Die allgegenwärtige Geschichte der Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wird zur Interpretation ihrer jeweiligen lyrischen Werke oft herangezogen. Doch zum Einen engt das Einbeziehen biographischer Informationen bei der Textanalyse die Zahl der Lesarten erheblich ein und zum Anderen ist sie bei der Fülle an Gemeinsamkeiten, die die Gedichte beider Autoren teilen, völlig unnötig. Diese Arbeit will die intertextuellen Verweise, sich überschneidenden Bilder und Stilmittel in Celans "Corona" und Bachmanns "Die gestundete Zeit" aufzeigen und sich hierbei allein auf die Texte der beiden Autoren verlassen.
Die Zeit mahnt zur Liebe:
Ein Vergleich von Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit und Paul Celans Corona
Die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wird in einer Rezension des Bandes Herzzeit, der ihren Briefwechsel präsentiert, als eine der „dramatischsten und folgenreichsten Begebenheiten der deutschen Literatur nach 1945“ beschrieben (FAZ). Die Besonderheit jener Beziehung mag mehr als nur einen Grund haben: der ständige Wechsel zwischen Liebesbeziehung, Freundschaft oder Kontaktabbruch, die unterschiedlichen Erfahrungen im Hinblick auf die anfängliche literarische Anerkennung in der BRD, die jeweiligen Verbindungen zur nationalsozialistischen Diktatur, die unterschiedlicher nicht sein könnten, oder die denkwürdigen Versuche, eben jene Konflikte und Unterschiede zu überwinden. Gerade weil die Beziehung zwischen Bachmann und Celan so übergroß ist, kann sie beim Betrachten ihres jeweiligen Werkes schlecht übersehen werden. In der Bachmann-Forschung bildet die Beziehung der beiden „seit den neunziger Jahren geradezu den Schwerpunkt“, und in der Celan-Forschung „besteht die Neigung, Bachmanns Werk als unterlegen bzw. stark von Celan beeinflusst einzuschätzen“ und einzubeziehen (Pajević 519). Allerdings birgt die Verbindung der Autorenbiographie mit dem Werk der beiden Dichter auch Gefahren und gibt Anlass zur Kritik. So warnt Marlies Janz vor einer Vermengung von biographischen und intertextuellen Bezügen in der Interpretation, und rät, auf eine „Erschließung biographischer Referenzen aus den Gedichten ganz zu verzichten“, da hierdurch „Dichtung als Dichtung eskamotiert“ werde (Janz 68). Dem Trennen von Schriftstellerbiographie und Werk ist generell zuzustimmen. Doch auch wenn die gemeinsame Geschichte beider nicht permanent riesengroß am Horizont auftauchte, wären Gemeinsamkeiten in ihrem Werk offensichtlich. Allein die Gedichte von Celan und Bachmann teilen eine hohe Dichte an intertextuellen Verweisen (vgl. Geisenhanslüke, Stoll), maritimer Symbolik, hermeneutischen Ausdrucksweisen, Bezügen zur antiken Mythologie und christlicher und jüdischer Religion, und sogar Begriffe und Wortgruppen finden sich bei beiden in ähnlicher Verwendung wieder. Dass im Werk beider auch Ähnlichkeiten entdeckt werden können, ohne Gefahr zu laufen, in der Analyse die Dichtung über biographischen Spekulationen zu vergessen, will dieser Essay versuchen zu zeigen. Im Folgenden werden deshalb die Gedichte Corona (1952) von Celan und Die gestundete Zeit (1953) von Bachmann als Liebesgedichte gelesen und zunächst einzeln analysiert, und anschließend miteinander verglichen.
Nach Achim Geisenhanslüke gehört Corona „zum Bestand traditioneller Formen in Celans Werk“, da es neben der „intakten Syntax“ auch die „für das Frühwerk charakteristische reimlose daktylisch-anapästische Langzeiler“ und eine Reihe von Ähnlichkeiten mit Rilke-Gedichten habe (Geisenhanslüke 213). Liest man Corona als Liebesgedicht, so spiegeln die drei Strophen eine Art Verstehensprozess des Lyrischen Ich wider, das in der ersten Strophe noch stark isoliert von jeglicher Art von Liebesbeziehungen ist, und sich eher in einer passiven und unproduktiven Freundschaft mit dem Herbst befindet, der hier, wie so oft, Zerfall und Dekadenz symbolisiert. Im Laufe des Gedichtes wird die tatsächliche Liebesbeziehung des Lyrischen Ich und seiner „Geliebten“ (C 7) beschrieben, an deren Ende es dann die Entscheidung formuliert, sich entgegen der Passivität und dem Zerfall für die Liebe, hier einhergehend mit dem Leben, zu entscheiden.
