Seit Jahrhunderten sind Themen wie Inzest, Schuld und Strafe beliebte Motive in der Literatur. Der Mythos der Tötung des Vaters und der sexuellen Hingabe zur Mutter veranlasste schon in der Antike Sophokles dazu, sein bis heute zur Weltliteratur zählendes Werk „König Ödipus“ zu schreiben. Seit damals beschäftigten sich einige bedeutende Dramatiker wie z.B. Aischylos, Euripides, Seneca oder Friedrich Hölderlin mit diesem Stoff. Auch Shakespeares „Hamlet“ und Goethes „Don Carlos“, die sich inhaltlich dem Inzestdrama widmen, zählen zu den großen Werken der Literatur. (vgl. Rank 1912: 40-63)
In allen Tragödien, die sich mit Schuld, Strafe, Inzest oder Vergeltung beschäftigen, spielt das Fehlen einer Ordnung eine zentrale Rolle. Es wird eine Welt inszeniert, die beherrscht wird von Verfehlung, Unordnung und Sittenlosigkeit, ausgelöst durch die Schuld einer oder mehrerer Personen. Durch Vergeltung oder Strafe kann, muss aber nicht die Ordnung wieder hergestellt werden.
Der französische Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard beschäftigt sich in seiner ‚mimetischen Theorie‘ mit eben jenen Tragödien von Sophokles und Euripides und versucht anhand des aus der griechischen Antike überlieferten Sagenstoffs zu erklären, wie durch tragische Destabilisierung und krisenhaften Abbau von Hierarchien Lösungen für diese Situationen gefunden werden können. Zentrale Begriffe sind Nachahmung und Gewalt.
Doch ist dieses Prinzip des ordnungsstiftenden Sündenbocks immer anwendbar? Kann ein willkürlich als schuldig Verurteilter tatsächlich die Ord-nung wieder herstellen? Und welche Art von Strafe oder Vergeltung ist für diesen Vorgang nötig?
Diese Arbeit vergleicht das italienische Drama „Mirra“ von Vittorio Alfieri mit dem französischen Drama „Phèdre“ von Jean Baptiste Racine im Hinblick auf die Frage nach Schuld und Strafe und ob Girards These des Sündenbockmechanismus in diesem Fall anwendbar ist. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Schuld- und der Inzestfrage, d.h. ob sich die Protagonisten der Dramen der inzestuösen Liebe hingeben und damit eine schuldhafte Sünde begehen und inwieweit Vergeltung oder Bestrafung die Ordnung wiederherstellen.
Inhaltsverzeichnis
1 Rene Girard und Inzest, Schuld und Strafe in der Literatur
2 Vittorio Alfieri und seine Tragödie ,Mirra‘
2.1 Biographie Alfieris und Einführung in ,Mirra‘
2.2 Die Schuldfrage - Wer hat Schuld am Leiden Mirras?
2.3 Die Inzestfrage - Liegt hier wirklich Inzest vor?
2.4 Funktioniert Girards Sündenbocktheorie bei ,Mirra‘?
3 Jean Racine und seine Tragödie ,Phèdre‘
3.1 Einführung in ,Phèdre‘
3.2 Die Schuld- und Inzestfrage bei ,Phèdre‘
3.3 Die Sündenbocktheorie bei ,Phèdre‘
4 Abschließender Vergleich und Ergebnis
Bibliographie
- Quote paper
- B.A. Katja Wintergerst (Author), 2011, Schuld, Strafe und Sühne im tragischen Theater, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203392