Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, obwohl keineswegs neu, wurde bislang von Wirtschaftswissenschaftlern kaum untersucht. Häufig beschränkt sich die finanzwissenschaftliche Debatte auf die zu erwartenden Kosten seiner Einführung und deren Deckung.
In dieser Arbeit steht jedoch eine andere Frage im Vordergrund, die in Populärdiskussionen mit wissenschaftlich nicht fundierten Wunsch- oder Angstvorstellungen beantwortet wird: Wie wirkt sich die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (nach Definition des Basic Income Earth Network, BIEN) auf die Höhe der Löhne aus?
Bei der Abgrenzung zu anderen Formen der Mindestsicherung wird insbesondere auf die negative Einkommensteuer eingegangen, da diese von vielen Ökonomen -fälschlicherweise- mit dem hier untersuchten Vorschlag gleichgesetzt wird.
Die Beantwortung der eigentlichen Fragestellung erfolgt nun durch die Modifikation verschiedener Modelle der Lohnbildung. Die Verwendung mehrerer Modelle ist notwenig, da in diesem Feld keine einheitlich anerkannte Theorie existiert. Die verwendeten Modelle lassen sich in drei Gruppen unterteilen: neoklassische, gewerkschaftstheoretische und Effizienzlohnmodelle.
Die Analyse ergibt, dass die zu erwartenden Wirkungen im Wesentlichen vom zu Grunde liegenden Lohnbildungsmodell abhängen. Bezüglich der Wirkungsrichtung finden sich dabei bemerkenswerte Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppen. Die Arbeit kommt daher zu dem Schluss, dass eine Vorhersage der Lohnauswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens nur möglich ist, wenn der Lohnbildungsmechanismus im betrachteten Arbeitsmarkt genauer spezifiziert wird. Für die eingangs erwähnten Populärdiskussionen dürfte hierbei der grobe Bezug auf eine der Theoriegruppen genügen.
Weiterer Forschungsbedarf besteht insbesondere in Bezug auf die Ausgangsbedingungen. In dieser Arbeit wird die Existenz sozialer Sicherungssysteme weitestgehend vernachlässigt. Dies erfolgte aufgrund der immensen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Staaten und teilweise sogar innerhalb einzelner Staaten bestehen. Um Aussagen in Bezug auf einen bestimmten Staat treffen zu können, muss dessen existierendes System berücksichtigt werden, so dass letztlich Fallstudien erforderlich sind.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Symbolverzeichnis
1. Einleitung
2. Das bedingungslose Grundeinkommen
2.1 Begriffsdefinitionen
2.2 Historische Wurzeln der Grundeinkommensforderung
2.3 Neuere Entwicklungen und Begründungen
2.3.1 Diskussionen in Politik und Medien
2.3.2 Ausgewählte Argumentationsmöglichkeiten
3. Das neoklassische Modell des Arbeitsmarktes
3.1 Das Standardmodell
3.1.1 Arbeitsangebot (Arbeit-Freizeit-Modell)
3.1.2 Arbeitsnachfrage
3.1.3 Arbeitsmarkt und Gleichgewichtslohnsatz
3.2 Das Grundeinkommen im Standardmodell
3.2.1 Wirkung auf das Arbeitsangebot
3.2.2 Die Wirkung auf die Arbeitsnachfrage
3.2.3 Die Wirkung auf den Gleichgewichtslohn am Arbeitsmarkt
4. Gewerkschaftsmodelle
4.1 Gewerkschaften als monopolistische Arbeitsanbieter
4.2 Lohnverhandlungen als Rubinstein-Spiel
4.3 Lohnverhandlungen auf betrieblicher Ebene
4.4 Empirischer Widerspruch zur Gewerkschaftstheorie
5. Effizienzlöhne
5.1 Shirking
5.2 Fluktuationskosten
5.3 Ernährung
5.4 Gift Exchange
6. Zusammenfassung der Ergebnisse
Literatur
Appendix 1
Appendix 2
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Negativsteuer mit linearer Tariffunktion. Quelle: angelehnt an Kress (1994:247).
Abbildung 2: Grundeinkommen und lineare Einkommensteuer.
Abbildung 3: Arbeitslosigkeitsfalle durch hohe Transferentzugsrate.
Abbildung 4: Das Arbeit-Freizeit Modell.
Abbildung 5: Das Arbeit-Freizeit-Modell mit Subsistenzrestriktion
Abbildung 6: Das Arbeit-Freizeit-Modell mit bindender Subsistenzrestriktion.
Abbildung 7: Das neoklassische Arbeitsmarktmodell. Quelle: angelehnt an Schmid/von Dosky (1990:6).
Abbildung 8: Der Arbeitsmarkt unter Berücksichtung Subsistenzeinkommens.
Abbildung 9: Einkommenseffekt eines Grundeinkommens ohne Berücksichtigung der Finanzierung.
Abbildung 10: Gesamteffekt der Einführung eines Grundeinkommens mit Steuerfinanzierung.
Abbildung 11: Gesamteffekt der Besteuerung (Grundeinkommen ausgeblendet).
Abbildung 12: Slutsky-Zerlegung.
Abbildung 13: Die Wirkungen eines Grundeinkommens auf den Arbeitsmarkt.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Symbolverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„Allerdings sollte die Volkswirtschaftslehre […] sofort und direkt nach einer Institution forschen, die jedem Menschen jene dauernde Versorgung sichert, sie tut dies aber nicht; sie vergißt dieses Ziel aller Wirtschaft und heftet ihren Blick bloß auf das so unvollkommene und so viel Unglück bringende heutige System der Volkswirtschaft […].“
Popper-Lynkeus (1912)
1. Einleitung
Neue Ideen, vor allem solche, die noch nicht in der Praxis erprobt wurden, und die zudem im Kontrast zu Altbekanntem stehen, werden grundsätzlich ablehnend betrachtet und erfahren Widerstand. Dieser Widerstand kann zwar einerseits zu einer Stagnation der Entwicklung, zu einem Verharren im Status quo führen, andererseits zwingt er die Befürworter neuer Ideen aber auch, ihre Vorschläge genau auszuarbeiten und auf ihre Wirkung hin umfassend zu untersuchen [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:98); Standing (2002:204)]. Eine solche nicht praxiserprobte Idee stellt das bedingungslose und universell garantierte Grundeinkommen[1] dar, zu dessen Analyse diese Arbeit einen Beitrag liefert. Ausgangspunkt der Untersuchung sind zwei sich augenscheinlich widersprechende Aussagen zu den Wirkungen des Grundeinkommens auf die Lohnhöhe (aus Sicht des Arbeitnehmers), beziehungsweise der Arbeitskosten (aus Sicht des Arbeitgebers). Auf der einen Seite steht die Behauptung, seine Einführung verursache ein doppeltes Sinken der Arbeitskosten. Erstens fielen Sozialversicherungsbeiträge weg, da die Leistungen der meisten Sozialversicherungen überflüssig würden, und sie dementsprechend abgeschafft werden könnten. Zweitens könnten ohne größere Widerstände der Arbeitnehmer die Löhne in dem Maße abgesenkt werden, in dem das bedingungslose Grundeinkommen für Einkommen sorge [vgl. Iacobacci/Seccarecci (1989:153); Roberts (1986:102); Werner (2005:4)]. Alternativ lässt sich in diese Richtung argumentieren, dass ohne den Zwang, ein Einkommen erwirtschaften zu müssen, sich Arbeitnehmer Tätigkeiten suchen können, die ihnen ‚Freude’ im Sinne eines positiven Arbeitsnutzens bereiten. Angenommen, die Arbeitspräferenzen der Individuen seien nicht auf alle Arbeitsplätze gleich verteilt, sondern besäßen bei bestimmten Stellenprofilen relative Häufigkeitsmaxima, würde dies dazu führen, dass das Arbeitsangebot für diese Tätigkeiten stiege. Die Entlohnung dieser Tätigkeiten könnte ohne Rücksicht auf die finanzielle Sicherung des Arbeitnehmers auf das Marktgleichgewicht sinken[2].
