Die Arbeit fragt nach der Aktualität der Antipädagogik wie sie von Ekkehard von Braunmühl vertreten wird. Dagegen steht eine umfangreiche Kritik die refelktiert und mit Braunmühls Arbeit vergleichen wird.
Inhalt
I. Einleitung
II. Begründung der Erziehung
III. Von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik
IV. Was ist Antipädagogik?
V. Gegenpositionen
VI. Antipädagogik in der Gegenwart
VII. Zusammenfassung
VIII. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Nach der aktuellen OECD[1] - Studie Pisa ist die Diskussion um die Pädagogik in Politik und Erziehungswissenschaft wieder neu entbrannt. Jedoch gab es solche Auseinandersetzungen auch schon in der Vergangenheit. Das Aufkommen der Antipädagogik Anfang der 1970er Jahre führte zu einem ähnlich weitreichenden Diskurs in der Erziehungswissenschaft und der Gesellschaft, aber auch auf emotionaler Ebene wurde heftig um die Argumente der Antipädagogik gerungen und gestritten. Besonders auch deshalb, weil sie die bis dahin übliche Pädagogik und Erziehung gänzlich abschaffen wollte. 1975 erschien das Buch ,,Antipädagogik“ von Ekkehard von Braunmühl, welches im Zentrum meiner Darstellung stehen soll.[2] Dieses Buch entfachte in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls die Debatte um diese Erziehungsform. Nach rund dreißig Jahren wird in dieser Untersuchung eine Bilanz der Antipädagogik erfolgen und diesen Fragen nachgegangen: Was ist von ihr geblieben? Was kann sie uns heute noch bieten bzw. lehren? Welche Misserfolge und Rückschläge hat sie hinnehmen müssen? Dies ist gleich ein ganzer Fragenkatalog; er ist jedoch unvermeidbar, weil die Fragen teilweise miteinander in Verbindung stehen. Zur Lage der gegenwärtigen Situation der Antipädagogik kann man z. B. lesen: ,,Seit ca. 1990 gibt es kaum noch irgendwelche antipädagogischen Selbstreflexionen.[3] Somit kann sich vorschnell der Eindruck ergeben, dass die Antipädagogik völlig obsolet geworden ist. Die Antworten auf die einzelnen Fragen, die oben aufgeworfen wurden, werde ich in den nachstehenden Abschnitten meiner Untersuchung zu geben versuchen. In Kapitel II. wird eine Begründung für die Erziehung aus der Geschichte der Pädagogik gegeben; darüber hinaus folgt eine kurze Explikation des Sozialisationsbegriffs. Der Abschnitt III. beleuchtet die Analogie von Antipsychiatrie und Antipädagogik, wie sie zuerst von Maud Mannoni vorgetragen wurde. Der IV. Teil geht der Frage nach, was Antipädagogik überhaupt ist. Im Mittelpunkt steht dabei das Buch „Antipädagogik“ von Ekkehard von Braunmühl. Unter Punkt V. wird auf die Gegenpositionen und möglichen Alternativen zur Antipädagogik eingegangen. Zur gegenwärtigen Lage der Antipädagogik bezieht der VI. Absatz ausführlich Stellung. Eine Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse und weiterführende Überlegungen bietet das VII. Kapitel.
