Die Arbeit spürt dem Gewicht der sogenannten „asiatischen Werte“ in der Außenpolitik zweier unterschiedlicher asiatischer Staaten nach, um ihre begrenzte regionale Bedeutung aufzuzeigen. Dies dient vor dem Hintergrund der Wertedebatte Mitte der 90er Jahre dazu, auf den konstruierten und instrumentellen Charakter der „asiatischen Werte“ hinzuweisen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Debatte um „asiatische Werte“
3. Katalysatoren der Debatte
3.1. Die Demokratisierungspolitik der Clinton-Regierung
3.2. Die UN-Menschenrechtskonferenz von Wien
4. „Asiatische Werte“ in asiatischer Außenpolitik
4.1. Der Fall Singapur
4.2. Der Fall Philippinen
5. Zwischenergebnis
6. Normativ-identitäre Grundlagen der Unterschiede
7. Fazit
8. Literatur
1. Einleitung
„Asiatische Werte“ – ein schillernder Begriff. Er füllte zwischen dem Ende der Bipolarität und der sogenannten „Asienkrise“ sowohl Wirtschaftsteile als auch Feuilletons von Tages- und Wochenzeitungen sowie verschiedenste Fachblätter. Die „asiatischen Werte“ sollten das rapide Wirtschaftswachstum erklären, das eine Anzahl ost- und südostasiatischer Länder binnen weniger Jahrzehnte von Agrarländern zu weltweit konkurrenzfähigen Industrie- und Dienstleistungszentren verwandelt hatte. Gleichzeitig machten sie asiatische Besonderheiten geltend, die im Gegensatz zu „westlichen“ Konzepten von Herrschafts- und Gesellschaftsordnung standen, v.a. zu Menschenrechten und Demokratie (siehe Abschnitt 2., der klärt, worum es bei „asiatischen Werte“ geht). Besonderen Schwung auf internationaler, d.h. für eine außenpolitische Analyse relevanten Ebene, gewann die Debatte nach der Übernahme der US-Präsidentschaft durch Bill Clinton, dessen Regierung eine intensivere Demokratisierungs- und Menschenrechtspolitik ankündigte (Abschnitt 3.1.)[1] und den Auseinandersetzungen um die Universalität von Menschenrechten auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien im Sommer 1993 (3.2.).
Wenn die „asiatischen Werte“ tatsächlich eine solche Bedeutung für die Grundzüge asiatischer Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur haben, wie von ihren Fürsprechern in der Debatte behauptet, müssten sie auch in der Außenpolitik asiatischer Staaten wiederzufinden sein, wenn davon ausgegangen wird, dass gesellschaftliche Normen und Identitäten die Grundzüge der Außenpolitik konditionieren. Dieses Verständnis von Außenpolitik als Produkt sozialer Sinnkonstruktionen im Inneren der Staaten fußt auf den theoretischen Ansatz des konstruktivistischen Liberalismus[2]. Vor diesem Hintergrund und nach der Hinleitung der Abschnitte 2. und 3. analysiere und vergleiche ich die primären Gegenstände dieser Arbeit, die Außenpolitik Singapurs (Abschnitt 4.1.) und der Philippinen (4.2.). Unter der Fragestellung, welches Gewicht die „asiatischen Werte“ in der Außenpolitik dieser beiden Länder im Zeitraum 1990 bis 1997 eingenommen haben, besonders im Hinblick auf die Abwehr der auswärtigen Menschenrechtspolitik der USA, suche ich in vergleichender Perspektive nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie Gründen (Abschnitt 6.) für diese. Aufgrund der erheblichen Unterschiede der historischen, politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen Singapurs und der Philippinen gehe ich von der These aus, dass sich in Bezug auf die Bedeutung der „asiatischen Werte“ in deren Außenpolitik mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten feststellen lassen, woraus sich Rückschlüsse auf den konstruierten und instrumentellen Charakter der „asiatischen Werte“ schließen ließen. Als Vergleichsvariablen dienen dabei die quantitative und qualitative Präsenz „asiatischer Werte“ in der Außenpolitik der beiden Staaten, d.h. zunächst die bloße Menge von außenpolitischen Handlungen aller Art, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden können, und zweitens der Grad der Relevanz dieser Handlungen in Bezug auf die Abwehr der US-Menschenrechtspolitik.