Auf der anderen Seite steht die Argumentation, ein bedingungsloses Grundeinkommen führe zu Lohnsteigerungen. Die Einkommenssicherheit der (potentiellen) Arbeitnehmer reduziere den Zwang, jede Arbeit zu jedem Preis anzunehmen. Die gewonnene Entscheidungsfreiheit erhöhe die Verhandlungsmacht gegenüber dem (potentiellen) Arbeitgeber, so dass bessere Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden könnten [vgl. Rotthaus (2006:8); Van Parijs (1992b:230)]. Dies gelte zum einen für unangenehme Tätigkeiten, die sich nach dem Stand der Technik zum entsprechenden Zeitpunkt nicht ohne Weiteres durch Maschinen verrichten ließen und daher so hoch entlohnt werden müssten, dass sich ein Arbeitnehmer für sie fände [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:46)]. Es gelte aber auch für Tätigkeiten, in denen das Arbeitsumfeld zur Höhe des Arbeitsleids beitrage. Die Arbeitskosten stiegen demnach, weil Arbeitsplätze umgestaltet werden müssten, damit sich genügend Personal fände [vgl. Standing (2002:210)].
Ziel dieser Arbeit ist die Klärung der Wirkung eines bedingungslosen Grundeinkommens auf Löhne mittels einer theoretischen Analyse. Dabei werden verschiedene Modelle herangezogen, die Erklärungsansätze für die Lohnbildung liefern. Neben dem neoklassischen Standardmodell (Kapitel 3) werden Gewerkschaftsmodelle (Kapitel 4) und Effizienzlohnmodelle (Kapitel 5) betrachtet. Da es keine einheitliche Theorie kollektiver Lohnverhandlungen gibt [vgl. Hirsch et al. (1990:12); Franz (2006:286)], wurden aus der Vielzahl der existierenden Modelle solche ausgewählt, die aufgrund ihres Aufbaus und ihrer originären Zielsetzung besonders zur Untersuchung der Fragestellung dieser Arbeit geeignet schienen. Ziel ist es nicht, das theoretische Für und Wider der einzelnen Modelle im Detail zu untersuchen und ihre empirische Relevanz zu testen. Vielmehr erlaubt diese Arbeit den Befürwortern der jeweiligen Modelle, sich einen Überblick über die in deren Rahmen zu erwartenden Implikationen der Einführung eines Grundeinkommens zu verschaffen.
Da praktische Erfahrungen nur mit partiellen Grundeinkommen [APFC (2006)] und Negativsteuervarianten mit Arbeitszwang und Bedarfsprüfung [Pechman/Timpane (1975)] vorliegen, ist die empirische Untersuchung der Grundeinkommensidee bestenfalls auf Simulations- [Mercader-Prats (o.J.)] oder Befragungsbasis [Hedges (1994)] möglich. Diese Arbeit konzentriert sich daher primär auf die theoretische Untersuchung der Fragestellung und verweist, sofern vorhanden, nur kurz auf die Empirie.
Vor der theoretischen Analyse wird zunächst in Kapitel 2 die zu diskutierende Idee des bedingungslosen Grundeinkommens dargestellt und die Unterschiede zu anderen Formen der sozialen Sicherung verdeutlicht. Die Skizzierung der Ideengeschichte und die Sammlung einiger aktueller Argumente sollen dabei dem nicht mit der Thematik vertrauten Leser einen groben Einblick über die diskutierte Idee geben. Keinesfalls erhebt diese Arbeit den Anspruch einer lückenlosen Darstellung der Geschichte und Gegenwart der Grundeinkommensdiskussion, die genügend Material für jeweils mindestens eine eigene Arbeit böten.
2. Das bedingungslose Grundeinkommen
2.1 Begriffsdefinitionen
Bedingt durch die teilweise unabhängig verlaufenen Entwicklungsprozesse [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:14)] und die zahlreichen mehr oder weniger großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Konzepten und Ausgestaltungen, findet sich in der einschlägigen Literatur eine Vielzahl von Bezeichnungen für Grundeinkommenssysteme. Dieses Kapitel liefert zunächst einen Überblick über häufig anzutreffende Begriffe und deren Abgrenzung zueinander.[3] Die hier gegebenen Definitionen können jedoch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, da die genaue Definition der verwendeten Begriffe von Autor zu Autor variiert. Selbst in ein und demselben Sammelband finden sich manchmal von Aufsatz zu Aufsatz unterschiedliche, teils widersprüchliche Definitionen desselben Ausdrucks [vgl. Van Parijs (1992a:30)]. Die Definitionen dieses Kapitels sollen vielmehr dem grundsicherungs- und speziell dem grundeinkommensliterarischen Neueinsteiger einen groben Überblick verschaffen und die Begriffsverwendung im Rahmen dieser Arbeit festlegen.
Alle vorgestellten Ausdrücke lassen sich unter dem Oberbegriff ‚soziale Grundsicherung’ zusammenfassen. Ein System der sozialen Grundsicherung hat das Ziel, die physische Existenz jedes Individuums unabhängig von dessen erbrachten Vorleistungen sicher zu stellen [vgl. Ehnis (2002:33); Gretschmann et al. (1989:152); Wolf (1991:386)]. Sozialversicherungssysteme gehören daher nicht zu den Grundsicherungssystemen, da dort der individuelle Sicherungsanspruch durch vorangehende Beitragszahlungen erworben werden muss [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:13)]. Die physische Existenzsicherung kann in Form von Sach- oder Geldleistungen erbracht werden. Ein Praxisbeispiel für eine Sachleistung ist die unentgeltliche medizinische Versorgung in Großbritannien [vgl. Wolf (1991:386f.)]. Aussagen hinsichtlich der Universalität, Individualität und eventueller Bedürftigkeitsprüfungen lassen sich aus dem Grundsicherungsbegriff nicht ableiten [vgl. Ehnis (2002:35)].
Als ‚garantiertes Mindesteinkommen’ werden regelmäßig gezahlte Geldleistungen des Staates an Bedürftige bezeichnet. Sie sind in ihrer Höhe an den Haushaltskontext gebunden und setzen die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme voraus [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:13)]. Eigenes Einkommen wird dem Haushalt zu einem bestimmten Prozentsatz, der Transferentzugsrate, angerechnet, das heißt, der Transferanspruch wird bei vorhandenem Haushaltseinkommen um diesen Prozentsatz des Einkommens gekürzt. Praxisbeispiele für Mindesteinkommenssysteme sind die britische ‚social security’, die deutsche ‚Sozialhilfe’ und die französische ‚revenu minimum d’insertation’ [vgl. Van Parijs (1992a:4)]. Wie das Beispiel der Sozialhilfe zeigt, werden dabei mitunter auch Teile der Geldleistung durch Sachgüter und Gutscheine ersetzt.
Ein ‚bedingungsloses Grundeinkommen’[4] ist „ein Einkommen, das von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung individuell ausgezahlt wird“ (Vanderborght/Van Parijs (2005:14)). Es ist in seiner Höhe unabhängig von weiterem Einkommen [vgl. Van Parijs (1992a:3)] und stellt einen Rechtsanspruch des Individuums gegenüber dem Staat dar [vgl. Wolf (1991:392)]. Als Gesellschaftsmitglieder werden dabei meist alle Staatsbürger, die ihren Wohnsitz im Inland haben, bezeichnet [vgl. Roberts (1986:99)]. Häufig wird die Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens durch das Hinzufügen von Adjektiven wie ‚ausreichend’ (für Grundeinkommen oberhalb des Existenzminimums) oder ‚partiell’ (für Grundeinkommen unterhalb des Existenzminimums) klarer umrissen [vgl. Mercader-Prats (o.J.:3)].
Existieren neben der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen weitere Anspruchsgrundlagen, handelt es sich um ein ‚bedingtes Grundeinkommen’. Ein Beispiel dafür findet sich in Brasilien, wo seit 2001 Mütter eine regelmäßige Zahlung erhalten, wenn sie ihre Kinder nicht arbeiten, sondern zur Schule gehen lassen [vgl. Standing (2002:214)].
