Zunächst erscheint es als äußerst sinnvoll, das Zentrum von René Girards Theorie, nämlich die Mimesis, genauer zu definieren. In dieser Arbeit wird Mimesis bzw. Nachahmung ohne einen damit direkt verknüpften Denkvorgang im Sinne Émile Durkheimers definiert:
„Es liegt Nachahmung vor, wenn einer Handlung unmittelbar die Vorstellung einer ähnlichen, von einem anderen vorher vollzogenen vorausgeht, ohne daß [sic!] sich zwischen Vorstellung und Ausführung explizit oder implizit irgendein Denkvorgang einschaltet, der diese Handlung ihrem Wesen nach durchdringt.“1
Platon lässt sich in seinem „Staat“2 im Zuge einer Abstufung anhand des Stuhlbeispiels sowie den folgenden Passagen eher abfällig über Mimesis bzw. Nachahmung aus. Es gebe drei Stühle, wobei nur der von Gott geschaffene erste Stuhl tatsächlich der wahrhaft Seiende sei und sowohl der vom Handwerker geschaffene als auch der vom Maler porträtierte bloße Abbilder darstellen.
Nichtsdestotrotz geht Platon in seinem Dialog sogar so weit, den Maler, der stellvertretend für die Kunst steht, als Nachahmer des vom Handwerker angefertigten Scheinbildes zu bezeichnen3. Damit wertet der die Mimesis mit Sorge betrachtende Platon die Mimesis ab und charakterisiert diese als negativ. Doch im Unterschied zu Platon wertet dessen Schüller, Aristoteles, die Mimesis weniger negativ. Die Nachahmung sei dem Menschen angeboren und unterscheide jenen von den Tieren. Des Weiteren lerne der Mensch durch Mimesis und habe Freude daran.4 Doch ebenso wie Platon beschränkte Aristoteles das Ausmaß der Mimesis auf reine Repräsentationen und Äußerlichkeiten wie Gestik und Mimik, sodass der Bereich der Aneignungsmimesis in der geistigen Tradition Europas bis in die Gegenwart ausgeklammert wurde.
[...]
1 Émile Durkheimer: Der Selbstmord. Übersetzt aus dem Französischen von Sebastian und Hanne Herkommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 431), 1983, S.132.
2 Platon: Der Staat. Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam Verlag (ND der bibliographisch ergänzten Ausgabe von 2000), 2008 (im Folgenden zitiert als „Platon, Staat“).
3 Vgl. ebd., S.434ff bzw. 10. Buch, 597b-598b.
4 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam Verlag (ND der bibliographisch ergänzten Ausgabe von 1994), 2005, S.11 bzw. Poet. 4, 1448b5-15.
Inhaltsverzeichnis
1) Einleitung
2) Die vier Ebenen des „Sommernachtstraumes“
3) Zwischenmenschliche Beziehungen und Girards trianguläres
Beziehungsmodell
3.1 Grundlegendes zur mimetischen Theorie bzw. zur mimetischen Krise
3.2 Girards trianguläres Beziehungsmodell in der Phase der
Aneignungsmimesis (I)
4) Die Eskalation der mimetischen Krise und der Sündenbockmechanismus
4.1 Die aufkommende mimetische Krise in der Phase der
Gegenspielermimesis (II)
4.2 Der Weber Bottom als Personifikation der mimetischen Krise
4.3 Die Eskalation der mimetischen Krise und der Sündenbockmechanismus
5) Ritus und Mythos im „Sommernachtstraum“
5.1 Die Sommersonnenwende als Ritual
5.2 Mythische und magische Figuren in „A Midsummer Night’s Dream”
5.3 Der Mythos im Allgemeinen und jener von Pyramus und Thisbe
5.4 Die Funktion des Mythos im Shakespeareschen Werk und die
Wiedervereinigungsmimesis (III)
6) Zusammenfassung und eigene Anmerkungen
7) Anhang
7.1 Modell I – Dreieck des Begehrens
7.2 Modell II – Begehren und Beziehungskonstellationen in „A Midsummer
Night’s Dream”
8) Literaturverzeichnis
8.1 Quellen
8.2 Hilfsmittel und Nachschlagewerke
8.3 Darstellungen
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