Dabei muss von einem weiten Begriff von Außenpolitik ausgegangen werden, der als außenpolitische Handlungen auch innenpolitische Maßnahmen mit Außenwirkung sowie die Teilnahme an grenzüberschreitenden kulturellen Debatten einbezieht, weil die politikfeldübergreifende Beschaffenheit des Themas eine Fokussierung auf den klassischen außenpolitischen Bereich der Interaktion zwischen Regierungen nicht zulässt.
2. Die Debatte um „asiatische Werte“
Die Kontroverse um die sogenannten „asiatischen Werte“ ist vielschichtig, komplex und ausufernd, ebenso die Literatur dazu. Hier soll nur ein grundlegender Abriss der Debatte und der Beschaffenheit der „asiatischen Werte“ vorgestellt werden.
Zeitgeschichtlich eingebettet ist die Kontroverse in das Ende des Ost-West-Konflikts und eine Phase rapider Wachstumsschübe in Südostasien bei gleichzeitiger ökonomischer Verlangsamung in Europa, Japan und zeitweise den USA. „The central role of the U.S. in the region’s security gave it enormous political influence throughout Asia [during the period of bipolarity]. All this has now changed“ (Bosworth 1993: 107). Die neuen Freiheiten von politischen und militärischen Abhängigkeiten und das ökonomisch beflügelte Selbstbewusstsein der ASEAN-Staaten (Association of South-East Asian Nations) veranlassten die einheimischen Eliten, besonders Malaysias, Indonesiens und Singapurs, zur Propagierung ihres Erfolgsmodells ökonomischer Entwicklung, zu dem die „asiatischen Werte“ als grundlegende kulturelle Determinante gehören sollten. Erst mit der sogenannten Asienkrise, die 1997 mit gravierenden Währungsturbulenzen in der südostasiatischen Region begann und die wahrgenommene wirtschaftliche Überlegenheit über den Westen in Frage stellte, verlor die Debatte um die asiatischen Werte international an Dynamik. Die „asiatischen Werte“ sind dadurch allerdings nicht aus dem Bewusstsein und den Diskussionen der Region verschwunden (vgl. Brock/Schmitt 1999: 310).
Was nun sind eigentlich „asiatische Werte“, die übrigens ursprünglich im wesentlichen als „konfuzianische Werte“ geführt wurden? „Bisher hat kein asiatischer Staatsmann oder Forscher eine umfassende, verbindliche Liste asiatischer Werte vorgelegt“ (Heinz 1999: 61); ein Leserbrief des singapurischen Ambassador-At-Large Tommy Koh an die International Herald Tribune reicht noch am nächsten an eine Kodifizierung heran (vgl. Koh 1993). Jedoch lassen sich die „asiatischen Werte“ auf einige Grundformeln bringen, die in den Aussagen ihrer Befürworter immer wieder genannt werden oder impliziert sind. Dies sind die Betonung hierarchischer Strukturen in Familie und Gesellschaft, das harmonische Lösen von gesellschaftlichen Konflikten durch Konsens statt Auseinandersetzung, die Überordnung des Kollektivs über das Individuum, die Priorität politischer Stabilität und materiellen Wohlstands. Der hierarchisch-kollektivistische Charakter der „asiatischen Werte“ nützt dem Vorrang des Staates als Inbegriff des Kollektivs gegen die Rechte des Individuums (Menschenrechte): „Die Ablehnung des westlichen Konfliktmodells Individuum/Staat, dem die Idee der Verhinderung eines Mißbrauchs staatlicher Macht gegenüber dem einzelnen zugrunde liegt, wird deutlich“ (Heinz/Pfennig 1996: 353). Die Betonung gesellschaftlicher Stabilität und Harmonie steht darüber hinaus in Abwehrhaltung zur Demokratie, die politische Dynamik und institutionalisierte Auseinandersetzung bedeutet. Die „asiatischen Werte“ sind ein konstruierter, konservativ-traditionaler Wertekodex, der autoritäre politische Strukturen in Südostasien gegen menschenrechts- und demokratiebezogene Forderungen von innen wie außen absichert (vgl. Donnelly 1999, Heinz 1995, 1999, Lee 1997a, 1997b, 2001, Möller 1995, Roetz 2001, Sen 1999, Senghaas 1995, Tatsuo 1999).