Als ‚negative Einkommenssteuer’ oder ‚Negativsteuer’[5] wird eine Variante der Grundsicherung bezeichnet, bei der die Transferzahlung in das Steuer-
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Negativsteuer mit linearer Tariffunktion. Quelle: angelehnt an Kress (1994:247).
system integriert ist [vgl. Kress (1994:246)]. Vom Gesetzgeber wird ein Minimaleinkommen (Nettoeinkommensniveau M in Abbildung 1) bestimmt, das -abhängig von der konkreten Ausgestaltung- jeder Person oder jedem Haushalt zur Verfügung stehen soll. Eine Person oder ein Haushalt ohne eigenes Einkommen erhält genau diesen Betrag M ausgezahlt. Alle zusätzlichen Einkommen werden ohne Freibeträge versteuert, so dass der Grenzsteuersatz in diesem Modell äquivalent zur Transferentzugsrate ist. Von den zu zahlenden Einkommensteuern wird das Minimaleinkommen abgezogen, woraus eine Nettosumme resultiert. Ist diese Summe negativ, erhält die Person eine Zahlung des Finanzamtes (Fläche N in Abbildung 1), ist sie positiv, muss sie Steuern an das Finanzamt zahlen (Fläche Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten in Abbildung 1). Das Bruttoeinkommen, für das diese Summe genau null ist, heißt Transfergrenze (Punkt Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten in Abbildung 1 und Abbildung 2) [vgl. Kress (1994:246)]. In der hier beschriebenen Variante mit Personenbezug ist die Negativsteuer eine spezielle Form des Grundeinkommens.
Van Parijs (1992a:4) wendet ein, dass eine Negativsteuer erst nach Eingang der Steuererklärung ausgezahlt werde und infolge dessen eine ex post-Zahlung sei, während ein Grundeinkommen ex ante ausgezahlt werde. Gleichzeitig sei die Zahlung nicht universell, da nur Personen mit niedrigem Einkommen sie erhielten. Diese Einwände lassen sich dadurch entkräften, dass Van Parijs (1992a:3) eigene Definition eines Grundeinkommens (siehe oben) keine Einschränkung des Zahlungszeitpunktes beinhaltet. Selbst wenn die Definition um das Kriterium monatlicher Auszahlung ergänzt würde, stellte dies kein Problem dar. Die Negativsteuer könnte mit den monatlichen Steuerzahlungen, die der Arbeitgeber dem Lohnempfänger direkt vom Bruttolohn abzieht, verrechnet werden. Personen ohne Lohneinkommen erhielten das festgelegte Minimaleinkommen für diesen Monat ausgezahlt. Nach Eingang der Steuererklärung könnten alle Einkommen festgestellt, alle Forderungen und Leistungen des Finanzamtes saldiert und zuviel gezahlte Negativsteuern zurückgefordert werden.
Der Einwand, eine Negativsteuer sei nicht universell, ist ebenfalls nicht zutreffend. Der Haushaltsbezug der Einkommensteuer ist zwar in der Praxis häufig anzutreffen, stellt aber keine zwingende Eigenschaft eines Einkommensteuersystems dar. Der Individualbezug ist ebenso möglich, so dass ein entsprechend ausgestaltetes Negativsteuersystem durchaus mit der Definition eines Grundeinkommens kompatibel ist. Die Saldierung mit den Steuerforderungen des Finanzamtes führt lediglich zu einer Reduzierung der bewegten Geldmengen und damit zu geringerem Verwaltungsaufwand [vgl. Kress (1994:247)]. Die unterschiedliche Größe der bewegten Geldmengen lässt sich durch einen Vergleich der Abbildungen 1 und 2 veranschaulichen. Beiden Abbildungen liegt derselbe Steuertarif zugrunde. In Abbildung 1 wird ein Mindesteinkommen M über eine negative Einkommensteuer realisiert. In Abbildung 2 erhält jeder Bürger ein Grundeinkommen, dessen Höhe g mit dem Mindesteinkommen M identisch ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Grundeinkommen und lineare Einkommensteuer.
Die Summe der eingenommenen Steuern ist in Abbildung 1 (Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten) geringer als in Abbildung 2 (Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten). Ebenso ist die Summe der ausgezahlten Transferleistungen in Abbildung 1 (N) niedriger als in Abbildung 2 (åg). Die bewegte Geldmenge als Summe der jeweiligen Steuereinnahmen und Transferausgaben ist im Negativsteuersystem daher geringer als im Grundeinkommenssystem.
Neben der hier vorgestellten Variante sind in der Literatur häufig Negativsteuermodelle zu finden, die den Charakter eines garantierten Mindesteinkommens haben, da sie an die Teilnahme am Erwerbsleben gebunden sind [vgl. z.B. Mitschke (2000)]. In der Praxis ist dies ebenfalls gängig. Beispielsweise ist der Anspruch auf ‚Earned Income Tax Credits’ in den Vereinigten Staaten an bestimmte Formen der Erwerbstätigkeit und des Haushaltes geknüpft [vgl. Standing (2002:215)]. Entsprechend sind die sozialpolitischen und ökonomischen Auswirkungen einer negativen Einkommensteuer nur in Abhängigkeit der betrachteten Variante zu beurteilen. Rückschlüsse auf die Wirkung der grundeinkommensäquivalenten Variante der Negativsteuer können aus den Erfahrungen mit dem ‚Earned Income Tax Credit’- Modell nicht gezogen werden.
Die Finanzierung aller vorgestellten Grundsicherungsformen erfolgt üblicherweise über Steuern [vgl. Wolf (1991:392)], kann aber auch über spezielle Fonds erfolgen[6], die beispielsweise über Gewinne aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen gespeist werden [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:36)].
2.2 Historische Wurzeln der Grundeinkommensforderung
Die Entwicklung des Grundeinkommens ist eng mit der Entwicklung anderer Formen der Grundsicherung verflochten und daher kaum zu trennen. Dieses Kapitel stellt klassische Werke vor, die verschiedene Gedanken des Grundeinkommens thematisieren, auch wenn die Gesamtkonzepte der Autoren kein Grundeinkommen nach der Definition des Kapitels 2.1 darstellen. Den Ausgangspunkt stellt hierbei die 1516 von Thomas Morus[7] veröffentlichte Beschreibung des fiktiven Staates ‚Utopia’ dar, in der erstmals die Idee einer universellen Versorgung aller Bürger erwähnt wird [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:15)]. Morus analysiert das damalige englische Strafrecht, in dem Diebstahl mit dem Tode bestraft wird. Er sieht die Ursache für die, trotz der drakonischen Strafen, anhaltend hohe Anzahl an Diebstählen in der Existenznot vieler Menschen, die er hauptsächlich auf einen Wandel am Produktionssektor zurückführt. Durch das übermäßige Wachstum der Wollproduktion werde Ackerland zu Weideland umgeformt. Die Bauern verlören ihre gepachteten Äcker und fänden keine neue Arbeit, da die Viehhaltung weniger Arbeitskräfte benötige als der Ackerbau. Um ihre physische Existenz zu sichern, könnten sie mangels Arbeitsplatz nur betteln oder stehlen, doch beides werde bestraft [vgl. More (2004:31)]. Die Angst vor Mangel sei die Triebkraft, die das Böse im Menschen hervorbringe [vgl. More (2004:110)]. Diebstahl ließe sich daher am wirkungsvollsten eindämmen, wenn der Staat statt mit Bestrafung zu reagieren dafür sorge, „daß sie [die Armen, Anm. C.M.] genug zu ihrem Lebensunterhalt haben“ (More (2004:24)). Aus der Arbeitswelt Utopias berichtet Morus, wie mittels allgemeiner Arbeitspflicht die allgemeine Versorgung mit Grundgütern in mehr als ausreichendem Maße gesichert werde. Die Verteilung der Arbeit auf alle Bürger ermögliche die Reduzierung der Arbeitszeit des Einzelnen, so dass jeder Arbeiter nicht mehr als sechs Stunden täglich zu arbeiten brauche, und damit über entsprechend viel Freizeit verfügen könne [vgl. More (2004:98ff.)].
Praktisch ist die Unterstützung der Armen in Europa bis ins 16. Jahrhundert hinein die Aufgabe der Kirchen und Gläubigen, die sich durch das Gebot der Nächstenliebe zur Fürsorge verpflichtet fühlen. Die Organisation ist dabei auf kommunale Grenzen beschränkt, so dass sich die Versorgungslage von Ort zu Ort unterscheidet [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:15f.)].