II. Begründung der Erziehung
Der moderne Begriff von der Erziehung hat seinen Ursprung in der Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts. Kant schreibt in seiner Abhandlung „Über Pädagogik“: ,,Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“[4] Dies resultiert aus dem Kontext der Geburt, die einen ,rohen’ Zustand und mangelnden Instinkt nach sich zieht, diesem ist der Mensch unterlegen. Das Tier besitzt dagegen Instinkt von Geburt an. ,,Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.“[5] Aus solchen Formulierungen resultiert das noch heute dominierende ,,Homo Educandus“- Bild, welches die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen konstatiert. Wichtige Voraussetzungen zur Erziehungs- und Lernbedürftigkeit des Menschen liefern auch neuere Erkenntnisse der Evolutionsbiologie. ,,Wir wissen heute ferner, daß es hochsensible Phasen für die Ausprägung der synaptischen Verknüpfungen im Gehirn des werdenden Menschen gibt.“[6] Doch diese Erkenntnisse der Biologie will ich nicht weiter verfolgen, da sie den Rahmen meiner Untersuchung sprengen würden. Man könnte auch zusammenfassend sagen: ,,Ohne Kultur - kein menschliches Überleben.“[7]
Neben der Problematik der Erziehungsbedürftigkeit spielt die Sozialisation bei einem heranwachsenden Menschen eine ebenfalls wichtige Rolle. Salopp gesagt, verbirgt sich unter diesem Begriff die gesamten gesellschaftlichen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen. Präziser formuliert bezeichnet Sozialisation:
,,einen komplexen Vorgang der Interaktion zwischen Individuum und sozialem System in Abhängigkeit von Alters- und Entwicklungsstufen, aus dem ein bestimmtes Reservoir oder Muster von Verhaltens-dispositionen des Individuums resultiert. Im Gegensatz zum Erziehungsbegriff, der sich auf die intentionalen Prozesse des Lernens und der Anpassung beschränkt, umfaßt Sozialisation auch die nichtintentionalen Prozesse der Integration des Individuums in ein gegebenes System.“[8]
Der Begriff Sozialisierung ist somit ein ,,Konstrukt, ein Bündel von theoretischen Fragen und Problemstellungen.“[9] Das geschilderte Bild der Erziehung und der Sozialisation bestimmt selbst in unserer Zeit die Ansicht der Erziehungswissenschaft. Die Sozialisation ist doch letztlich unvermeidbar, da sie immer und überall auf den Menschen einwirkt ‒ ob er will oder nicht. Die Antipädagogik hat sich diese beiden Begriffe, bzw. ihre Inhalte zum Feindbild erklärt, doch dazu später mehr.
III. Von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik
Bevor die Antipädagogik im Einzelnen vorgestellt wird, möchte ich noch kurz auf einen anderen Ansatzpunkt für die Antipädagogik eingehen. Die Antipädagogik ist auch von der ,Antipsychiatrie’ beeinflusst. Die Antipsychiatrie versteht die Geisteskrankheiten nicht länger ausschließlich medizinisch, sondern als Theorie einer Kommunikationsstörung und fehlerhafter intersubjektiver Wahrnehmung. Die psychiatrischen Einrichtungen können, so stellte man fest, durch ihre Organisationsformen und ihrer internen Regelungen Geisteskrankheiten auslösen oder sogar verstärken. Maud Mannoni war die erste, die die Gedanken der Antipsychiatrie auf die Antipädagogik übertragen hat.
„So kann eine Situation entstehen, in der Eltern, Heilpädagogen und Ärzte gar nicht mehr versuchen, das Kind als wünschenswertes Subjekt zu begreifen, sondern es als Pflegeobjekt in verschiedene Systeme der Wiederherstellung integrieren und ihm so jede persönliche Sache ,rauben’.“[10]
Mannoni geht es dabei nicht um die in Fragestellung der möglichen Geisteskrankheiten, wie Psychosen oder einer Zurückgebliebenheit, sondern um die Art und Weise, wie die Gesellschaft technisch mit solchen Erscheinungen umgeht. Es entstehen so Beziehungsprobleme zwischen dem behandelnden Psychologen und Patienten. Damit steht sich Möglichkeit einer Heilung quasi selbst im Weg:
,,So kommt es, dass man einem dreijährigen Kind eine Diagnose aufstülpt, die die Eltern in einer ohnmächtigen Haltung erstarren lässt - und die das Kind auf ein institutionelles Schicksal festlegt.“[11]