Im ersten Vers demonstriert Celan die Innigkeit des Lyrischen Ichs mit dem Herbst, der hier personifiziert und gleichzeitig ein Symbol für Dekadenz ist. Gleich einem domestizierten Haustier „frißt der Herbst“ dem Lyrischen Ich sein eigenes „Blatt“ aus der Hand (C 1), und beide zusammen „schälen die Zeit aus den Nüssen“ und wollen ihr das Gehen beibringen (C 2). Der Herbst wird hier als merkwürdiger Zeitgenosse beschrieben, der sich offensichtlich nur an sich selbst erfreuen kann, auch wenn er sich in Gesellschaft des Lyrischen Ich befindet: „Blatt“ und „Nüsse[…]“sind ja bereits dessen Produkte, und werden dennoch, in einem recht unproduktiven Kreislauf, wieder von ihm aufgenommen beziehungsweise bearbeitet. Mit dem Anthropomorphisieren des Herbstes skizziert Celan eine Figur, die ihre Chancen im Leben verpasst hat, und nun sich selbst überlassen bleibt. Geisenhanslüke weist bereits auf die intertextuellen Bezüge in Corona zu Herbsttag von Rainer Maria Rilke hin, von denen der deutlichste das Zitieren der Zeile „Herr: Es ist Zeit“ (H 1) sein dürfte. Die Annahme, in der ersten Strophe das Lyrische ich und dessen Freund anzutreffen, wie sie sich die Zeit vertreiben müssen, nachdem sie Chancen auf eine Partnerschaft verpasst haben, wird durch den Bezug zu Herbsttag unterstützt: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“ (H 9). Der Versuch von Lyrischem Ich und Herbst, der unproduktiven Einsamkeit durch ein Zurückholen der Vergangenheit zu entrinnen, scheitert, da „die Zeit“ zurück in die Schale“ kehrt (C 3), nicht „gehen“ lernen und somit nicht rückgängig gemacht werden kann (C 2). Dass der Herbst, wie am Anfang bemerkt, vom Lyrischen Ich domestiziert ist, legt den Gedanken nahe, dass letzteres Zerfall und Unproduktivität noch näher ist, als die Personifikation dieses Zustandes im Gedicht. Die erste Strophe beschreibt das Lyrische Ich also in einem Zustand der Dekadenz, den es aber begreift, da es der Einsamkeit und dem Zerfall durch ein Zurückdrehen der Zeit entkommen will.
In der zweiten Strophe beginnt das lyrische Ich sich vom Zustand der Einsamkeit und des Zerfalls ab und hin zur „Geliebten“ zu wenden. Auffällig ist zunächst die Aneinanderreihung von Aussagesätzen, die, da jeder als einzelner Vers präsentiert die Aufmerksamkeit des Lesers ganz für sich beansprucht, als unumstößliche Fakten daherkommen. Aufgrund dieser Form und weil sie vor der Beschreibung der Liebesbeziehung in der dritten Strophe stehen, lassen sich die Verse der zweiten Strophe auch als Vorüberlegungen oder Grundbedingungen einer wissenschaftlichen Versuchsdurchführung lesen, wobei die Liebesbeziehung selbst demnach den Charakter eines Experiments erhält. Für die Bedeutung der zweiten Strophe als Übergang zur Liebesbeziehung in der dritten Strophe sprechen die Beobachtungen von Geisenhanslüke und Jerry Glenn. Geisenhanslüke weist darauf hin, dass „die Metapher des Spiegels“ bei Celan mit der „Vorstellung von Glas und Meer“, also dem „Meeresspiegel“, verbunden sei, wobei der Spiegel, ganz wie in Edgar Jené und der Traum vom Traume, zerspringe und den Weg in ein „unterirdisches Totenreich“ freigebe. Der „Sonntag“ im Spiegel weise weiterhin auf einen trügerischen „Zustand der Ruhe hin“, welcher bereits in der ersten Strophe zu sehen sei und nun, in Verbindung mit dem „Spiegel“, gebrochen werde (Geisenhanslüke 217-218). Bei der Entschlüsselung der Inversion „im Traum wird geschlafen“ (C 5) bezieht sich Glenn ebenfalls auf Edgar Jené und der Traum vom Traume und konstatiert, dass Schlaf bei Celan Frieden und Harmonie impliziere, und Träume darüber hinaus „a peaceful communication with the irrational, the unconcious“ seien (Glenn 524). Der sechste Vers („der Mund redet wahr“) ist eine Abwandlung von Psalm 37:30: „Der Mund des Gerechten lehret die Weisheit und seine Zunge lehret das Recht“. Hierin kann das Bestreben des Lyrischen Ichs gesehen werden, ein gottgefälliges Leben zu führen, vor allem aber kann der Vers als Ausdruck des Handelns durch den Akt des Sprechens gesehen werden. Dieses Handeln setzt die Bestrebungen aus den Versen vier und fünf um: Der Abstieg in eine Unterwelt ist der Abstieg Orpheus zu Eurydike, und drückt den Wunsch aus, die Angebetete zu retten, die Kommunikation mit dem Unterbewusstsein ist der Versuch, eine Veränderung von der Dekadenz (1. Strophe) zur lebensbejahenden Liebe (3. Strophe) zu vollführen. Vom Verweis zur antiken Sage und zum Unterbewusstsein gelangt das Lyrische ich also zum Wort, und somit von der Passivität zum Handeln.
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- Franz Kröber (Autor), 2012, Die Zeit mahnt zur Liebe - ein Vergleich von Ingeborg Bachmanns "Die gestundete Zeit" und Paul Celans "Corona", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199464
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