Johannes Ludovicus Vives[8] stellt 1526 vor den Bürgermeistern der niederländischen Stadt Brügge den Antrag, die Armenfürsorge zu verstaatlichen [vgl. Vives (2002:3)]. Er greift dabei wiederum das Argument der Verbrechensbekämpfung auf, führt aber auch die höhere Effizienz der öffentlichen Organisation verglichen mit Privatspenden an [vgl. Vives (2002:93); Vanderborght/Van Parijs (2005:16)]. Wenige Jahre später (1531) wird erstmals ein überregional einheitlicher Maßnahmenkatalog zur Regelung der Unterstützungsleistungen für Arme erlassen, der für das gesamte damalige Gebiet der Niederlande gilt [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:16)].
In einer Rede vor der ‚Philosophischen Gesellschaft’ in Newcastle 1775 argumentiert Thomas Spence, dass die Erde allen Menschen gleichermaßen gehöre und daher kein Mensch das Recht habe, einen Teil derselben als sein Eigentum zu bezeichnen [vgl. Spence (1904:23 und 25)]. Landbesitzer sollen an die Gemeinde, in der sich ihr Land befindet, eine ‚Grundrente’ zahlen, da sie vom Eigentum der Allgemeinheit profitierten. Aus dieser würden nicht nur die Armen- und Arbeitslosenunterstützungen, sondern, bei Abschaffung aller anderen Abgaben, auch sämtliche öffentlichen Ausgaben und Investitionen finanziert werden [vgl. Spence (1904:28 und 30)]. 1797 spricht sich Spence schließlich für eine regelmäßige Zahlung an alle aus, die er durch eine Versteigerung der Nutzungsrechte an öffentlichen Gebäuden finanzieren will [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:23)].
Im englischen Speenhamland wird 1795 angesichts einer drohenden Hungersnot und dadurch verursachter Aufstände die erste Zahlung von monetären Einkommensbeihilfen an Bedürftige eingeführt. Die Höhe der Beihilfe ist an die Größe des Haushaltes und das Preisniveau (gemessen durch den Getreidepreis) gekoppelt. Dieses System hat allerdings nur 39 Jahre Bestand. Zunächst auf die Nachbargebiete übertragen, wird es zugunsten einer Renaissance der Arbeitshäuser 1834 wieder abgeschafft. Die Arbeitshäuser entstanden infolge der britischen Armengesetze am Ende des 16. Jahrhunderts. In ihnen mussten Fürsorgeempfänger als Gegenleistung für ihre Grundversorgung arbeiten [vgl. Jahn (o.J.:2); Vanderborght/Van Parijs (2005:17)].
1796 erarbeitet Thomas Paine einen konkreten Plan für eine einmalige Zahlung an alle volljährig werdenden Personen, den er der französischen Revolutionsregierung vorlegt [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:21)] und wie folgt begründet. Im Vergleich der zivilisierten, europäischen Gesellschaften mit den unzivilisierten, nordamerikanischen Indianern steche hervor, dass es bei letzteren keine Armut gebe. Dies sei erstaunlich, da die Produktivität der Landwirtschaft, gemessen an der Zahl der Personen, die der Ertrag einer bestimmten Landfläche versorgen kann, in den zivilisierten Ländern wesentlich höher sei. Paine fordert, dass es in einem zivilisierten -und damit höher entwickelten- Land niemandem schlechter gehen dürfe als in einem unzivilisierten [vgl. Paine (1995:398)]. Als Ursache für Armut identifiziert er, ähnlich wie Spence, die illegitime Aneignung von Land durch einige Wenige. Da Gott die Erde allen Menschen gleichermaßen gegeben habe, könne sich der Landbesitz nicht auf dieses Allgemeingut, sondern nur auf den untrennbar mit dem Boden verbundenen technologischen Fortschritt, also die Kultivierung der Ländereien, beziehen. Für die unvermeidliche Inbesitznahme des Allgemeingutes, die untrennbar mit dem Eigentum an dem erarbeiteten oder ererbten technologischen Fortschritt hänge, schulde jeder Landbesitzer der Gemeinschaft eine ‚Grundrente’ [vgl. Paine (1995:398)]. Als Entschädigung für den Verlust ihres Anteils am Allgemeingut solle jede Person im Alter von 21 Jahren einen einmaligen Betrag von 15₤ erhalten. Weiterhin solle jede Person ab einem Alter von 50 Jahren jährlich 10₤ erhalten [vgl. Paine (1995:400)]. Behinderte Menschen („the blind and lame“, (Paine (1995:405))) sollen unabhängig von ihrem Alter 10₤ jährlich erhalten. Die finanzielle Unterstützung der Einundzwanzigjährigen sei nicht nur gerecht, sondern stelle auch eine ökonomische Investition dar. Die Möglichkeit, sich mit dem Startkapital eine eigene ökonomische Existenz aufzubauen, führe dazu, dass aus potentiellen Fürsorgefällen („burthens for society“, (Paine (1995:407))) produktive Gesellschaftsmitglieder würden.
1803 fordert Charles Fourier für alle Armen einen Ausgleich in Form von Naturalien, die sie für den Verlust ihrer gottgegebenen Grundrechte auf freies Jagen und Sammeln in der Natur kompensieren würden. Sein Schüler Joseph Charlier fordert 1848 die Umverteilung der Bodenrente als Ausgleich für die von Fourier genannten Verluste [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:23f.)]. Charlier sieht dabei schon ein Gegenargument, dass Grundeinkommensgegner noch heute anführen: Ein bedingungslos garantiertes Einkommen sei eine Einladung zur Faulheit. Charlier hält dies jedoch für unproblematisch, da jeder Mensch frei entscheiden könne, ob er einen höheren Lebensstandard als den durch das Grundeinkommen garantierten anstrebe. Wenn er dies wolle, so müsse er dafür arbeiten [vgl. Charlier (1894:56), zitiert nach Vanderborght/Van Parijs (2005:25)]. Diese implizite Gleichstellung des Nichtstuns mit der Erwerbsarbeit stößt in unserer westlichen Gesellschaft auch heute noch auf Ablehnung [vgl. Horn (2006:15)]. Dabei stammt die enge Verbindung zwischen ‚Essen und Arbeit’ aus einer Zeit, in der ein Mangel an Grundnahrungsmitteln herrschte. Die Angst vor Hungersnöten erhob die Arbeit als einen Beitrag zur Mangelminderung vom bloßen Mittel zum Ziel der Existenz [vgl. Fromm (1986:19); Füllsack (2002:45f.)]. Paul Lafargue (1966:21) verweist zudem darauf, dass die Wertschätzung von Arbeit ein kulturelles Phänomen sei. Er hebt in seiner 1887 erstmals erschienenen Schrift beispielsweise die spanische Kultur seiner Zeit hervor, in der Arbeit mit Sklaverei gleichgesetzt werde. Auch im antiken Griechenland sei Arbeit nur etwas für Sklaven gewesen [vgl. Lafargue (1966:20)]. Er wundert sich daher, warum die Franzosen die Durchsetzung des ‚Rechts auf Arbeit’ feiern, anstatt ein Verbot übertriebener Arbeitszeiten zu fordern [vgl. Lafargue (1966:44)]. Er konstatiert, dass eben diese gesellschaftliche Überbewertung von Lohnarbeit die Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse sei [vgl. Jahn (o.J.:1)]. Als Schwiegersohn von Karl Marx teilt Lafargue zwar dessen Auffassung, der Ertrag der Produktion müsse statt an die Kapitaleigner an die Arbeiter fließen [vgl. Blaschke (2004:9)], in der Konsequenz unterscheiden sich die beiden Autoren jedoch. Marx sieht die volle Arbeitsleistung jedes einzelnen trotz steigender Produktivität als notwendige Voraussetzung, um einen sozialistischen Staat aufbauen zu können [vgl. Jahn (o.J.:1)]. Lafargue folgert hingegen, dass die steigende Produktivität es erlaube, die Arbeitszeit zu verkürzen, ohne die Güterversorgung der Allgemeinheit reduzieren zu müssen [vgl. Blaschke (2004:9)]. Er schlägt eine tägliche Arbeitszeit von drei Stunden vor [vgl. Lafargue (1966:47)].