Die Patienten werden im Grunde durch die umfangreiche Institutionalisierung zu Verwaltungsobjekten. Aus Angst einem geheilten Menschen evtl. zuviel Freiräume zu ermöglichen, möchte man ihn lieber in der Anstalt ,behüten’.[12] Somit kann ihm nichts Böses zustoßen. Er kann sich nicht frei entfalten, was trotz der Geisteskrankheit möglich wäre. Nachdem dieser Missstand erkannt wurde, bildete sich die Antipsychiatrie als Gegenpol zur gewöhnlichen Psychiatrie mit den geschilderten Problemen. Die Antipsychiatrie wendet sich gegen die Praxis der ,,Verwaltung des Wahnsinns“[13] . Dabei ist es auch wichtig die Administration und den Machtmissbrauch in Frage zu stellen. Denn:
,,[d]urch die Verstärkung der administrativen Strukturen wird die Herrschaft der modernen Kleinfamilie über das Kind noch schlimmer als zuvor. Inzwischen ,gehört’ das Kind den Eltern und den Institutionen, noch ehe es die Zeit gehabt hätte, sich zu fragen, wer durch es spricht.“[14]
Mit Institutionen sind auch Schulen gemeint, die ähnlich unter den genannten Problemen leiden. Am Ende ihres Buches gibt Mannoni einen hoffnungsvollen Ausblick gegen diese festgefahrenen Strukturen; nicht nur im Sinne der Psychiatrie, sondern auch im Hinblick auf die Pädagogik:
,,Das Recht auf Risiko ist (vermittelt durch Mißerfolg und Regression) ein ,Gut’, das das Kind berechtigterweise verlangen kann. Uns liegt daran, daß wir Träger einer Suche bleiben, so verrückt und verwirrt sie auch sein mag; denn nur zu diesem Preis kann das Kind seinen eigenen Weg entdecken. Es wird ihn leichter finden, wenn wir sein Leben nicht verfrüht in eine Richtung lenken, die an den Kämpfen dieser Welt vorbei geht. Das setzt voraus, daß wir selbst uns weiterhin durch Effekte eines Kampfes verändern lassen, eines Kampfes, der uns der Ideologie der Ordnung, des Opfers und der Tugend (das heißt des Betrugs) entreißt, die allen Variationen der Institutionen Familie, Schule und Krankenhaus zugrunde liegt.
Erziehung ist dann erfolgreich, wenn der Jugendliche (ohne daß er Hospitalisierung befürchten müßte) zu seinen Eltern und Lehrern sagen kann: Ihr habt euch geirrt, wir wollen eure Welt nicht.“[15]
Unklar bleibt jedoch, was mit einer zu frühen Lenkung des Kindes gemeint ist, aber es wird für die weitere Untersuchung keine Rolle spielen, bzw. durch die Forderungen der Antipädagogik aufgeklärt. Damit sind schon einige konkrete Punkte der Antipädagogik ausgesprochen: Eine freie Entfaltung des Kindes durch sich selbst und nicht durch Machtausübung von außen und ein hohes Maß an Verwaltungsabbau in der Gesellschaft und deren öffentlichen Einrichtungen. Nach dieser Hinführung zur Antipädagogik durch die Antipsychiatrie, soll im nächsten Abschnitt die Antipädagogik genauer vorgestellt werden.
[...]
[1] OECD = Organization for Economic Cooperation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
[2] Das Buch erschien in immer neuen Aufglagen, zuletzt 2006 im Tologo-Verlag.
[3] Vgl. Klemm, Ulrich: Antipädagogik und Kinderrechtsbewegung. Wege zur Freiheit des Kindes (18.09.02). In: URL: http.// www. eifrei.de/antipädagogik.htm. S. 4.
[4] Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Über Pädagogik. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Werkausgabe in zwölf Bänden. Band XI. Frankfurt: Suhrkamp 1991. A 9.
[5] Ebd. A1.
[6] Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. 6. durchges. u. erg. Aufl. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 1999. S. 180. Zum Thema Evolution und Pädagogik sei auf folgende Literatur verwiesen: Miller- Kipp, Gisela: Wie ist Bildung möglich? Die Biologie des Geistes unter pädagogischem Aspekt. Weinheim: Deutscher Studien- Verlag 1992. Dichgans, Johannes: Die Plastizität des Nervensystems. In: Zeitschrift für Pädagogik. H. 2/1994. S. 229- 246.
[7] Ebd. S.182.
[8] b:e Redaktion (Hg.): Familienerziehung, Sozialschicht, Schulerfolg. 4. Aufl. Weinheim: Beltz 1974. S. 132.
[9] Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. S. 153.
[10] Mannoni, Maud: ,,Scheißerziehung“. Von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik. Frankfurt/M: Syndikat 1976. S.8.
[11] Ebd. S. 9.
[12] Vgl. ebd. S. 11.
[13] Ebd. S. 10.
[14] Ebd. S.236.
[15] Ebd. S. 240.
- Quote paper
- Dr. Manfred Klein (Author), 2012, Zur Aktualität der Antipädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201474
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