Thema dieser Arbeit ist der lesende Held in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther. Werthers Leseweise bestimmter Texte sowie das Verhältnis, in dem diese Texte zu Werthers Wirklichkeit stehen, sollen dabei besonders beachtet werden. Die Erwähnung eines Buches sowohl ganz zu Anfang als auch ganz am Ende des Romans macht die Bedeutung von Büchern für Werther deutlich. Bereits im vierten Brief schreibt Werther von Homer, und auch bei der Beschreibung seines Todes durch den Herausgeber am Ende des Romans wird ein Buch erwähnt, nämlich Emilia Galotti, das aufgeschlagen auf Werthers Pult liegt. Man könnte daher sagen, dass Literatur im Werther den Gang der Dinge von Anfang bis Ende begleitet. Besondere Bedeutung kommt dabei besonders einem Werk zu, das Werther vor allem im ersten Teil des Romans mehrfach erwähnt und seiner eigenen, „realen“ (im Gegensatz zur literarischen) Erfahrungswelt gegenüberstellt, nämlich Homers Odyssee. Lieselotte Kurth weist darauf hin, dass die homerische Dichtung (neben anderen Werken) vollkommen dem Geschmack der Zeit, zu der Goethes Roman entstand, entsprach. Über Homer schreibt Goethe selbst in Dichtung und Wahrheit :
Glücklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen. Auch das Homerische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen höchst begünstigte: denn das beständige Hinweisen auf Natur bewirkte zuletzt, dass man auch die Werke der Alten von dieser Seite betrachten lernte.
Homer stand also an der „Tagesordnung“. Dass Werther diesen Dichter liest, ist demnach für seine Zeit nichts Ungewöhnliches, und auch durch dessen Lektüre unter besonderer Berücksichtigung der Natürlichkeit unterscheidet er sich nicht von seinen Zeitgenossen. Was aber macht seine ganz persönliche Leseweise des Homer aus? In Gegenüberstellung mit der Leseweise des Homer, durch die sich Werther als ein Leser des 18. Jahrhunderts zu erkennen gibt, soll im Folgenden nun besonders seine Rezeption der homerischen Dichtung ins Auge gefasst werden, die auf einer durch individuelle Voraussetzungen geprägten Leseweise basiert.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Wiegengesang
2. Spiegel der eigenen Lebensform
3. Gegenentwurf zur Wirklichkeit
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Thema dieser Arbeit ist der lesende Held in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther. Werthers Leseweise bestimmter Texte sowie das Verhältnis, in dem diese Texte zu Werthers Wirklichkeit stehen, sollen dabei besonders beachtet werden. Die Erwähnung eines Buches sowohl ganz zu Anfang als auch ganz am Ende des Romans macht die Bedeutung von Büchern für Werther deutlich. Bereits im vierten Brief schreibt Werther von Homer[1], und auch bei der Beschreibung seines Todes durch den Herausgeber am Ende des Romans wird ein Buch erwähnt, nämlich Emilia Galotti, das aufgeschlagen auf Werthers Pult liegt[2]. Man könnte daher sagen, dass Literatur im Werther den Gang der Dinge von Anfang bis Ende begleitet. Besondere Bedeutung kommt dabei besonders einem Werk zu, das Werther vor allem im ersten Teil des Romans mehrfach erwähnt und seiner eigenen, „realen“ (im Gegensatz zur literarischen) Erfahrungswelt gegenüberstellt, nämlich Homers Odyssee. Lieselotte Kurth weist darauf hin, dass die homerische Dichtung (neben anderen Werken) vollkommen dem Geschmack der Zeit, zu der Goethes Roman entstand, entsprach[3]. Über Homer schreibt Goethe selbst in Dichtung und Wahrheit:
Glücklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen. Auch das Homerische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen höchst begünstigte: denn das beständige Hinweisen auf Natur bewirkte zuletzt, dass man auch die Werke der Alten von dieser Seite betrachten lernte.[4]
Homer stand also an der „Tagesordnung“. Dass Werther diesen Dichter liest, ist demnach für seine Zeit nichts Ungewöhnliches, und auch durch dessen Lektüre unter besonderer Berücksichtigung der Natürlichkeit unterscheidet er sich nicht von seinen Zeitgenossen. Was aber macht seine ganz persönliche Leseweise des Homer aus? In Gegenüberstellung mit der Leseweise des Homer, durch die sich Werther als ein Leser des 18. Jahrhunderts zu erkennen gibt, soll im Folgenden nun besonders seine Rezeption der homerischen Dichtung ins Auge gefasst werden, die auf einer durch individuelle Voraussetzungen geprägten Leseweise basiert.