Josef Popper-Lynkeus veröffentlicht 1912 eine Arbeit, in der er das Recht auf eine universelle Grundversorgung, die er ‚allgemeine Nährpflicht’ nennt, nicht nur propagiert, sondern auch einen Plan zu deren praktischer Umsetzung liefert. Er sieht darin die Lösung der ‚sozialen Frage’, die er als “die Frage nach einer Institution, die geeignet ist, jedem Menschen die notwendige ökonomische Lebenshaltung zu sichern, ohne daß derselbe von dem Willen anderer Menschen abhängig gemacht wird“ (Popper-Lynkeus (1912:9)) definiert. Sollte die verfügbare Menge an Nahrungsmitteln, Wohnraum und Kleidung, die für ihn die Grundversorgung ausmachten, nicht ausreichen, sollte auch der Mangel unter allen Einwohnern des Staates gleichmäßig verteilt werden. Zur Begründung gibt er sein persönliches Gerechtigkeitsempfinden an [Popper-Lynkeus (1912:10)]. An das Recht auf eine garantierte Grundversorgung durch den Staat koppelt er eine Arbeitspflicht. Popper-Lynkeus teilt die Wirtschaft dazu in einen Grundbedarfs- und einen Luxusproduktionssektor ein. Die Arbeitspflicht soll im Grundbedarfssektor abgeleistet werden [vgl. Blaschke (2004:9); Vanderborght/Van Parijs (2005:28)]. Der Kontext von Popper-Lynkeus Überlegungen ist dabei jedoch ein Mangel an Lebensnotwendigem. Der Pflichtarbeitseinsatz jedes Individuums dient der Mangelbeseitigung, nicht der Überflussproduktion. Die Betonung Popper-Lynkeus liegt daher weniger in der Arbeitspflicht des Individuums, sondern in dem Versuch, durch eine kollektive Anstrengung, bei der jeder Arbeiter gebraucht wird, den Mangel zu beseitigen [Popper-Lynkeus (1912:87 und 158)]. Aus diesem Grund ist der Einschätzung von Vanderborght/Van Parijs (2005:28), die Popper-Lynkeus Vorschlag wegen des Pflichtdienstes nicht als ‚bedingungsloses Grundeinkommen’ bezeichnen, zwar prinzipiell korrekt, sie verkennt jedoch die Versorgungslage, aus welcher diese Dienstpflicht herrührt. Was die ‚allgemeine Nährpflicht’ von einem Grundeinkommen unterscheidet, ist vielmehr die Verteilung materieller Güter statt eines monetären Einkommens.
Vom Ende des ersten Weltkriegs bis Mitte des 20. Jahrhunderts finden in Großbritannien Diskussionen über ein Grundeinkommen im eigentlichen Sinne statt. Dennis Milner arbeitet einen entsprechenden Vorschlag aus, der 1920 auf dem Parteitag der Labour Party zwar zur Abstimmung steht, aber schließlich von den Delegierten abgelehnt wird [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:18)]. Auch die Unterstützung der Oxforder Wirtschaftswissenschaftler James Meade und George Cole kann keine nachhaltig erfolgreiche Debatte über das Grundeinkommen entfachen, so dass letztlich Mitte des 20sten Jahrhunderts ein bedarfsgeprüftes, allgemeines Mindesteinkommens eingeführt wird [vgl. Van Parijs (1992a:6); Vanderborght/Van Parijs (2005:18 und 28)]. In den Folgejahren führen alle europäischen Länder meist bedarfsgeprüfte, von der Haushaltsgröße abhängige Mindestsicherungen ein. Dabei halten sie, wie schon im Großbritannien des 16. Jahrhunderts, an der Bedürftigkeitsprüfung und der Arbeitsbereitschaft der Unterstützungsempfänger fest [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:19f.)].
2.3 Neuere Entwicklungen und Begründungen
2.3.1 Diskussionen in Politik und Medien
In den 1960er Jahren findet in den Vereinigten Staaten eine Debatte über die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme statt, in deren Rahmen Milton Friedman die bis heute vor allem bei liberalen Ökonomen populäre negative Einkommensteuer entwickelt [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:27)], die bereits in Kapitel 2.1 beschrieben wurde. James Tobin erarbeitet im Gegenzug ein Grundeinkommenskonzept, das er ‚demogrant’ nennt und welches 1972 in die Wahlagenda des demokratischen Präsidentschaftskandidaten George McGovern aufgenommen wird. Zeitgleich arbeitet die Regierung Nixon eine Friedmansche Negativsteuer aus, die der Senat jedoch ablehnt. Mit dem Ende der Nixon-Ära 1974 endet auf nationaler Ebene auch die US-amerikanische Debatte um die negative Einkommensteuer [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:30)].
Auf bundesstaatlicher Ebene wird 1976 in Alaska die bisher umfangreichste Bewegung in Richtung eines Grundeinkommens unternommen. Mit dem ‚Alaska Permanent Fund’ wird ein Pool für die Erlöse aus der dortigen Erdölgewinnung geschaffen. Aus diesem Pool erhält jeder Einwohner des Bundesstaates eine jährliche, lediglich vom Einwohnerstatus abhängige Zahlung. Ursprünglich war der Gedanke hinter der Einführung nicht nur, durch die intertemporäre Glättung des Einkommens das Durchschlagen der starken Schwankungen des Weltmarktpreises für Rohöl auf die Wirtschaft abzufedern [vgl. Warrack/Keddie (1998:1)], sondern die Einwohner zudem zum Verbleib im unwirtlichsten aller US-Bundesstaaten zu bewegen. Aus diesem Grund war anfangs die Zahlung in Abhängigkeit der Anzahl der in Alaska verbrachten Jahre abgestuft, was das US-Verfassungsgericht jedoch als Diskriminierung von Zuwanderern und damit als Verfassungsverstoß ansah. Das Gericht verwandelte demnach 1982 die Zahlungen in ein Grundeinkommen [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:36)]. Die Höhe des Grundeinkommens ist seit seiner Einführung sehr volatil und schwankte bislang zwischen 331,29 $ (1984) und 1963,86 $ (2000). Die letzte Auszahlung (2005) betrug 845,76 $ [vgl. APFC (2006)]. Es handelt sich daher um ein partielles und keinesfalls um ein existenzsicherndes Grundeinkommen.
In den 1970ern und 1980ern tauchen Grundeinkommensvorschläge in verschiedenen Ausgestaltungen in Kanada und Europa auf, ohne sich jedoch durchsetzen zu können. So kommt beispielsweise 1978 aus Dänemark ein dem ‚demogrant’ ähnelnder Vorschlag [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:31)]. In den Niederlanden führen die Aufnahme der Grundeinkommensforderung in das Programm der im damaligen Parlament vertretenen Politieke Partij Radicalen 1977 und die Unterstützung des Grundeinkommens durch die Lebensmittelgewerkschaft Voedingsbond FNV zur politischen und öffentlichen Diskussion verschiedener Grundeinkommensvarianten. Letzteres ist besonders bemerkenswert, da sich Gewerkschaften üblicherweise aktiv gegen die Grundeinkommensforderung stellen oder sie zumindest nicht unterstützen [vgl. Vanderborght (2006)]. 1985 empfiehlt der niederländische ‚Wissenschaftliche Beirat für Regierungspolitik’ schließlich die Einführung eines partiellen Grundeinkommens [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:27)]. In Belgien wird 1997 die Partei ‚Vivant’ gegründet, deren einziges Ziel die Einführung eines Grundeinkommens ist. Durch ihre Wahlkämpfe rückt diese Partei die Grundeinkommensidee in die öffentliche Diskussion [vgl. Vanderborght (2006:9)].
