sogar zu reformulieren: »Frage also nicht, was das Gesetz dir geben kann, frage vielmehr, was du dem Gesetz geben kannst.«2
Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise sich DER PROZESS interdisziplinär zwischen Jura, Philosophie und Literatur bewegt. Dabei definiert Kafka weder Recht noch Gesetz, schon gar nicht Gerechtigkeit, sondern er setzt Akzente, hinterfragt Konventionen und zeichnet Umrisse. Ebenso verhält es sich mit der Figur, die Recht spricht, mit der Figur des Richters. Hierauf nimmt Braun keinen Bezug, auch scheint der Richter im PROZESS nur auf, seine Gestalt wird lediglich erahnbar. Aber dennoch, Kafkas Protagonist K. befindet sich nicht nur in der Parabel, sondern schlechthin VOR DEM GESETZ, und nach Derrida bedeutet: »Vor dem Gesetz erscheinen […] vor den Richter treten oder geführt werden«3.
Nähme man den Richter als denjenigen, der Gesetz anwendet und Recht spricht, so wäre Brauns These als Hinweis auf die Wechselseitigkeit zwischen Richter und Angeklagtem zu lesen; nach dem Motto: Frage, was du dem Richter geben kannst. Genau diese Frage drängt sich Josef K. auf, der die Figur des Richters zunächst nicht ernst nimmt, dessen Einfluss auf ihn und die ihn umgebende Welt ihm aber immer stärker gewahr wird.
Der Richter übt auf K. und die Geschichte eine große Macht aus. So bezeichnet Walter Benja- min Kafkas Richter in den Dachböden als »Ahn jener Gewalthaber«4. Auf der einen Seite
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1 Braun, Johann: Einführung in die Rechtswissenschaft, Tübingen 22001, S. 1.
2 Ebd., S. 367.
3 Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1999, S. 39.
4 Benjamin, Walter: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, Frankfurt/Main 1981, S. 10.
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- René Ferchland (Author), 2011, Kafkas Richter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203698