1. Wiegengesang
Der erste Verweis auf Homer erfolgt, wie bereits erwähnt wurde, in Werthers viertem Brief (13. Mai). Werther spricht hier (und auch in allen folgenden Briefen, wo er Homer erwähnt) von „meinem Homer“[5], wodurch neben „Identifikation, Aneignung und Bewunderung“[6], auf die Ralph-Rainer Wuthenow hinweist, vielleicht auch noch etwas anderes ausgedrückt wird. Versteht man den Ausdruck „mein Homer“ im Sinne von „Homer, so wie ich ihn lese“, dann könnte darin der Hinweis auf eine ganz persönliche Auffassung der homerischen Dichtung enthalten sein. Auf eine solche ganz eigene Leseweise von Homer zielt auch die Kritik von Goethes Zeitgenossen Georg Christoph Lichtenberg ab, wenn er schreibt:
Seinen Homer? Ja ich glaube fast was mancher studiert, ist Sein Homer: der gesprächige erfahrungsvolle Alte, verstellt und verzerrt durch das brechende Mittel des stockigen unerfahrenen Krafthasen der ihn studiert, und so hat freilich jeder den seinigen.[7]
Auch wenn es durch Kritik geschieht (auf die später noch eingegangen werden soll), so spricht Lichtenberg hier Werther doch zumindest eine eigene Leseweise des Homer zu.
Wie Werther den Homer auffasst, schreibt er ebenfalls in seinem Brief vom 13. Mai, nämlich als „Wiegengesang“[8] mit einlullender Wirkung. Unter „Wiegengesang“ kann nun zweierlei verstanden werden, denn wie Hans-Edwin Friedrich treffend feststellt kann „Wiege“ entweder auf das „Jugendalter der Menschheit“ oder die „Kindheit des einzelnen Menschen“[9] anspielen. Während sich für Peter Pütz in dem Wort „Wiegengesang“ vor allem Werthers „Sehnsucht nach infantiler Regression“[10], also der Wunsch, zur eigenen Wiege zurückzukehren, äußert (er belegt dies mit Werthers „Affinität zu Kindern“, dem „Exzessive[n] seiner Empfindung“, seiner „Unfähigkeit, die Spanne zwischen Begehren und Erfüllung tragen zu können“ und mehreren Beispielen aus Werthers Sprache[11]), sieht Hans-Edwin Friedrich, der dem Wort „Wiegengesang“ neben „Schlaflied“ auch noch die Bedeutung „Gesang [...] von der ,Wiege der Menschheit’“[12] gibt, außerdem „den Versuch der Anbindung an ein ursprungsnahes Zeitalter“ darin enthalten. Dem entspricht ein Ausschnitt aus Johann Heinrich Zedlers Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste von 1735, der belegt, dass Homer im 18. Jahrhundert „als der ursprungsnahe Schriftsteller schlechthin“[13] galt. Bei Zedler heißt es nämlich, dass Homer „der berühmteste Griechische Poet, und der allerälteste unter denen annoch vorhandenen Heydnischen Scribenten“[14] sei und „die Gedichte Homeri [...] vor die Quelle der Religion, wie auch aller Weisheit und Wissenschaft angesehen“[15] worden seien.