In Deutschland kommt Mitte der 1980er-Jahre eine öffentliche Grundsicherungsdebatte auf, da die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit die Schwachstellen des existierenden Systems aufdeckt [vgl. Wolf (1991:387)]. Besonders häufig wird dabei die Arbeitslosigkeitsfalle[9] als Problem geschildert. Sie entsteht, wenn eine hohe Arbeitslosenunterstützung mit einer hohen Transferentzugsrate zusammenfällt. Dies führt dazu, dass Arbeitslose sich finanziell nur wenig besser stellen, wenn sie eine gering entlohnte Tätigkeit ausüben. Daher haben sie finanziell keinen Anreiz zu arbeiten und sind in der Arbeitslosigkeit ‚gefangen’ [vgl. Clark/Kavanagh (1996:401), Sesselmeier (1997:64)]. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel für ein Grundsicherungssystem, in dem dieses Problem auftritt. Der Transferempfänger sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass er ohne eigenes Einkommen ein garantiertes Mindesteinkommen in Höhe von M erhält. Arbeitet er nun so, dass sein Bruttoeinkommen zwischen M und der Transfergrenze Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten liegt, hat er durch die hohe Transferentzugsrate ein nur marginal höheres Nettoeinkom-
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Arbeitslosigkeitsfalle durch hohe Transferentzugsrate.
men als ohne Arbeitsaufnahme. Aus Sicht des Transferempfängers wird seine Arbeitsleistung folglich nur marginal entlohnt. Die existierenden, bedarfsgeprüften Grundsicherungen implizieren meist eine Transferentzugsrate von 85-100% [vgl. Klopfleisch et al. (1997:225)], da mit jeder zusätzlichen Einheit an Einkommen häufig der entsprechende Betrag von der Transferleistung abgezogen wird. Bei Arbeitslosenversicherungen kann die Transferentzugsrate sogar über 100% betragen, wenn das Einkommen durch die neue Erwerbstätigkeit geringer ist als die Versicherungsleistung.
Die Vorstellungen über die ‚richtige’ Lösung in der Grundsicherungsfrage sind dabei zwischen den Parteien weit gefächert. Ein Grundeinkommen wird einzig von den Grünen als langfristiges Ziel in das Parteiprogramm aufgenommen [vgl. Wolf (1991:388)], später jedoch wieder gestrichen. Nachdem die öffentliche, politische Diskussion einige Jahre ruhte, brachte sie Bundespräsident Horst Köhler Ende 2005 mit der Anregung, sich über eine negative Einkommensteuer nach amerikanischem Vorbild Gedanken zu machen, wieder auf die Agenda [vgl. Leithäuser (2005:1)]. Die Jugendorganisation der Grünen fordert ein Grundeinkommen und die Linkspartei.PDS hat einen detaillierten Plan für ein ebensolches ausgearbeitet [vgl. Ulmer et al. (2006:3)].
Von Seiten privater Interessengruppen und wissenschaftlicher Gemeinschaften halten die Diskussion und die Entwicklung von Grundeinkommensvarianten hingegen seit den 1980er-Jahren an. Neben regionalen und nationalen Interessenverbänden schließen sich Grundeinkommensbefürworter schon 1986 zum ‚Basic Income European Network’ (BIEN) zusammen, das sich 2004 in ‚Basic Income Earth Network’ umbenennt. Seine zweijährlichen internationalen Tagungen bilden derzeit eine der größten wissenschaftlichen Plattformen für die Grundeinkommensforschung [vgl. Vanderborght/Van Parijs (2005:34f.)].
2.3.2 Ausgewählte Argumentationsmöglichkeiten
2.3.2.1 Gerechtigkeit
Da es sich bei der Diskussion um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens um eine normative Debatte handelt, basieren die Argumente zum Großteil auf bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen der Autoren, die teils ad hoc und pragmatisch, teils philosophisch fundiert vorgetragen werden. So fragen Büchele/Wohlgenannt (1985:39), ob es gerecht sei, dass Teile der Bevölkerung in ständiger Angst um ihren Arbeitsplatz und damit um ihre wirtschaftliche Existenz leben müssten, während Beamte schon kurz nach dem Start ins Erwerbsleben einen lebenslangen Schutz vor Entlassung genössen. Standing (2002:208) fragt, warum das Reziprozitätsargument, also die Forderung, dass derjenige, der etwas erhält, auch im Gegenzug etwas leisten soll, nur auf die Empfänger von Transferleistungen angewendet werde. Die Empfänger höchster Einkommen könnten nur in den seltensten Fällen angemessene Gegenleistungen nachweisen.
Die gestiegene Produktivität bildet den Ausgangspunkt für eine allgemeinere Kritik der Leistungsgerechtigkeit und ihrer Rolle als Verteilungskriterium. Nicht nur die Produktion zur Erhaltung des aktuellen Wohlstandsniveaus, sondern sogar Wohlstandssteigerungen, gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP), werden aufgrund technologischen Fortschritt mit immer geringerem Arbeitseinsatz produziert. Da die Verteilung des Wohlstandes über die Teilnahme am Erwerbsleben erfolgt, können die Arbeitsanbieter ihre angebotene Arbeitsmenge nicht der gesunkenen Nachfrage anpassen, ohne auf einen Anteil des Wohlstands zu verzichten. Es kommt zu einem Angebotsüberhang auf dem Arbeitsmarkt oder mit anderen Worten zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.[10] Der resultierende Verteilungseffekt ist der systematische Ausschluss unfreiwillig Arbeitsloser vom Wohlstand der Gesellschaft [vgl. Clark/Kavanagh (1996:404)]. Leistungsgerechtigkeit disqualifiziert sich als Verteilungsprinzip demnach dadurch, dass den unfreiwillig Arbeitslosen die Leistungserbringung verweigert wird [ausführlich dazu: Oevermann (1983)].
Die politische Antwort auf dieses Problem lag laut Wolf (1991:388) jahrzehntelang in der Formulierung einer Vollbeschäftigungspolitik, deren Erfolg bislang nicht erkennbar sei und der sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nicht einstellen werde. Ein Blick auf die Arbeitslosenquote unterstützt Wolfs Prognose. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels 1991, betrug die Arbeitslosenquote für Gesamtdeutschland im Jahresdurchschnitt 7,3%. In den Folgejahren stieg sie auf über 10% und pendelt seit 1994 im Intervall zwischen 10% und 12%[11] [vgl. Destatis (2006b)].
Das bedingungslose Grundeinkommen stellt durch seine Trennung von Erwerbstätigkeit und Einkommen eine Möglichkeit der sozialpolitischen Neuorientierung jenseits von Chancen- und Ergebnisgleichheit dar [vgl. Standing (2002:201)].
Es löst zugleich das Problem, dass Leistung derzeit einzig in Form von Erwerbsarbeit anerkannt wird. Nicht am Markt gehandelte Leistungen wie ehrenamtliches Engagement, Haushaltsarbeit und die Erziehung der eigenen Kinder (die sogenannte Reproduktionsarbeit), tragen zur Erhöhung des Wohlstandes einer Gesellschaft bei, werden aber bei der Verteilung gar nicht oder kaum berücksichtigt [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:39); Werner (2005:2)].
Widerstand gegen die Abkehr vom Vollbeschäftigungsziel ist von denen zu erwarten, die dies als Eingeständnis des politischen Versagens werten [vgl. Vobruba (2006:177)]. Dagegen lässt sich die Arbeitslosigkeit aber auch durchaus als „Riesenerfolg“ (Werner (2005:1)) betrachten. Die Automatisierung der Produktion ermöglicht eine mehr als ausreichende Versorgung der Menschen und entlastet sie gleichzeitig von der Arbeit. Anstatt sich darüber zu freuen, würde die Gesellschaft dies jedoch zu einem Problem erklären und durch ebenso unangemessene wie unnötige Lösungsversuche erst soziale Missstände erschaffen[12] [vgl. Rotthaus (2006:12); Werner (2005:1)].
2.3.2.2 Psychologischer Nutzen
Zum Stellenwert der Arbeit in der Lebensplanung wird ausgesagt, dass sie heute weniger dem biblischen Fluch gleiche, der der Menschheit bei der Vertreibung aus dem Paradies auferlegt wurde, als vielmehr Mittel zur und Ausdruck der Selbstdefinition sei [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:51); Füllsack (2002:45); Jahn (o.J.:1)]. Die in Europa herrschende Freiheit von Grundversorgungsmangel sollte jedem die freie Wahl der Tätigkeit, unabhängig davon, ob es sich um eine Erwerbs- oder ehrenamtliche Arbeit handelt, ermöglichen. Der Nutzen jedes Individuums, und damit auch der gesellschaftliche Wohlstand in Form psychologischen Wohlbefindens, könnte durch die Möglichkeit einer Kongruenz von Selbstdefinition und ausgeübter Tätigkeit erhöht werden [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:51); Rotthaus (2006:9)].