Die Diskussion um die „asiatischen Werte“, Menschenrechte, Demokratie und Universalität wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Sie gehört u.a. in den Zusammenhang des entwicklungstheoretischen Streits um den Vorrang von ökonomischem Wachstum oder politischer Demokratisierung, es geht um kulturelle und wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber dem Westen und die ökonomische Leistungsmobilisierung der eigenen Bevölkerungen. Die „asiatischen Werte“ werden zur Stabilisierung des status quo von Herrschaftssystemen nach innen benützt und als „Gegenwerte zur Abwehr eindringender Fremdwerte“ (Pfennig 1995: 60), nämlich „westlichen“ Menschenrechts- und Demokratievorstellungen, die als Vehikel westlicher Interessen wahrgenommen werden, etwa um die Grundlagen der asiatischen Wettbewerbsfähigkeit zu untergraben (vgl. Heinz/Pfennig 1996: 340, Sebastian 1999: 222). Die Diskussion wird innerhalb asiatischer Gesellschaften geführt, innerhalb der Region (vgl. Pfennig 1995, Zakaria 1994 in Verbindung mit Kim Dae Jung 1994) und im politischen sowie wissenschaftlich-zivilgesellschaftlichen Dialog mit dem „Westen“.
Im folgenden interessiert der vorliegenden Fragestellung gemäß die internationale, überregionale Ebene des politischen Streits mit dem Westen, auf der die „asiatischen Werte“ als instrumentelle Gegenkonzeption zu menschenrechts- und demokratiebezogenen Forderungen insbesondere der USA verwandt werden, um diese zurückzudrängen. Für diese Ebene der Debatte finden sich zwei Faktoren, die als Katalysatoren des politischen Streits zwischen den südostasiatischen Verfechtern der „asiatischen Werte“ und dem „Westen“ fungierten und die Debatte dem Höhepunkt zuführten.
3. Katalysatoren der Debatte
3.1. Die Demokratisierungspolitik der Clinton-Regierung
Die Außenpolitik der USA steht seit jeher (nicht nur, aber auch) unter dem „traditional conflict between commitment to human values and exercise of power for other interests (Forsythe 1990: 435), und im Zweifelsfall obsiegten immer die handfesten strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Das hat sich auch nach dem Amtsantritt Präsident Clintons Anfang 1993 nicht grundlegend geändert, doch zeichnete sich seine Präsidentschaft im Vergleich zu den vorangegangenen außenpolitisch durch eine programmatisch angekündigte Demokratisierungspolitik neuer Qualität aus. In Verbindung mit dieser qualitativ neuartigen Politik der Beeinflussung des internationalen Umfeldes erlangte auch die auswärtige Menschenrechtspolitik einen prominenteren Platz in der Prioritätenstufung.
Bereits im Präsidentschaftswahlkampf 1992 zeichnete sich ein „Wendepunkt in der Prioritätensetzung der Außenpolitik“ ab, hin zu einer „parteiübergreifende[n] Übereinstimmung, ’Democratic Engagement’ zu einem Eckstein der Außenpolitik zu machen“ (Lauth 1996: 161). Wenn sich auch die Förderung von Demokratie und Menschenrechten keinesfalls gegen „harte“ strategische und Wirtschaftsinteressen durchsetzen konnte, nahm sie doch „ohne Zweifel einen hohen Stellenwert“ (ebd.: 169) auf der außenpolitischen Agenda der Regierung Clinton ein. Und „[a]uch in Asien wird der Einhaltung von Menschenrechten und der Verbreitung von Demokratie ein höherer Stellenwert als in den 80er Jahren zugemessen“ (ebd.: 169). Das führte bei vielen asiatischen Ländern zu einiger Besorgnis, „anticipating increased confrontation over [...] human rights issues [and others]“ (Cronin 1994: 98).
