In seinen 1911 bis 1931 verfassten Essays fordert Robert Musil eine neue Literaturbetrachtung, die Geschriebenes nicht an Bekanntem misst, sondern den Versuch unternimmt, „[…] gerade die Einmaligkeiten […] nebeneinander auszubreiten […].“ Ziel für das eigene Schreiben war für Musil vor dem Hintergrund dieser Forderung, „[…] die Grenzkurve unseres Fühlens u. Denkens, die Verbindungslinie der Endpunkte aller Wege, wo sie vor dem Nochnichtbegangenen abbrechen“, abzubilden. Jene Zielsetzung ist Ausdruck für eine Erkenntnishaltung des Autors, welche die sich seinerzeit im Umbruch befindlichen Konzepte von Identität und Individuum als unvereinbar mit traditionellen Darstellungsformen empfindet und daher nach neuen Erzählweisen strebt. Nietzsches radikale Sprachkritik, Freuds Dekonstruktion der Einheit des Subjekts, Ernst Machs „Analyse der Empfindungen“ sowie Hermann Bahrs Ausspruch von der Unrettbarkeit des Ichs bilden einen Horizont für Musils Schreiben, vor dem sich seine Protagonisten als moderne Subjekte zwischen eben jenen im Auflösen
begriffenen Konstanten ausnehmen. Thomas Pekar nennt das Problem der Selbstspaltung und
die prinzipielle Unvereinbarkeit der Spaltungsdualismen als grundlegendes Zeitphänomen und Merkmal von Musils Schreiben und Martin Siegel konstatiert die Uneinheitlichkeit des
Ich als Folie für die Handlungen der „Heldinnen“ in Musils Erzählungen.
Mit der Figur der Claudine zeichnet Musil eine
Frauenfigur, die zwischen krisenhafter Identitäts- und Spracherfahrung einen Ehebruch begeht, der
ihr als „letzte Vermählung“ die Vollendung ihrer Liebe bedeuten soll. Zusammengenommen
ergeben Titel und inhaltlicher Gang der Novelle den paradoxen Gedanken, eine Vollendung
der Liebe durch Ehebruch erreichen zu können. Das Oxymoron ʻVereinigung durch Bruchʼ
verweist zum einen auf den Musil` schen Möglichkeitssinn, in dessen Rahmen dieser Denk- und
Handlungsplan keineswegs paradoxen, sondern realistischen Charakter hat. Zum anderen
spiegelt das die gesamte Erzählung strukturierende Begriffspaar die grundlegende Erfahrung
einer umfassenden Sprachskepsis der Moderne wider, wonach Sprache als Instrument der Wirklichkeitsvermittlung und Identitätskonstruktion in Zweifel gezogen wird. In diesem Sinne soll in den folgenden Ausführungen untersucht werden, wie Musil anhand
der Figur der Claudine Schwierigkeiten der Identitätskonstitution vor dem Hintergrund der
Spaltung des modernen Subjekts und einer umfassenden Sprachkrise verhandelt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Exkurs I: Relevanz des Liebesthemas für die Verhandlung von Identität und Sprache
3. „Erschöpft von der Schwere ihres Glücks“ - krisenhafte Zweisamkeit
3.1. Claudines Ehe als (un)tauglicher Raum der Selbstentfaltung
3.2. „Dann sagten sie nichts“ - Vermögen und Versagen der Sprache als Mittel der (Selbst)Verständigung
4. Die Fremde als Auslöser der Selbsterkenntnis
4.1. „Sie konnte sich nicht auf sich besinnen“ - Erkenntnis der Selbstentfremdung
4.2. „Eine sonderbare Wolke von Empfindungen“ - Auflösung in Gefühl als geschärfte Selbstwahrnehmung
4.3. Gefühl und Gedanke - Sprachlosigkeit als wahrhaftiger Selbstausdruck
5. Ehebruch als Moment der Vereinigung
5.1. Ich-Gefühl ohne autonome Selbst-Erkenntnis
5.2. Exkurs II: Beliebigkeit und Liebesideal
6. Schlussbemerkung
7. Bibliographie
- Arbeit zitieren
- Thérèse Remus (Autor:in), 2012, "Sie konnte sich nicht auf sich besinnen" - Identitäts- und Sprachkrisis in Robert Musils Erzählung "Die Vollendung der Liebe", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202039
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