Die Verbindung von ‚Essen und Arbeit’ spiegelt indessen eine Gesellschaft wider, in der die Selbstversorgung mit Lebensmitteln eine überlebenswichtige Notwendigkeit ist [vgl. Rotthaus (2006:10)]. In einer Gesellschaft mit Grundversorgungsmangel herrscht die ständige Angst vor dem Hungertod. Sie bestimmt das Denken derart, dass sich eine Psychologie des Mangels und der Angst festigt. Ändert sich nun die Versorgungslage, so dass alles Lebensnotwendige im Überfluss vorhanden ist, benötigt die Gesellschaft einige Zeit, um ihre alte Denkweise abzulegen und sich der neuen Situation anzupassen. Aufgrund dieser Phasenverschiebung der psychologischen Anpassung ist das Angstdenken in den Köpfen weiter Bevölkerungsteile nach wie vor präsent. Das Festhalten an der Verbindung zwischen Erwerbsarbeit und Einkommen (‚Essen und Arbeit’) ist dafür symptomatisch [vgl. Fromm (1986:20)]. Wolf (1991:395) weist darauf hin, dass der psychologische Wandel nicht exogen herbeigeführt werden kann. Er befürchtet daher, dass die politische Aufwertung der Nichterwerbstätigkeit durch ein bedingungsloses Grundeinkommen die sozialen und psychischen Schwierigkeiten der Erwerbslosigkeit nicht auflösen werde.
Dem schon von Charlier erkannten Einwand, ein Grundeinkommen sei eine Einladung zur Faulheit (siehe Kapitel 2.2) und dem Postulat der sich ohne Arbeitszwang einbürgernden Trägheit lassen sich ebenfalls psychologische Argumente entgegnen. Basis eines derartigen Einwands ist das anthropologisch-pessimistische Menschenbild. Nach dieser Vorstellung sind Zwang und Kontrolle unabdingbare Disziplinierungsmechanismen, die den von Natur aus bösen und korrupten Menschen vor sich selbst schützen. Das Gegenextrem, der anthropologische Optimismus, besagt, dass Menschen altruistisch sind und jede gegenteilige Handlungsweise ein Zeichen struktureller Entfremdung ist [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:99)]. Nach den Erkenntnissen der psychologischen Forschung treffen beide Extremvarianten nicht zu. Trägheit liegt nicht in der Natur des Menschen, kann aber als eine psychische Erkrankung auftreten [vgl. Fromm (1986:22)]. Natürliche Eigenschaften des Menschen sind Kreativität und Schaffensfreude, die durch den Zwang zur Arbeit in monotonen und wenig reizvollen Tätigkeiten untergraben werden [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:42)]. Diese Eigenschaften lassen den Menschen, wenn er sich frei entscheiden kann, stets nach einer Betätigung suchen [vgl. Fromm (1986:22)]. Sollten dabei Schwierigkeiten auftreten, so stellt dies weniger ein Argument gegen die Freiheit dar. Vielmehr zeigt es, dass dem Menschen diese Freiheit bislang fehlte und er den Umgang mit derselben erst erlernen muss [vgl. Büchele/Wohlgenannt (1985:48)].
2.3.2.3 Ökonomischer Nutzen
In der gängigen ökonomischen Theorie wird argumentiert, dass Arbeitslosigkeit durch nach unten starre Löhne verursacht wird. Sinkt die Arbeitsnachfrage, können die Löhne sich aufgrund ihrer -exogen verursachten- Starrheit nicht anpassen und es kommt zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, so die Hoffnung, verringere den Widerstand der Arbeitnehmer gegen Lohnkürzungen und ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt werde möglich [vgl. Clark/Kavanagh (1996:401)].
Da weder die neoklassische noch die keynesianische Theorie behaupten, dass der gleichgewichtige Lohnsatz oberhalb des Subsistenzniveaus liegt, stellt ebendieses Niveau selbst auf einem Arbeitsmarkt ohne jegliche ‚künstliche’ Schranken einen Mindestlohn dar. Ein Grundeinkommen beseitigt die Lohnuntergrenze ‚Subsistenzniveau’ und erlaubt damit jeden markträumenden Lohnsatz [vgl. Widerquist/Lewis (2005:4 und 26)]. Neben der reinen Möglichkeit zu einem Niedriglohn zu arbeiten, schafft ein Grundeinkommen auch Anreize, dies zu tun, da jedes Erwerbseinkommen zu einer Steigerung des verfügbaren Einkommens des Individuums führt. Die Arbeitslosigkeitsfalle tritt im ausreichenden, existenzsichernden und mit Abschwächung auch im partiellen Grundeinkommen nicht mehr auf [vgl. Van Parijs (1992b:233); Widerquist/Lewis (2005:25)].
Die gängige Vollbeschäftigungspolitik vieler Staaten ist hingegen ökonomisch nicht sinnvoll. Arbeitgeber entscheiden sich aufgrund ihres ökonomischen Kalküls dazu, Arbeit durch Kapital zu ersetzen (siehe Kapitel 3.1.2). Subventioniert die Politik den Einsatz von Arbeit, verzerrt sie die betriebswirtschaftlichen gegenüber den volkswirtschaftlichen Kosten. Die Unternehmen setzen zuviel Arbeit ein und produzieren nicht mehr volkswirtschaftlich effizient. Daher kommt es zu einem sinkenden Wohlstand durch das Vollbeschäftigungsziel [vgl. Werner (2005:5)], also genau zum Gegenteil dessen, was erreicht werden sollte.
Im wirtschaftspolitischen Einsatz stellt das bedingungslose Grundeinkommen ein Instrument der Nachfragepolitik dar. Es verleiht den Konsumenten Kaufkraft und besitzt damit eine nachfragestabilisierende Wirkung, mit deren Hilfe sich Konjunkturabschwünge glätten lassen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist dem Arbeitslosengeld, dem dieselbe Wirkung zugesprochen wird, insofern überlegen, als dass es mit Sicherheit und zeitlich unbegrenzt gezahlt wird und somit keinen Anreiz zum Angstsparen verursacht [vgl. Vobruba (2006:177)].
In der Populärdiskussion wird meist angeführt, dass das Grundeinkommen der Forderung nach einem ‚schlanken Staat’ entgegen komme, da seine einfache Struktur eine erhebliche Reduzierung des Verwaltungsaufwands impliziere [vgl. Clark/Kavanagh (1996:402)]. Ebenfalls beliebt ist das Argument, ein Grundeinkommen steigere die wirtschaftliche Dynamik, da die Einkommenssicherheit das individuelle Risiko einer Unternehmensgründung verringere [vgl. Werner (2005:2)].
Eine kontrovers diskutierte Frage ist die nach der Effizienz eines Grundeinkommens als Instrument der Armutsbekämpfung. Dem Grundeinkommen wird vorgeworfen, es sei ineffizient, da es nach dem Gießkannenprinzip umverteile und damit zwangsweise höhere Kosten verursache und weniger zielgenau sei als bedarfsgeprüfte Grundsicherungssysteme. Van Parijs (1992a:25) weist darauf hin, dass zwischen Zieleffizienz und ökonomischer Effizienz im Sinne einer Pareto-optimalen Ressourcenverwendung unterschieden werden müsse.
Zur Beurteilung der Zieleffizienz eines Instruments muss zunächst ein Ziel definiert werden[13]. Das Ziel der Sozialpolitik ist die Armutsbekämpfung [vgl. Widerquist/Lewis (2005:2)]. Effizient ist ein Instrument dann, wenn es ein gegebenes Ziel mit minimalem Aufwand erreicht oder mit den verfügbaren Ressourcen so nah wie möglich an das Ziel heranreicht [vgl. Schulte-Zurhausen (2005:5)].