Wenngleich es auch vor Clintons Amtsantritt bereits menschenrechtsbezogene Meinungsverschiedenheiten mit der ASEAN-Region gab, reichte die Befürchtung eines Paradigmenwechsels in der US-Außenpolitik aus, die südostasiatischen Protagonisten der Wertedebatte zu veranlassen, die „asiatischen Werte“ nach außen pointierter und sichtbarer zu vertreten, in Abwehr der erwarteten verstärkten US-amerikanischen Einflussnahme. Auch Clinton selbst scheute sich nicht, den Streit lebendig zu halten, indem er etwa auf demokratische Strukturen und Bewegungen innerhalb Asiens hinwies (vgl. Zagoria: 403).[3]
3.2. Die UN-Menschenrechtskonferenz von Wien
Die UN-Menschenrechtskonferenz von Wien im Juni 1993 war die international vielleicht sichtbarste Gelegenheit, die politische Auseinandersetzung um die „asiatischen Werte“ und die mit ihnen verbundenen Themengebiete auszutragen und zu vertiefen.
Bereits auf einer regionalen Vorbereitungskonferenz betonten die unterzeichnenden asiatischen Regierungen das Nichteinmischungsverbot und verwahrten sich gegen Konfrontation, Oktroyierung und den Gebrauch der Menschenrechte als „politisches Druckmittel“. Des weiteren betonten sie die Rolle des Staates bei Förderung und Schutz der Menschenrechte und sprachen sich für die Priorität nationaler Mechanismen (gegenüber internationalen) aus. Ausdrücklich wiesen sie auf nationale und regionale Besonderheiten und unterschiedliche historische, kulturelle und religiöse Hintergründe hin, denen bei der Normensetzung Rechnung zu tragen sei („Erklärung von Bangkok“ 1993).
In Wien kam es dann zum offenen Konflikt, als die Vertreter dieser kulturrelativistischen Position das Prinzip der Universalität direkt angriffen. „[T]he strong ,particularity’ proponents included China, Indonesia, Myanmar, Singapore, Malaysia, Vietnam, Iran, Syria and Yemen” (Hochstetler/Clark/Friedman 2000: 600), an anderer Stelle auch Indien, Pakistan, Irak, Mexiko, Kuba, Sudan „und zahlreiche andere afrikanische Länder“ (Klingebiel 1996: 187, Fußnote), während nach einer weiteren Quelle die lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten die universalistische Position der westlichen Länder unterstützten (Bungarten 1994: 74), „led by the United States“, die bereit waren, die Konferenz platzen zu lassen (Hochstetler/Clark/Friedman 2000: 601). Schließlich kam ein Schlussdokument zustande, das die Universalität der Menschenrechte anerkannte („Wiener Erklärung und Aktionsprogramm“ 1993), auch weil diese zuvor durch das internationale NGO-Forum aus Vertretern aller Regionen „unmißverständlich bekräftigt“ (Bungarten 1994: 74) worden war.
Die ungebrochene Dominanz der kulturrelativistischen Position innerhalb der ASEAN allerdings wurde auf dem jährlichen Außenministertreffen im Juli (vgl. ASEAN 1993) und durch die Menschenrechtserklärung der ASEAN Inter-Parliamentary Organisation, die im Herbst 1993 in Kuala Lumpur verabschiedet wurde (vgl. Heinz 1995: 13f.), deutlich. Zu beiden Gelegenheiten wurden erneut „asiatische Werte“ wie Rechte der „Gemeinschaft“ (in Wirklichkeit also des Staates / der Regierung) und Pflichten des Einzelnen ihr gegenüber hervorgehoben.
[...]
[1] Ich konzentriere mich bei der instrumentellen Abwehrfunktion der „asiatischen Werte“ gegen westlichen Druck zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Demokratisierung generell auf die Rolle der USA, deren Außenpolitik potentiell die größte Wirkungsmacht entfalten kann. Die Rolle Europas muss im Rahmen dieser Arbeit leider ausgeklammert werden.
[2] Zum Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen siehe zur Übersicht z.B. Krell 2000: 239-260, zum Liberalismus ebd.: 147-183, hier die von Krell sogenannte „(neue) liberale Theorie der internationalen Beziehungen“. Der Unterscheidung von Internationalen Beziehungen und Außenpolitikanalyse kann hier kein Platz eingeräumt werden.
[3] Ob die dargestellte Demokratisierungs- und Menschenrechtspolitik ernsthaft und konsequent verfolgt wurde, oder in rhetorischer Tätigkeit verharrte, kann und muss hier nicht geklärt werden. Programmatische Ankündigungen reichten aus, die Wertedebatte mit dem „Osten“ sich zuspitzen zu lassen.
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