Dass Werther im Homer „Wiegengesang“ findet, drückt sicherlich beides aus, seine Sehnsucht nach der Wiege der Menschheit und nach seiner eigenen, wobei, wie der Ausschnitt aus Zedlers Lexikon zeigt, das auf die Ursprungsnähe gegründete Interesse an Homer generell auch bei Werthers Zeitgenossen zu finden war (auch Erdmann Waniek schreibt: „Werthers Verständnis der Odysse als Urbild idyllisch-patriarchalischer Verhältnisse stimmt mit dem seiner Zeit überein“[16]). Werthers Wunsch, in seine eigene Kindheit zurückzukehren, macht dagegen vielleicht eher seine individuelle Leseweise des Homer, in dem ihn u.a. die kindlich naive Weltanschauung besonders anspricht[17], aus.
Ein weiterer interessanter Deutungsvorschlag für das Wort „Wiegengesang“ findet sich außerdem in einem Aufsatz von Carol Tobol und Ida Washington. Hier wird Werthers Bezeichnung für die homerische Dichtung in Hinblick auf alle weiteren Situationen, in denen Werther Homer erwähnt, als „an overture to the beginning of a dream existence“ gedeutet. Tobols und Washingtons Ansicht nach zeigt sich in Werthers Leseweise des Homer etwas von der für Träume charakteristischen „fluid quality, where persons and places melt into other personalities and locations“. Werther fühlt sich mal wie „die übermütigen Freier der Penelope“[18], mal wünscht er sich an die Stelle des Odysseus, der „von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird“[19]. Er erlebt die homerische Dichtung als eine unreale Traumwelt, „far removed from reality“, und die Bezeichnung „Wiegengesang“, die hier mit „lullaby“ übersetzt ist, markiert Werthers Eintritt in diese Traumwelt.[20]
[...]
[1] Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther, S.10 (13. Mai 1771)
[2] Vgl. ebd., S. 124
[3] Vgl. Kurth, Lieselotte E., Die zweite Wirklichkeit, S. 170ff.
[4] Ebd., S. 585
[5] Goethe, Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther, S. 10 (13. Mai 1771)
[6] Wuthenow, Ralph-Rainer, Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser, S. 67
[7] Lichtenberg, Georg Christoph, „Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Roman-Dichter und Schauspieler“, in: Schriften und Briefe, Bd. III, S. 377- 394, Zitat S. 384
[8] Goethe, Johann Wolfang, Die Leiden des jungen Werther, S.10 (13. Mai 1771)
[9] Friedrich, Hans-Edwin, Der Enthusiast und die Materie, S. 51
[10] Pütz, Peter, „Werthers Leiden an der Literatur“, S. 56
[11] Vgl. ebd.
[12] Friedrich, Hans-Edwin, Der Enthusiast und die Materie, S. 51
[13] Ebd., S. 50
[14] Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 13, Sp. 735
[15] Ebd., Sp. 736
[16] Waniek, Erdmann, „Werther lesen und Werther als Leser“, S. 62
[17] Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther, S. 73 (9. Mai 1772): „Sieh, mein Lieber, so beschränkt und so glücklich waren die herrlichen Altväter! so kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung! Wenn Ulyß von dem ungemessnen Meer und von der unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll. Was hilft mich’s, dass ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, dass sie rund sei?“
[18] Goethe, Johann Wolfgang, Die Leiden des jungen Werther, S. 29 (21. Juni 1771)
[19] Ebd., S. 69 (15. März 1772)
[20] Vgl. Tobol, Carol E. W./ Washington, Ida H., „Werther’s Selective Reading of Homer“, in: Modern Language Notes, Vol. 92, S. 596- 601
- Arbeit zitieren
- Nora Pröfrock (Autor:in), 2003, Goethes Werther als Leser von Homer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20288
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