Durch seine Universalität erreicht das Grundeinkommen das Ziel der Armutsbekämpfung vollständig. Es ist damit allen gängigen sozialpolitischen Alternativen[14] überlegen, bei denen mehr oder minder große Sicherungslücken existieren [vgl. Widerquist/Lewis (2005:24)]. Solche Sicherungslücken treten durch die Konstruktion von Bedürftigkeitstatbeständen auf. Diese erfordern Annahmen über die Gesellschaft, beispielsweise die ‚Einverdiener-Ehe’ als übliche Haushaltsform. Mangels Bedürftigkeitstatbeständen ist das Grundeinkommen weder anfällig für faktisch falsche Annahmen noch für sozialen Wandel, der einst plausible Annahmen in faktisch falsche verwandelt [vgl. Goodin (1992:198 und 204)]. Ein weiterer Grund für das Auftreten von Sicherungslücken in Systemen mit vielen getrennten Sozialleistungen für jeweils bestimmte Personengruppen, ist ihre hohe Komplexität. Bedürftige finden sich häufig in den Regelwerken nicht zurecht und beantragen deshalb nicht die Sozialleistungen, auf die sie Anspruch haben [vgl. Widerquist/Lewis (2005:12)]. Widerquist/Lewis (2005:25) weisen dabei noch auf einen speziellen Anreizeffekt vieler praktisch existierender Systeme hin: In komplexen Sicherungssystemen kann das erfolgreiche Beantragen von Leistungen vom Empfänger als persönlicher Erfolg betrachtet werden. Der Empfang von Leistungen stellt den Lohn der Auseinandersetzung mit verschiedenen Behörden und dem Durchschauen des Regelwerkes dar. Dies reduziert den Arbeitsanreiz, da die Aufnahme einer (möglicherweise nur vorübergehenden) Tätigkeit diesen Erfolg zunichte macht. Dieses Problem kann bei einem Grundeinkommen nicht auftreten.
Die durch die Universalität implizierte Zahlung an Individuen, die nicht unter die Armutsdefinition[15] fallen, wird als Argument gegen die Zielgenauigkeit des Grundeinkommens angeführt. Es begünstige sogar die ohnehin Privilegierten, also Einkommensstarken [vgl. Wolf (1991:396)]. Die Gültigkeit dieses Einwands kann nur bezogen auf ein konkretes Konzept der Grundeinkommensfinanzierung geprüft werden, was die folgenden Beispiele verdeutlichen. Die Finanzierung über eine Konsumsteuer würde einkommensschwache Haushalte stärker belasten, da diese einen größeren Anteil ihres Einkommens für den Konsum aufwenden als Einkommensstarke. Für Deutschland sind entsprechende statistische Durchschnittskonsumquoten in Abhängigkeit vom Haushaltseinkommen in der Tabelle in Appendix 2 aufgeführt. Während sich die einkommensschwächsten Haushalte mit einer Konsumquote von durchschnittlich 112% jeden Monat verschulden, beträgt der Anteil des Konsums am Einkommen der Einkommensstärksten lediglich 78%. Bei Betrachtung aller Einkommenskategorien lässt sich deutlich der negative Zusammenhang zwischen verfügbarem Haushaltseinkommen und Konsumquote erkennen. Eine ‚Flat Income Tax’, bei der auf alle Einkommensarten gleichermaßen ohne Abzugsmöglichkeiten ein konstanter Grenzsteuersatz erhoben wird, belastet dagegen Einkommensstarke in höherem Maße, da diese von Abzugsmöglichkeiten stärker profitieren als Einkommensschwache [vgl. Atkinson (1995:3)]. Individuen mit hohem Einkommen zahlen höhere Steuern als sie durch das Grundeinkommen erhalten. Sie finanzieren ihr Grundeinkommen damit selbst und werden kein höheres Nettoeinkommen zur Verfügung haben. Sie profitieren folglich finanziell nicht von der Einführung eines Grundeinkommens, was das aufgezeigte Gegenargument entkräftet.
Nun wird argumentiert, dass das Grundeinkommen die zweite Effizienzbedingung, den geringst möglichen Aufwand, nicht erfülle. Einige Kritiker meinen sogar, es sei nicht finanzierbar [vgl. Gretschmann et al. (1989:179ff.)]. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass alternative Systeme schon allein auf der administrativen Ebene enorme Kosten verursachen. Die möglichen Einsparungen an dieser Stelle gleichen schon einen großen Teil der Kosten eines Grundeinkommens aus [vgl. Widerquist/Lewis (2005:28)]. Unter Berücksichtigung der entfallenden Kosten für die bislang existierenden Sozialleistungen scheint ein Grundeinkommen durchaus mit den derzeit aufgewendeten Mitteln finanzierbar zu sein[16].
[...]
[1] Wird im weiteren Verlauf nur von ‚Grundeinkommen’ gesprochen, so ist ein bedingungsloses, universell garantiertes und ausreichendes Grundeinkommen gemeint. Ist von einer anderen Grundeinkommensvariante die Rede, wird entsprechend darauf hingewiesen. Zur Definition der Grundsicherungsbegriffe siehe Kapitel 2.1.
[2] Die implizit angenommene Abschaffung von Kündigungsschutz, Mindestlöhnen und ähnlicher Arbeitsmarkteingriffe soll dabei nicht weiter hinterfragt werden. Die Analyse und Beurteilung politischer und juristischer Hindernisse ihrer Abschaffung ist nicht Gegenstand dieser Arbeit.
[3] Die Auswahl der Begriffe beschränkt sich auf die deutsche und englische Sprache. Für den Begriff des ‚bedingungslosen Grundeinkommens’ liefern Vanderborght/Van Parijs (2005:14) eine Übersicht, die weitere Sprachen berücksichtigt.
[4] Synonyme sind unter anderem ‚allgemeines Grundeinkommen’, ‚Sozialdividende’, ‚(unconditional) basic income’, ‚citizenship income’, ‚demogrant’, ‚social dividend’ und ‚state bonus’.
[5] Synonyme sind unter anderem ‚Steuergutschrift’, ‚Bürgergeld’, ‚Bürgergehalt’, ‚negative income tax’ und ‚tax credit’.
[6] Vgl. hierzu den ‚Alaska Permanent Fund’ in Abschnitt 2.3.1.
[7] Thomas More lateinisierte seinen Namen in humanistischer Tradition zu ‚Thomas Morus.’ In der Literatur finden sich beide Varianten.
[8] Wie Morus lateinisierte auch Juan Luis Vives seinen Namen.
[9] auch ‚Sozialhilfefalle’ oder ‚Armutsfalle’ genannt [vgl. Klopfleisch et al. (1997:225); Sesselmeier (1997:64))]
[10] Dass auf dem Arbeitsmarkt zumindest eine Lohnrigidität nach unten herrscht, wird dabei von den Autoren, die diese Argumentation vertreten, explizit oder implizit angenommen.
[11] Mit Ausreißern nach oben in den Jahren 1997 und 1998.
[12] Hier zeigt sich eine Parallele zu Lafargue (1966), der in seiner Schrift durchweg die missliche Lage der Arbeiter auf deren eigene Forderungen zurückführt.
[13] Der Einwand, dass die Reduzierung des Grundeinkommens auf ein Instrument der Armutsbekämpfung wegen seiner wesentlich weiter reichenden Konsequenzen, wie einem höheren Maß an ökonomischer, sozialer und politischer Handlungsfreiheit, unangemessen sei [vgl. Standing (2002:205); vgl. Werner (2005:2)], wird dabei zurückgestellt.
[14] Sozialpolitische Alternativen sind der Versuch über ökonomisches Wachstum und Vollbeschäftigung (notfalls durch künstlich geschaffene Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst) Armut zu verhindern, Workfare-Programme, Mindestlöhne und Systeme mit einer Vielzahl unterschiedlicher Hilfen [vgl. Widerquist/Lewis (2005:28)].
[15] Wie genau ‚Armut’ definiert wird, ist dabei unerheblich.
[16] Eine einfache Überschlagsrechnung für Deutschland: Die Einsparungen bei den Verwaltungskosten der Sozialversicherungsträger und wegfallende Sozialleistungen (ohne Gesetzliche Krankenversicherung und Rentenversicherung) betragen 479 Mrd. €. Damit lässt sich für 82 Mio. Einwohner ein jährliches (partielles) Grundeinkommen von 5800 € finanzieren. In dieser Rechnung fehlen mangels Daten die potentiellen Einsparungen der Verwaltungen außerhalb der Sozialversicherungsträger und die Steuermehreinnahmen einer ‚Flat Income Tax’-Reform [Datenquellen: Destatis (2006a); Destatis (2006c); Destatis (2006d)].
- Arbeit zitieren
- Dr. Christopher Müller (Autor:in), 2006, Arbeitsmärkte, Löhne und das bedingungslose Grundeinkommen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200936
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